Sebastian Kneißl hat viel erlebt: In seiner Jugend galt der 40-Jährige als eines der vielversprechendsten deutschen Fußball-Talente und wurde mit der U 19 Vize-Europameister. Aus dem Profigeschäft, das ihm zu oberflächlich war, schied der Odenwälder mit 24 aus und spielte fortan meist in der Bayern- und Regionalliga. Mittlerweile ist der Mann, der zwischen Januar 2009 und Ende Juni 2013 beim FC 05 Schweinfurt unter Vertrag stand, selbstständiger Individualtrainer und Experte beim Streaming-Dienst DAZN. Ein Gespräch über ungewöhnliche Wege, das Verhältnis zu den Stars und Hasskommentare im Internet.
Sebastian Kneißl: Unter zehn Stunden Vorbereitung geht da nichts. Generell bereite ich mich nicht nur auf das Match vor. Vor jeder Saison lege ich mir eine Excel-Liste an, in der es um die Spielweise, Taktik, Trainer, den Sportleiter, die Entwicklung des Vereins und um die Spieler mit ihren Stärken und Schwächen geht. Wenn man die gut pflegt, ist sie ein echter Schatz. Zudem bekomme ich Statistiken, die ich interpretieren soll. Letztlich muss man das Ganze den Zuschauern verständlich machen und es so rüberbringen, dass es unterhaltsam ist. Hinzu kommt, dass ich oft mit Trainern, Sportleitern oder Spielern telefoniere. Ich gebe mehrere hundert Euro im Monat für den Zugang zu Analyseplattformen aus, um die besten Infos zu bekommen. Natürlich gucke ich mir Videos an – von gelungenen Aktionen zum Beispiel.
Kneißl: Hassnachrichten bekomme ich jede Woche. Die Beschimpfungen sind schlimmer geworden als zu meiner Zeit als Spieler. Kommentiert man etwas von Team A positiv, kriegt man vom Fanlager B Hass. Morddrohungen und Sätze wie "Ich weiß, wo deine Kinder zur Schule gehen" sind keine Seltenheit. Ich begegne diesen Morddrohungen mit netten Sprachnachrichten und bekomme zu 98 Prozent eine Entschuldigung. Ich sehe das als kurzfristige Emotion, vergleichbar mit Trash-Talk auf dem Spielfeld – nach dem Abpfiff ist alles wieder vorbei. Weil ich auf jede Nachricht reagiere, fühlen sich die Leute ernst genommen und werden zum Teil sogar meine Follower.
Kneißl: Früher habe ich mir jedes negative Wort zu Herzen genommen. Heute bin ich deutlich ruhiger geworden. Ich habe mir nicht umsonst die Worte "Self Care", "Kindness" und "Dankbarkeit" auf den Arm tätowieren lassen, denn ich versuche, auf mich zu achten, nett und dankbar zu sein.
Kneißl: Als Spieler war das Training für mich das ein oder andere Mal eine lästige Nummer. Als Mannschaftstrainer habe ich das wiedererkannt, als ich beim SV Heimstetten II in der Kreisliga oder beim SV Baldham-Vaterstetten in der Bezirksliga Leute zum Training schleppen musste. Gerd Klaus, der in Schweinfurt mein Trainer war, hat mich sehr geprägt. Bei ihm hatte jeder Spieler seine Freiheiten. Das hat er ganz offen kommuniziert. Ich musste nach den Spielen nie mit auslaufen, weil meine Freundin in München war. So hatte ich einen halben Tag länger frei.
Kneißl: Das ist ein großer Reisestress, ja. Aber der hat mit der schönsten Sportart der Welt zu tun. Ich würde mich nie beschweren. Aber es gibt diese Tage, an denen ich von unserem Wohnort Darmstadt gut 400 Kilometer nach München fahre, dort ein Spiel mache, nachts zurückfahre und um sechs Uhr wieder aufstehe, um die Kinder zur Schule zu bringen. Dieser nächste Tag ist echt hart.
Kneißl: Ja, ich kann jedem nur raten, mit mir zusammenzuarbeiten, denn ich habe mir im Laufe meiner Karriere viele harte Fragen gestellt, sie mir stellen müssen – und mich dazu entschlossen, die Laufbahn auf höherem Niveau nach einem Syndesmosebandriss in der Regionalliga in Heimstetten zu beenden. Zu meiner Zeit war es verpönt, zu sagen: "Ich arbeite im psychischen Bereich." Der Profi muss cool und hart sein. Der Fokus liegt leider nur auf negativen Schlagzeilen, jetzt ist ja noch Social Media dabei, was es damals nicht gab. Deswegen will ich da – auch mit meinen Werten – unterstützend wirken.
Kneißl: Ich versuche, nicht zu viel zu kritisieren, sondern zu feiern, was die Jungs auf dem Feld machen. Es ist einfach, zu sagen, wer einen Stellungsfehler gemacht hat. Schwer wird es, das Spiel mit dem Ball richtig einzuschätzen. Ich glaube, dass ich das kann, denn ich habe gehört, dass ich in den letzten zwei Jahren einer der Experten mit den meisten Einsätzen war. Dass es so weit gekommen ist, habe ich auch meiner Karriere mit Stationen wie beim FC Chelsea London zu verdanken. DAZN ist mit der Premier League gestartet. So viele Experten für ein Start-up gab es 2016 nicht, da war das ganz förderlich. Natürlich habe ich nicht den Namen wie Michael Ballack, Christoph Kramer oder Dietmar Hamann, weshalb ich mich "No-Name-Experte" nenne.
Kneißl: Da gibt es eine Anekdote hinsichtlich des Fotos. (lacht) Vor dem Spiel hat Xabi Alonso tatsächlich nachgefragt, wer ich denn sei. Auch unsere DAZN-Pressesprecherin hat dieses Jahr noch gefragt, was ich denn im Leben so gemacht hätte. Deswegen braucht es eine realistische Analyse von dem, was man ist. Die DAZN-Kundschaft kennt mich, aber ich habe noch keinen großen Namen. Trotzdem gab es ein Foto mit Xabi Alonso – und auch Lob von ihm für meine Herangehensweise. Mittlerweile habe ich ein paar Spiele mit Beteiligung von Bayer Leverkusen gemacht, nun kennen und schätzen wir uns.
Kneißl: Nicht mehr so intensiv wie früher. Es sind ja nur noch wenige Spieler wie Kevin Fery im Verein, die ich kenne. Aber ich bekomme es natürlich mit, wenn Leute aus dem Umfeld des FC 05 sterben – wie unser Betreuer Matze Nottelmann oder Stadionsprecher Jürgen Marten.
Kneißl: Zu Markus Wolf, für den ich auch gearbeitet habe. Den Weg von Norbert Kleider verfolge ich auch. Gerd Klaus, der mich vom offensiven Mittelfeldspieler zum Rechtsverteidiger gemacht hat, habe ich dieses Jahr auf Mallorca wieder mal getroffen. Mit Urgestein Andreas Binner oder Andreas Bäuerlein ist der Kontakt ganz eng, zudem trifft sich die Aufstiegsmannschaft noch regelmäßig. Zwischen mir und Florian Hetzel ist eine richtig gute Freundschaft entstanden. Ich bin oft bei ihm – und er war mit seiner Familie Überraschungsgast bei meinem 40. Geburtstag.