"Heul doch!", sagt Fotografin Sonja Demmler. Letztlich tun wir's beide: Wir jaulen wie Wölfe, singen schaurig-schön die Nacht an, wenn auch nicht den Mond. Denn der ist an diesen Freitagabend hinter dicken Regenwolken versteckt.
Adressat unseres schrägen Geheuls ist der Wald links des Wolfswagens im Wildpark Bad Mergentheim. Jener uneinsehbare Teil des rund zwei Hektar großen Wolfsreviers, der zu diesem Zeitpunkt mutmaßlich 30 kanadische Timberwölfe beherbergt.
30 Tiere, die – wen wundert's – beharrlich weiter schweigen. Keine Antwort. Stille. Abgesehen vom Lachen einiger Jugendlicher auf dem Zeltplatz in der Ferne. Angestrengt starren unsere Augen in den immer dunkler werdenden Freitagabend. Kein Wolf weit und breit. Zum Heulen!
Seit März 2021 können Gäste im Wildpark Bad Mergentheim im Wolfswagen übernachten
Dreieinhalb Stunden ist es her, dass wir – Fotografin und Redakteurin – aufgeregt-aufgekratzt im Wildpark Bad Mergentheim angereist waren. Gebucht hatten wir die Nacht im Wolfswagen fast ein Jahr im Voraus. Dates mit Wölfen sind heiß begehrt.
Im Tiny House haben wir vom gemütlichen Doppelbett aus durch eine Panoramascheibe freien Blick ins Wolfsgehege. Seit März 2021 gibt es diese Art der Übernachtung. In der Corona-Zeit, erklärt Sabrina Kaluse vom Wildpark, hatten sich Handwerker des Parks eine sinnvolle Beschäftigung gesucht und aus vorhandenem Material eine Unterkunft gezimmert.
"Mega-Erlebnis" und "einmaliges Abenteuer" schreiben Teilnehmer ins Gästebuch
Die neue Übernachtungsform hat die Tierpark-Besucher "begeistert und überwältigt", so Kaluse. 950 Personen haben seither im Wolfswagen genächtigt. In der aktuellen Saison wurde das alte Häuschen durch einen neuen, größeren Wagen ersetzt. Zwei Erwachsene und zwei Kinder kommen nun darin unter.
"Die Tiere so nah und in Ruhe beobachten zu können, war wirklich traumhaft", schreiben frühere Teilnehmer im Gästebuch. Unsere Stimmung hebt das vorerst nicht. Drei Stunden warten wir schon, verschiedene Fotoapparate im Anschlag, auf jenen Gänsehautmoment, wenn das Rudel plötzlich vor einem steht. Vergebens! Kein einziger Wolf, nirgends.
Der Wolfswagen im Wildpark ist mit kleiner Küche, Waschbecken und Bio-Toilette ausgestattet
Etwa ein Sechstel des Wolfsreviers in Bad Mergentheim ist für Tierpark-Besucher einsehbar, der Rest diene den Tieren als Rückzugsort, erläuterte Tierpfleger Philip Föhl bei unserer Ankunft. Zwei Tiere pirschten sich während seiner Erklärungen kurz in unsere Nähe. Kaum blickten wir auf, waren sie verschwunden. Dank diverser Gästebuch-Einträge wissen wir: Dass sich die Wölfe dauerhaft rarmachen, ist definitiv die Ausnahme, nicht die Regel.
Ohne die Wolfs-Erwartungen hätten wir die Zeit im und um den Wolfswagen noch intensiver genossen: Das Holz-Tiny-House war mehr als gemütlich, nahezu luxuriös und selbst an kühlen Regentagen durch die Deckenheizung kuschlig warm. Dank Waschbecken und Bio-Toilette kam kein Bedürfnis zu kurz. Im Außenkamin prasselte ein heimeliges Feuer. Das Abend-Picknick aus dem Vesperkorb und einem bis zum Rande bestückten Kühlschrank des Wolfswagens war vorzüglich.
Was sich Besucher in Bad Mergentheim von einer Übernachtung im Wolfswagen erwarten
Wären, ja wären da nicht diese eigenwilligen Tiere gewesen. Die sich einfach unserem Zugriff entzogen. "Warten können", weiß Naturfotografin Sonja Demmler, "ist eine der wichtigsten Eigenschaften in der Wildtierbeobachtung." Die Natur, sagt sie, hat ihren eigenen Rhythmus.
Eigentlich waren wir ja gerade deshalb gekommen: Um für eine Nacht dem Unberechenbaren Raum zu geben. Trotzdem wär's fein gewesen, hätten sich die Wölfe ein klitzeklein wenig an unser inneres Drehbuch gehalten!
Weshalb übernachtet man in einem Wolfswagen? Um einen Blick zu erhaschen aufs vermeintlich Natürliche, Wilde. Um sich ins, wenn auch gezähmte, Abenteuer zu stürzen und den geordneten Alltag ein wenig auszuwildern. Fürs Lebendigfühlen zwischen wohligem Grauen und Faszination. Vor allem aber, um sich dem Wolf – Sympathieträger, Bestie, Heilsbringer, Wildtier, Vorfahr – durch all die Zuschreibungen hindurch ein Stück weit anzunähern, dem Dämonisierten, dem Mystifizierten.
Das Wolfsgeheul dringt durch Mark und Bein und richtet jedes Nackenhaar auf
Dem Abwesenden! Ohne Wolfsrudel-Sichtung dämmerten wir um Mitternacht ein. Kurz vor sechs in der Früh war es plötzlich still. Der Regen pausierte kurz. Vor der Panoramascheibe keine Wölfe, dafür wunderbares Morgenrot. Raus aus den Federn!
Kaum sind wir draußen, setzt Wolfsgeheul ein, das durch Mark und Bein geht und jedes Nackenhaar aufrichtet. Ein Wolf startet im Crescendo, immer mehr fallen ins chorale Jaulen ein. Manche tiefer, andere höher, dazwischen Quieker, Kläffer, Knurrer. Es sind Töne, die tief im Inneren rühren, die Gewissheit einer Verbundenheit wecken und Kräfte erahnen lassen, die keine Zivilisation in Zaum hält.
Zwei Minuten später ebbt das Gemeinschafts-Heulen ab. Noch immer hat sich kein Wolf blicken lassen. Dennoch sieht der Wald anders aus.
Als die Wölfe doch noch kommen: Aug in Aug mit kanadischen Timberwölfen
Die Wölfe kommen, als wir nicht mehr warten. Kurz nach acht Uhr am Morgen. Ein letzter Kaffee im Bett, die Heimfahrt im Kopf. Plötzlich stehen sie da. Drei, fünf, immer mehr brechen aus dem Wald, bis sich nahezu das gesamte Rudel trotz strömenden Regens vor dem Wolfswagen tummelt. Begossene Pudel im Dauerregen, deren Kraft und Eleganz fasziniert.
Eigentlich sind die kanadischen Timberwölf in Nordamerika beheimatet, hatte uns Tierpfleger Föhl am Vorabend erzählt. Wegen der großen Beutetiere, die sie dort jagen, leben sie auch in der freien Natur in großen Gruppen. Ideal für einen Tierpark wie Bad Mergentheim, der seinen Besuchern gerne das Sozialverhalten eines Rudels aufzeigen möchte.
Wie Wölfe miteinander interagieren: Wer ist eigentlich der Leitwolf?
Suchend blicken wir nach Leitwölfin und -wolf. Sie auszumachen, ist schwer. Auch darauf hatte uns Föhl vorbereitet: "Wölfe interagieren durch Laute, Körpersprache, Mimik." Doch die Dynamik sei kompliziert. "Trägt ein Wolf die Rute hocherhoben, zeigt er sich ranghoch", hatte Föhl verraten.
Aber auch, dass man die Leitwölfe nicht immer auf den ersten Blick erkenne. "Besonders, wenn ihre Stellung so gefestigt ist, dass sie das nicht ständig präsentieren müssen." Nicht jeder, der auf Chef mache, sei am Ende Chef, sagte er.
Ein Blick vom Wolf in Bad Mergentheim und das Warten im Wolfswagen hat sich gelohnt
Seit zehn Jahren arbeitet der 30-jährige Föhl mit Wölfen. Spaß mache ihm der Beruf, wenn es gelinge, dem Besucher den Wolf in all seinen Facetten näherzubringen.
Ein Wolf sei weder Bestie noch Unschuldslamm. "Er verhält sich, wie er sich verhält, nach seinem Instinkt. Mehr kann ich von einem Wolf nicht erwarten." Die Tierpfleger seien es, die darauf achten müssten, keine Fehler zu machen.
Vor der Panoramascheibe traben die Tiere auf und ab. Die Futterzeit rückt näher. Einer steht still. Blickt geduckten Kopfes, mit gespitzten Ohren aufmerksam Richtung Wolfswagen. Schaut er in den Wagen, in den Menschen? Orange Augen treffen braune. Sekunden? Minuten? Ein Wimpernschlag der Ewigkeit, das Warten hat sich gelohnt.
Für die aktuelle Saison ist der Wolfswagen im Wildpark Bad Mergentheim komplett ausgebucht. Die Termine für Buchungen für die Sommersaison kommendes Jahr werden nach der Open-Air-Kinowoche im Tierpark (14. bis 21. August) veröffentlicht. Zwischen 310 und 350 Euro kostet das tierische Erlebnis für bis zu zwei Erwachsene und zwei Kinder inklusive Abendessen, Frühstück und Tierpark-Eintritt am Folgetag. Weitere Infos unter www.wildtierpark.de.