
Pinar und Abbas haben es geschafft. Zwei Wochen lang war das junge Paar mit seinen zwei kleinen Töchtern auf der Flucht. Schleuser haben die kurdische Familie unter einer Plane versteckt auf der Ladefläche eines Lastwagens durch halb Europa nach Deutschland gebracht. Seit einigen Tagen haben Pinar und Abbas eine Unterkunft: zwei Stockbetten in einem Thermozelt im Ankerzentrum der Regierung von Unterfranken bei Geldersheim (Lkr. Schweinfurt).
Es ist ein bedrückendes Bild, das sich hier bietet. Bett an Bett reiht sich aneinander. 200 Menschen leben in diesem Zelt auf engstem Raum. Mit Tüchern und Decken, um die Betten gespannt, versuchen sie sich etwas Privatsphäre zu verschaffen. "Es ist ja nur vorübergehend", meint die 29-jährige Pinar lächelnd. Sie ist dankbar, dass sie den Himmel wieder sehen kann. "Unter der Plane war es immer dunkel."

Seit diesem Oktober ist die Türkei das derzeit zugangsstärkste Herkunftsland. Eigentlich ist die unterfränkische Ankereinrichtung nur für Asylsuchende aus Algerien, Somalia, Armenien und der Elfenbeinküste zuständig. "Bei solch' hohen Zahlen schafft das aber kein einzelner Anker mehr", sagt Leiter Benjamin Kraus. Im wöchentlichen Wechsel werden deshalb die Neuzugänge aus der Türkei, Syrien und Afghanistan auf alle bayerischen Ankerzentren verteilt.
Aktuell ist wieder "Türkei-Woche". 640 Menschen sind auf einen Schlag gekommen. Die Zahl der Bewohnerinnen und Bewohner im Geldersheimer Anker stieg Anfang November auf über 2000. Inzwischen ist man wieder bei 1450. Ausgelegt ist die Einrichtung für 1500 Personen. Gut, dass die vier Thermohallen aus der Zeit der großen Flüchtlingswelle noch stehen. Alle Neuankömmlinge werden hier einquartiert. Hinter den Zelten stehen Dixiklos und portable Duschcontainer, mehr Komfort gibt es nicht.

Gut, dass heute "Abverlegung" ist. Wer die Behördenformalitäten hinter sich hat, wird schnell auf Unterkünfte in der Region verteilt. Diesmal sind es hauptsächlich Familien, die am frühen Morgen mit gepackten Koffern auf den großen Reisebus warten. Er wird sie eine Gemeinschaftsunterkunft nach Haßfurt bringen.
Schlange vor dem Hauptgebäude: Das Warten auf die Registrierung
Am Eingang des Hauptgebäudes hat sich eine lange Schlange gebildet. Es sind die Neuankömmlinge, die auf ihre Registrierung warten. Mütter mit Babys, Väter mit Kindern, junge Frauen und Männer. Viele kommen aus dem Erdbebengebiet, haben alles verloren.
Jeder Ankömmling bekommt gleich einen Zettel in die Hand. Auf dem steht, wann er sich wo bei wem in den kommenden Tagen zu melden hat. Im Ankerzentrum sind alle Behörden versammelt, die für das Management von Asylsuchenden nötig sind. Kurze Wege, straffe Organisation.
Zuerst geht's zur Registrierung: Fingerabdruck, Passfoto, Körpergröße, Personalien – an den sogenannten PIK-Stationen (PIK steht für Personalisierungs-Infrastruktur-Komponente) werden alle Daten erfasst. Ein Gerät prüft den Pass auf Echtheit. Doch die wenigsten haben gültige Ausweisdokumente dabei. Entweder sie besitzen keine, haben sie auf der Flucht verloren. Oder Schleuser zogen sie ein. "Das ist gängige Praxis", sagt Anker-Leiter Benjamin Kraus.


Zehn bis 25 Minuten braucht es für eine Erfassung. Ist jemand nervös, dann dauert es mit dem Fingerabdruck etwas länger, weil die Hände schwitzen oder zittern. Manchmal streikt auch die Technik, dann müssen die Wartenden weggeschickt werden und sich am nächsten Tag wieder anstellen. Oder es sind einfach zu viele, und die Mitarbeitenden kommen nicht nach. So wie an diesem Tag.


Wer erfasst ist, erhält eine Wäsche-Gutscheinkarte. In der Kleiderkammer des Roten Kreuzes kann man sich damit ein "Starterpaket" abholen: sieben Kleidungsstücke und einen Satz Unterwäsche. "Bei Bedarf gibt es noch ein Folgepaket mit vier Wäscheteilen", sagt Kraus.
Danach geht es zur "Anker-Rezeption". Carina Krämer ist sowas wie die Hotelmanagerin des Hauses: höflich, freundlich, geduldig – auch an Stresstagen wie diesem mit einem Lächeln. Sie verteilt die Zimmer, gibt die Post aus, nimmt Beschwerden entgegen.
Gute Englischkenntnisse sind Voraussetzung, weitere Sprachkenntnisse von Vorteil. Hilfe bekommt sie außerdem von sprachkundigen Flüchtlingen. Sie können sich als Dolmetscher einbringen, für 80 Cent Stundenlohn.

Olufolake bessert sich so ihr monatliches Taschengeld auf. Die 26-jährige Ivorerin ist vor ihrem gewalttätigen Ehemann geflüchtet. Eine Zwangsheirat. Sie kam mit dem Boot übers Mittelmeer nach Europa. "Es war sehr gefährlich." Die junge Frau versucht die Erinnerung zu verdrängen. Und hofft, dass sie in Deutschland bleiben und eine Ausbildung zur Krankenschwester machen kann.
Benimm-Lotsen am Einkaufsmarkt in Euerbach
"Wir haben rund 100 Helferinnen und Helfer", erzählt Anker-Leiter Benjamin Kraus. Sie arbeiten als Dolmetscher, im Kinderhaus, in der Waschküche oder beim Müllsammeln mit. Seit kurzem gibt es sogenannte Benimm-Lotsen. Am Rewe-Markt im benachbarten Euerbach sind sie regelmäßig im Einsatz, kümmern sich um junge Männer aus dem Anker, wenn die sich vor dem Markt zusammensetzen und was trinken.

Im Ankerzentrum selbst ist Alkohol erlaubt, Glasflaschen sind es nicht. Aus Sicherheitsgründen. Wer nicht einsichtig ist, wer rumschreit, bei der Essensausgabe drängelt oder im Zimmer raucht, muss seine Sachen packen und ins Gebäude 5 umziehen, in den eingezäunten Bereich. Er wird rund um die Uhr bewacht und darf nur in Begleitung des Sicherheitsdienstes verlassen werden. An jeder Ecke stehen Wachleute in ihren gelben Warnwesten. Aktuell "sitzt" ein junger Mann in Gebäude 5 ein. Aber, meint Kraus: "Der Großteil unserer Bewohner ist vernünftig."
Polizei mit eigener Wache: Am Anker sind Ansprechpartner da
Die Polizei hat eine eigene Anker-Wache, um vor Ort Ansprechpartner zu sein und "Kleinigkeiten" gleich klären zu können. "In keiner anderen Ankereinrichtung in Bayern gibt es das", sagt Polizeioberkommissar Christian Birkmeyer von der Koordinierungsgruppe Asyl. Er ist täglich hier, auch ohne konkreten Anlass, sucht das Gespräch mit den Menschen. Ein Polizist zum Anfassen. Das kennen viele Geflüchtete aus ihren Heimatländern nicht.
"Das ist kein Anker voller Straftäter, sondern voller Menschen, die traumatisiert sind", versucht Polizeirat Matthias Wehner, der stellvertretende Dienststellenleiter der Schweinfurter Polizei, der Bevölkerung im Umfeld die Angst vor den vielen Flüchtlingen zu nehmen. Nur ein kleiner Teil der Bewohner mache Ärger, sagt Wehner. "Und gegen die gehen wir hart vor".
Sabrina Adolf, die Sicherheitskoordinatorin der Regierung von Unterfranken, überwacht vom Schreibtisch aus das Geschehen in der Einrichtung. 400 Kameras hat sie im Blick und ein geübtes Auge. "Ohne sie würden Straftaten nicht so schnell aufgeklärt", sagt Polizist Birkmeyer.


Manchmal empfindet er die Einsätze belastend. Zum Beispiel Abschiebungen. "Wenn wir nachts Kinder aus den Betten holen müssen, geht das an die Substanz." Gegenwehr sei eher selten. Manche versuchten zu fliehen, erzählt Birkmeyer. So wie der junge Algerier an diesem Morgen, der aufs Dach kletterte. Am Ende stieg er doch in den Gefangenentransporter.
Die Flüchtlinge erhoffen sich ein besseres Leben in Deutschland. "Keiner will hier lebenslang Bürgergeld beziehen", ist Anker-Leiter Kraus überzeugt. Riad, ein 20-Jähriger aus Somalia, bestätigt das: "Ich möchte hier lernen und arbeiten." Im Moment ist er als Übersetzer im Anker tätig. Der Job gibt seinem Tag Sinn und Struktur.
Apropos Geld: Ein alleinstehender Flüchtling bekommt 151 Euro im Monat. Die Geldkarten gibt das Sozialamt aus. Die Landkreis-Behörde ist mit zwölf Mitarbeitenden vor Ort. Im Oktober hätten sie 1716 Anträge bearbeitet, sagt Amtsleiter Steffen Beutert: "Wir sind am Limit."


Während der "Türkei-Woche" hat er drei zusätzliche Kräfte genehmigt bekommen, um alles stemmen zu können. Das Sozialamt ist beispielsweise auch zuständig für die Abrechnung der medizinischen Kosten, wenn Flüchtlinge ins Krankenhaus oder zum Facharzt müssen. Da fällt viel Bürokratie an.
Das St.-Josef-Krankenhaus betreibt die Anker-Praxis
Die Eingangsuntersuchung wird in der Anker-Praxis gemacht, die das Schweinfurter St.-Josef-Krankenhaus betreibt. HIV, Hepatitis, TBC – Standarduntersuchungen. Bis zu 90 Blutabnahmen sind es pro Tag. "Wir kommen nicht mehr hinterher", stöhnt Ärztin Katharina Weigl. Denn parallel läuft ja noch der reguläre Praxisbetrieb.
Die meisten Flüchtlinge seien gesund, sagt Dr. Özlem Anvari, die ärztliche Leiterin. Zum Teil kommen aber auch Patienten mit sehr schweren Erkrankungen. Schlepper locken sie mit dem Versprechen auf eine Behandlung und Heilung nach Deutschland. Erwartung und Wirklichkeit klaffen dann mitunter weit auseinander: "Manche sind hier schon gestorben." Sie selbst betreut die kleinen Patientinnen und Patienten. "Gestern kam das erste Anker-Baby zur Welt", freut sich die Kinderärztin. Es sind die schönen Momente im Anker.


Manche Krankheiten sieht man auch nicht. Viele Geflüchtete sind schwer traumatisiert. Sie finden Hilfe in der Ambulanz für Seelische Gesundheit, wo geschulte Geflüchtete neu Angekommenen eine psychosoziale Beratung in ihrer Muttersprache anbieten. "Der Bedarf ist groß", verweist Dr. Anvari auf die vielen Menschen im Anker mit Depressionen oder Psychosen.
Im Ankerzentrum spiegeln sich die Krisen dieser Welt
Die steigenden Ankunftszahlen stellen auch die Mitarbeitenden der Flüchtlings- und Integrationsberatung von Diakonie und Caritas vor Herausforderungen. Sie sind das Bindeglied zwischen den Anliegen der Geflüchteten und den unterschiedlichen Anker-Stellen.
"Die Menschen wissen nicht, was hier passiert und was mit ihnen passiert", beschreibt Florian Brauth die Situation von Neuankömmlingen. Das beginne beim Ausfüllen von Anträgen und reiche bis zur Krisenintervention. "Wir machen die Hard Skills, sie die Soft Skills", lobt stellvertretender Anker-Leiter Yener Yildirim das gute Zusammenwirken von Behörden und Wohlfahrtsverbänden.


Die Hilfe bei den Formalitäten ist nur ein Teil der täglichen Arbeit. "Viele bringen Probleme mit, haben Sorgen um Angehörige zuhause oder Zukunftsängste", sagt die Leiterin der Beratungsstelle, Christine Steinmüller. Aktuell seien viele Minderjährige unter den Geflüchteten. Manche sind alleine, andere wurden einem älteren Bruder anvertraut. Da gilt's die Vormundschaft zu klären und hochkomplexe juristische Themen zu bewältigen.
Im Anker spiegeln sich die Krisen dieser Welt. "Wir schauen, dass der Mensch dabei von den Gesetzen nicht erdrückt wird", sagt Steinmüller.
Zwei Stunden Essensausgabe
Es ist inzwischen Mittag. Die Essensausgabe öffnet gleich. Vor der Kantine steht eine nicht endend wollende Menschenschlange. Seit Corona müssen die Bewohnerinnen und Bewohner ihr Essen auf den Zimmern einnehmen. Die warme Mahlzeit gibt's in Einwegboxen. Dazu zwei Lunchpakete, eins für abends, eins fürs Frühstück. "Klar, es fällt viel Abfall an", sagt Ankerleiter Benjamin Kraus. Bei 2000 Menschen gehe es aber nicht anders.

Für das Catering-Personal hinter dem Tresen ist es Fließbandarbeit. Nach zwei Stunden sind alle durch.
Das Essen ist halal, also rein, so wie es nach islamischen Recht zulässig ist. Heute gibt es Hähnchen mit Kartoffelsalat und Erbsengemüse. Im Lunchpaket befinden sich Obst, Müsli, Joghurt, Marmelade, Käse und Wurst. "Menge und Qualität stimmen", meint Kraus. Beschwerden gebe es kaum.
Es gab auch mal ein Anker-Café mit vielen Freizeitangeboten für die Flüchtlinge. In der Pandemie wurde es geschlossen, danach nicht mehr geöffnet. Jetzt ist es ein Notlager, vollgestellt mit 90 Betten. Riad und seine Kumpels vertreiben sich die Zeit nun mit Fußballspielen.

Ein Blick auf den Laufzettel: Ein wichtiger Termin steht noch an. Der Weg führt zu dem großen grauen Gebäude mit dem Bundesadler. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, kurz Bamf, ist die zentrale Behörde. Sie entscheidet über Leben und Perspektiven – oft nicht nur für einen Menschen, sondern für ganze Familien.
Wie bei Pinar und Abbas. Sie haben ihr ganzes Hab und Gut den Schleppern gegeben. Was ist, wenn ihr Asylantrag abgelehnt wird? "Daran wollen wir nicht denken."
Wie die Autorin die Recherche erlebt hat



