Eine Flüchtlingsgeschichte wie so viele: Irgendwo in Afrika macht sich ein junger Mann auf den Weg nach Europa. Er ist Jahre unterwegs. Und bis er übers Meer nach Europa übersetzt, erlebt er viel Schlimmes. So viel, dass es manchmal kaum auszuhalten ist.
"Die Häufigkeit der Suizidversuche auf der Flucht hat mich wirklich erschreckt", sagt Hannah Zanker. Die Psychologin und ihre Kollegin Laura Schrappe leiten die "Ambulanz für seelische Gesundheit" im unterfränkischen Ankerzentrum bei Geldersheim (Lkr. Schweinfurt). Unter dem Namen "SoulTalk – Psychosoziale Beratung für Geflüchtete in der Anker-Einrichtung Unterfranken" wurde das Projekt 2017 von der Kongregation der Würzburger Erlöserschwestern ins Leben gerufen. Es ist bislang einmalig in Bayern und wird an diesem Freitag, 6. Mai, mit dem Bayerischen Integrationspreis 2022 ausgezeichnet.
Das Konzept: Geflüchtete sind für Geflüchtete da
SoulTalk ist ein niedrigschwelliges Angebot zur psychosozialen Betreuung von Flüchtlingen. Die Idee: Beraterinnen und Berater sind Menschen, die selber Fluchterfahrungen gemacht haben und dieselben Sprachen wie die Geflüchteten sprechen. In Einzel- und Gruppengesprächen werden Probleme benannt und Strategien entwickelt, um mit der Situation besser umgehen zu können. Es geht um eine Art Hilfe auf Augenhöhe, sagen Zanker und Schrappe. Denn für die Betroffenen sei es oft schon hilfreich, vermittelt zu bekommen: Wir hören zu, wir verstehen dich, du bist nicht allein. Die fachliche Betreuung übernehmen dann Therapeuten, Psychologen und Ärzten.
Entwickelt wurde das Konzept von der Organisation "Ärzte ohne Grenzen" für Krisenregionen, im unterfränkischen Ankerzentrum wird es erstmals auch in Deutschland umgesetzt. Es gehe bei "SoulTalk" nicht darum, die Vergangenheit aufzuarbeiten oder psychische Störungen zu entdecken, sagen die beiden Psychologinnen. Sondern darum den Menschen jetzt und hier zu helfen: "Wir sind Begleiter auf einem Stück des Weges."
Zwei der vier Berater-Stellen sind derzeit besetzt
Vier Berater-Stellen gibt es bei "SoulTalk", momentan sind zwei besetzt. Salah Ali Hamada war einer der ersten drei Berater, die für SoulTalk geschult wurden. Der Englischlehrer aus Syrien kennt das Leben auf der Flucht, den Alltag in Flüchtlingsunterkünften, die Probleme in der Fremde, die Sorge um die Anerkennung als Flüchtling, die Ängste. Seine Kollegin Mahtab Bazrafkan gehört seit kurzem zum Team und betreut Klienten, deren Muttersprache Persisch ist. Aktuell ist die Anker-Einrichtung Unterfranken zwar für die Schwerpunktländer Algerien, Armenien, Elfenbeinküste und Somalia zuständig, knapp 40 Prozent der Bewohner kommen derzeit aber aus Afghanistan.
Die Erfahrung der vergangenen Jahre habe die Notwendigkeit von psychosozialer Beratung in der Ankereinrichtung belegt, sagt Hannah Zanker: "Die Belastung war von Anfang an hoch, in letzter Zeit hat sie sogar zugenommen." Denn anders als die ersten Flüchtlinge hätten die Menschen, die jetzt ankommen, meist schon eine jahrelange Reise hinter sich. Sie kommen aus der Perspektivlosigkeit der Camps, sind depressiv, sagt die Psychologin. Viele würden seit Monaten den Gedanken in sich tragen, ihr Leben zu beenden. Man merke ihnen die Erleichterung an, endlich mit jemandem darüber reden zu können.
"Unsere Beratung hat das Stigma verloren", freut sich Hannah Zanker, die Geflüchteten würden jetzt offener mit ihren Problemen umgehen. Dank "SoulTalk" sei die psychosoziale Beratung ein stückweit selbstverständlich geworden.
Psychologen der Uni Würzburg begleiten das Projekt wissenschaftlich
Das Schweinfurter Modellprojekt wurde von Beginn an vom Institut für Psychologie an der Universität Würzburg wissenschaftlich begleitet, acht Masterarbeiten sind entstanden. Die Ergebnisse zeigten, dass die Beratung die hohen Belastungen der Bewohner abfedern und den Umgang mit Stress verbessern kann, sagt Schrappe: "Jemand mit Fluchterfahrung kennt die Situation von Geflüchteten einfach viel besser." Die Beraterinnen und Berater könnten daher auch den Kontakt zu psychisch belasteten Menschen viel schneller herstellen.
"Wir haben den Eindruck, dass SoulTalk auch von der Politik vermehrt wahrgenommen wird", sagt Dr. Joost Butenop, Arzt und Referent für Asylgesundheit für die Regierung Unterfranken, die das Ankerzentrum für den Freistaat betreibt. Butenop hält eine flächendeckendes psychosoziales "Screening" aller Asylbewerber für notwendig: "Aus unserer Sicht wird nur die Spitze des Eisbergs abgedeckt. Da ist noch Luft nach oben."
Finanzierungsfrage: Wer übernimmt in Zukunft die Kosten?
Gesetzlich regelt das Asylbewerberleistungsgesetz zwar die medizinische Versorgung Geflüchteter, aber die Zugangsbarrieren sind hoch. Einer psychosozialen Beratung im schulmedizinischen System stehen schon die Sprache und vor allem das fehlende Fachpersonal im Wege. Deshalb brauche es weiterhin Einrichtungen wie SoulTalk und Geld dafür, sagt Miriam Christof, Pressereferentin der Kongregation. Für "SoulTalk" haben die Erlöserschwestern bislang alleine die Kosten von 250.000 Euro im Jahr getragen. Für die Früherkennung besonders betroffener Personen erhielt das Projekt zuletzt 144.000 Euro aus dem Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds (AMIF) der Europäischen Union.
Doch wie geht es weiter? Bis Ende 2022 steht die Finanzierung der psychosozialen Beratung in der unterfränkischen Ankereinrichtung. "Die Erlöserschwestern werden SoulTalk aber nicht auf ewig finanzieren können", sagt Miriam Christof. Und: "Es gibt Signale aus München, das Projekt nicht sterben zu lassen."