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Maidbronn
Woher nimmt diese Maidbronner Oma ihren Mut? Marlene Bayer ist 84 und macht ständig Enkeltrick-Betrüger dingfest
Immer, wenn wieder Betrüger bei ihr anrufen, freut sich Marlene Bayer. Denn die Seniorin aus dem Landkreis Würzburg weiß genau, wie sie die Gauner kriegt.
Marlene Bayer aus Maidbronn (Landkreis Würzburg) hat in den vergangenen Jahren fünf Enkeltrickbetrüger überführt.
Foto: Silvia Gralla | Marlene Bayer aus Maidbronn (Landkreis Würzburg) hat in den vergangenen Jahren fünf Enkeltrickbetrüger überführt.
Lara Meißner
 |  aktualisiert: 02.10.2024 14:08 Uhr

Manchmal, wenn bei Marlene Bayer das Telefon klingelt, ist das große Drama dran. "Ihre Tochter hat ein Kind überfahren. Sie muss ins Gefängnis!", heißt es dann und im Hintergrund ist hysterisches Weinen zu hören. Oder: "Bei Ihnen wird heute Nacht eingebrochen, bringen Sie alles in Sicherheit!" Marlene Bayer muss dann immer ein bisschen schmunzeln. "Da kribbelt es bei mir. Da freu' ich mich und denk mir: Den pack' ich jetzt. Heut fang' ich wieder einen!"

Marlene Bayer aus Maidbronn, Ortsteil von Rimpar im Landkreis Würzburg, ist 84, pensionierte Verkäuferin - und aktive Gangster-Fängerin.

Im Februar 2019 ging es los. Da riefen die ersten Schockanruf-Betrüger bei ihr an und gaben sich als Polizisten aus: In der Nacht solle bei ihr eingebrochen werden, hieß es. Sie solle ihr Bargeld und ihren Schmuck einer Polizistin übergeben, nur so könnten ihre Habseligkeiten geschützt werden.

Während Bayer mit den Betrügern telefoniert, schleichen sich die Polizisten in ihre Wohnung

Bayer mimt die verängstigte Seniorin und alarmiert unbemerkt mit dem Handy die echte Polizei. Die Würzburger Kripo-Beamten schleichen sich in ihre Wohnung und verschanzen sich im Schlafzimmer. Über Stunden geht das Telefonat mit den Betrügern damals, kein einziges Mal wird es unterbrochen. Bayer und die Polizisten kommunizieren - völlig still - mit Zetteln und Handzeichen.

Als es spätabends dann an der Haustür schellt, lässt die Maidbronnerin die falsche Polizistin herein - eine Frankfurter Prostituierte, wie sich herausstellen wird. Die echten Beamten stürmen aus ihrem Versteck ins Wohnzimmer, zwischen Bayers Orchideensammlung und den Engelsfigürchen wird die Frau festgenommen.

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"Richtig gut", sei das gewesen, sagt die 84-Jährige heute. "Als die ganze Sache rum war, war die Familie ganz aufgeregt. Meine Tochter wollte, dass ich die Nacht nicht alleine bin, alle waren ganz aus dem Häuschen." Bayer schickt die aufgewühlte Verwandtschaft nach Hause, setzt sich zufrieden mit Kater Romeo aufs Sofa und lässt den Abend Revue passieren: "Und als ich da so saß, hab ich gemerkt: Das hat mir gefallen. Wenn nochmal einer anruft, mach' ich das wieder"

Es sollte so kommen. Vier weitere Male hat Marlene Bayer seitdem Betrüger dingfest gemacht. Eine Danksagung des unterfränkischen Polizeipräsidenten Detlev Tolle steht neben ihrem Bett, der bayerische Innenminister Joachim Herrmann hat sie 2023 mit der Medaille für Verdienste um die innere Sicherheit ausgezeichnet. Manche der Betrüger mussten für Jahre hinter Gitter. Die Maidbronnerin sagte als Zeugin in den Gerichtsverhandlungen aus. 

Auch das Bayerische Innenministerium ehrte Marlene Bayer im vergangenen Jahr: mit der Medaille für Verdienste um die innere Sicherheit.
Foto: Silvia Gralla | Auch das Bayerische Innenministerium ehrte Marlene Bayer im vergangenen Jahr: mit der Medaille für Verdienste um die innere Sicherheit.

Warum rufen die Betrüger immer wieder bei Marlene Bayer an? Alleinstehende Mittachtzigerin aus einem 1000-Einwohner-Nest auf dem Land, die ganz hervorragend ins Opfer-Schema passt? "Kurze Nummer. Alter Vorname. Steht im Telefonbuch. Danach wählen die Betrüger aus", erklärt der für Callcenter-Betrug zuständige Kommissariatsleiter von der Kripo Würzburg. 

Von Marlene Bayer spricht er wie von einer alten Kollegin. Dass Seniorinnen und Senioren der Polizei helfen, die "Enkeltrickbetrüger" und "Schockanrufer" dingfest zu machen, käme immer wieder mal vor, sagt der Kripobeamte. "Allerdings meist dann, wenn die Rentner nicht alleine wohnen und der Ehepartner unbemerkt die Polizei ruft."

Die 84-Jährige aus Maidbronn ist besonders: "Unsere Frau Bayer muss gar nicht so sehr geführt werden. Sie spielt ihre Rolle ganz alleine ohne jede Anweisung hervorragend, immer wieder aufs Neue, jedes Mal Stunden lang", meint der Kripobeamte. "Sie hat genau das richtige Gespür dafür und lässt sich Lösungen einfallen, wenn unterwegs Probleme auftauchen."

Im Repertoire: Auf Knopfdruck weinen, Botschaften aus dem Fenster werfen, Metall klirren lassen

Kreativ werden musste Marlene Bayer schon öfters: Einmal weisen die Betrüger sie an, ihren Schmuck zu wiegen. Damit es am anderen Ende der Leitung richtig schön klimpert und klingt, hantiert Bayer mit ihrem Besteck. Als sie einmal ihr Handy nicht griffbereit hat, um die Polizei zu rufen, schreibt sie der Nachbarin eine Botschaft und wirft sie aus dem gekippten Fenster auf die Straße. Und weinen kann sie sowieso auf Knopfdruck - "das gehört zum Repertoire".

Ein anderes Mal locken die Betrüger sie außer Haus. Auf dem Supermarkt-Parkplatz soll sie eine fünfstellige Summe übergeben - angeblich, weil ein Verwandter mal wieder einen Verkehrsunfall verschuldet haben soll. Wieder alarmiert Bayer unbemerkt die Polizei, packt ein paar Zettel gut hörbar in eine Papiertüte und lässt die Betrüger glauben, sie habe gerade ihr gesamtes Bargeld eingewickelt.

Sie macht sich auf den Weg - und trifft am Supermarkt ausgerechnet die halbe Verwandtschaft. "Die wussten natürlich nicht, was da gerade vor sich geht", erzählt sie lachend. "Nachdem ich sie harsch und ganz knapp weggeschickt hab, hab ich noch aus dem Augenwinkel gesehen, wie sie beim Gemüse vorne zusammenstanden und die Köpfe über mich geschüttelt haben. Die dachten bestimmt: Jetzt spinnt sie komplett."

Überhaupt, die Verwandtschaft. Die könne nicht verstehen, warum Bayer so gerne Verbrecher jagt. "Die haben Angst um mich. Aber was soll mir schon geschehen?"

"Ich will nicht, dass mir auch nur einer durch die Lappen geht."
Marlene Bayer, 84

Mit Bewunderung für ihren Mut kann Bayer nichts anfangen. Auf die Frage, woher sie die Courage nimmt, sich Verbrecherbanden entgegenzustellen, sagt sie nur "Ach was" - mit einer Handbewegung, als wolle sie das Kompliment schnell wegwischen. "Man muss sich nur dumm stellen können und trotzdem clever sein. Ich war als Kind immer das einzige Mädchen unter vielen Jungs, da wird man mutig, ganz automatisch."

Angst habe sie keine, wenn die Gauner klingeln. "Ich hab nur Angst, dass mir einer entwischt. Dass auffliegt, dass ich die Polizei alarmiert habe und das Gespräch beendet wird. Ich will nicht, dass mir auch nur einer durch die Lappen geht."

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Bayer weiß, wie viele ihrer Altersgenossinnen und Altersgenossen - an jedem Tag, irgendwo - das ein Leben lang Ersparte verlieren, weil sie den immer neuen Betrugsmaschen aufsitzen. "Diese Ungerechtigkeit kann ich kaum aushalten. Unsere Generation hat sich so viel aufgebaut, sich das Leben am Mund abgespart - und dann kommen Betrüger und nehmen den Leuten alles, was sie haben? Das ist schrecklich."

Sicherheitsbericht der Polizei Unterfranken: "Vermögensschaden" von 2,6 Millionen Euro

Für das Jahr 2023 gibt die unterfränkische Polizei in ihrem Sicherheitsbericht einen sogenannten Vermögensschaden von 2,6 Millionen für den Bereich Callcenter-Betrug an. "Die grundsätzliche Masche der Täter ist jeweils gleich", schreibt die Polizei. "Sie versuchen die Opfer durch ihre erfundene Hintergrundgeschichten in emotionale Ausnahmesituationen zu versetzen, um sie so zur Übergabe hoher Geldbeträge an fremde Personen beziehungsweise zum Überweisen an fremde Bankkonten zu bewegen."

Die Chancen, sein Geld wieder zurückzubekommen, seien "sehr gering", sagt der zuständige Kommissariatsleiter. Die Lösung könne nur die Prävention sein: Informationskampagnen, Kooperation mit Banken, die kritisch nachfragen, wenn ältere Menschen höhere Summen abheben. "Aber man muss auch sagen: Jeden Morgen steht einer auf und überlegt sich eine neue Geschichte, um die Leute um ihr Geld zu bringen."

"Die Handtasche aus dem Auto klauen heute nur noch die Dummen."
Kommissariatsleiter für Callcenter-Betrug bei der Kripo Würzburg

Wie sich die ganze Welt digitalisiere, täten dies auch die Verbrecher: "Die Handtasche aus dem Auto klauen heute nur noch die Dummen", sagt der Kripo-Beamte. "Gewiefte Gauner können mit ein paar Schnipsel Sprachaufnahme mittels KI die Stimme eines Verwandten fälschen, es kommt immer was Neues dazu. Oft sitzen die Hintermänner im Ausland und haben hier ihre Handlanger, die dann die Arbeit vor Ort erledigen und landen dann hier vor Gericht."

Marlene Bayer weiß genau, was zu tun ist, wenn wieder ein Betrüger anruft.
Foto: Silvia Gralla | Marlene Bayer weiß genau, was zu tun ist, wenn wieder ein Betrüger anruft.

Dort, sagt Bayer, zeige sich dann meist das ganze Bild. Besonders der Fall einer jungen Frau, gegen die sie aussagen musste, ist ihr in Erinnerung geblieben. "Sie tat mir leid. Das ganze Leben eine einzige Katastrophe, irgendwann hat sie ihre eigene Großmutter bestohlen und ist bei den Kriminellen gelandet. Die hätte man an die Hand nehmen und viel eher da rausholen müssen."

Eine Botschaft, die die 84-Jährige dem sechsten Betrugsanrufer, der vor einiger Zeit bei ihr anrief,  mitgegeben hat. "An dem Tag war ich nicht ganz auf der Höhe", sagt Bayer. "Als das Telefon geläutet hat und ich gemerkt hab, dass es wieder einer versucht, hab ich dem gleich gesagt: 'Junger Mann, ich weiß, was du vorhast. Heute nicht, ich bin ein bisschen krank. Aber jetzt überleg' dir, was du mit deinem Leben anfängst. Hör' auf mit dem Mist und suchen dir eine richtige Arbeit. Wenn ich heute etwas fitter wäre, wärst du heut' Abend in U-Haft. Also komm, nutz' die Chance!" 

Die Autorin über die Recherche

Lara Meißner
Foto: Christoph Weiss | Lara Meißner
Bevor ich bei Marlene Bayer angerufen habe, hab' ich kurz überlegt: Wird sie mir glauben, dass ich von der Zeitung bin? Oder hält sie mich auch für eine Betrügerin, die nur ihre Adresse herausfinden will? Aber ich hab schnell gemerkt: Marlene Bayer weiß genau, wen sie an der Strippe hat. Unser Treffen und das Gespräch waren wunderbar: persönlich, lustig, auf Augenhöhe. Für mich ist die Geschichte vor allem deshalb so besonders, weil Frau Bayer allen zeigt, dass man mit Ü-80 nicht automatisch alt, klapprig und hilfsbedürftig ist. Sondern auch clever, bei klarem Verstand und kreativ sein kann. Und - sie hört das nicht so gerne, es muss aber trotzdem gesagt werden - mutig! 
lar
 
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Kommentare
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  • Fabian König
    Die Dame gefällt mir. Fränkisch-resolut mit Witz und Verstand, großartig!

    Allerdings dürfte sich der Freistaat Bayern für derlei schon etwas mehr einfallen lassen als so a lumberde Medaille, die aussieht wie ein besseres Zwei-Euro-Stück. Mindestens etwas größer dürfte sie ausfallen. Besser wäre es aber ohnehin, wenn man Orden anstatt Medaillen verleihen würde - die kann man wenigstens tragen, während Medaillen in solchen Etuis nur in der Schublade verschwinden. Da sollten wir uns in Deutschland mal ein Beispiel an den Briten nehmen.
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  • Elisabeth Sauer
    Tolle Geschichte und großartiger Bericht!
    Schade, dass es so schwierig ist an die wahren Täter im Ausland zu kommen. Da müsste seitens unserer Behörden mehr "Druck" ausgeübt werden.
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  • Anton Müller
    Großen Respekt für den Mut und die Schlagfertikeit von Fr. Bayer! Die "Jagderfolge" bringen sicher jede Menge Spaß und Schwung in den Alltag. Super!
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