Im April 1945 füllten ungewohnte Laute die Universitäts-Augenklinik am Würzburger Röntgenring. 44 Jahre lang war es in dem 1901 eröffneten Krankenhaus um die bestmögliche Behandlung von Augenkranken gegangen. Jetzt bevölkerten Soldaten eines amerikanischen Eisenbahn-Bataillons den Prachtbau; ihre Gespräche drehten sich um die Frage, welche der verwüsteten Schienenstrecken Unterfrankens zuerst repariert werden sollten. Der Nachschub für die Army musste rollen; der Zweite Weltkrieg war noch nicht zu Ende.
Den Abend des 16. März 1945, als britische Flugzeuge wenige Wochen zuvor Hunderte Tonnen Spreng- und Brandbomben über Würzburg abwarfen und rund 3600 Menschen starben, hatten Personal und Patienten sowie der Klinikangestellte Otto Seidel und seine Familie im Luftschutzkeller des Augenklinik überstanden. Abgesehen von den Schäden, die kleinere, durch Funkenflug ausgelöste Feuer verursachten, war das Gebäude intakt geblieben.
Die amerikanischen Truppen rückten immer näher an das fast völlig zerstörte Würzburg heran. Wenige Tage nach dem Angriff wurden daher Patienten, Ärzte und Erlöserschwestern, die in der Klinik Dienst taten, in die Brauerei Hochrein in Kaltenhausen gebracht, später ins Schönborn-Schloss in Wiesentheid. Die Ambulanz kam ins Luitpoldkrankenhaus.
Im März 1945 zog eine Poststelle in die Augenklinik ein
Otto Seidel, der jahrzehntelang Tagebuch führte und so zum Chronisten der Klinik wurde, in der er mit seiner Familie wohnte, beschrieb die Lage nach der Auslagerung: "Das Gebäude lag verlassen, die Plünderung begann." Würzburgerinnen und Würzburger, die am 16. März alles verloren hatten, holten sich aus dem kurzzeitig leerstehenden Gebäude lebensnotwendige Güter, wahrscheinlich auch Einrichtungsgegenstände, und zerschlugen manches mutwillig.
Die Anarchie endete, als noch im März 1945 Würzburger Postbeamte einzogen, deren Amtsräume größtenteils zerstört waren. Im ersten Stock der Klinik richteten sie in den Patientenzimmern Briefsortierungs-Abteilungen ein. Im Küchengang und im Nähzimmer lagen improvisierte Auszahlungsschalter für Renten. "Postkunden standen in großer Zahl in Schlangen im Klinikgarten, auf Auszahlung ihrer Versorgungsbezüge wartend", schrieb Seidel.
Am 3. April 1945 begann der dreitägige Kampf um Würzburg. Die Amerikaner setzten vom linken Mainufer über, zunächst in Booten, später über die von ihnen notdürftig reparierte Alte Mainbrücke. Diese stellte danach lange den einzigen Mainübergang in Würzburg dar, da die Nationalsozialisten alle Brücken in die Luft gejagt hatten.
Am 15. April, drei Wochen vor Ende des Zweiten Weltkriegs und neun Tage nach dem Endes des erbitterten und verlustreichen Kampfs um Würzburg, besetzte amerikanische Militärpolizei (M.P.) die Augenklinik. Die M.P. blieb nicht lange und machte Ende April dem "750th Railway Operating Battalion" Platz. Otto Seidel brachte unter Aufsicht der GIs die Heizung wieder zum Laufen, seine Frau Anna wusch die Wäsche der Soldaten, deren Aufgabe die Reparatur von Bahnstrecken war.
Ein notdürftiger Klinikbetrieb begann
Als die Amerikaner das Haus im Oktober 1945 verließen, konnte wieder ein notdürftiger Krankenhausbetrieb beginnen. "Von Wiesentheid trafen Lastautos mit dem Klinikinventar ein und ein großes Einräumen und Einziehen begann", schrieb Otto Seidel. "Alle Räume wurden nach verborgenen Möbelstücken und zerstörten Apparaten und Lampen durchsucht. Man musste sich behelfen so gut es ging. Alles war froh, mit dem Leben davongekommen zu sein."
Am 16. Dezember 1945 fand der erste Nachkriegs-Gottesdienst in der Klinikkapelle unter dem Dach statt. Jahre später sollten Otto Seidels Töchter Elsa und Maria darin heiraten.
1946 kam die Julius-Maximilians-Universität langsam wieder in Gang. Da die Augenklinik im Gegensatz zu den meisten anderen Uni-Gebäuden noch benutzbar war, diente sie zeitweise als Massenquartier für Studierende und wurde zur Keimzelle der Nachkriegs-Universität. Mehrere Fakultäten nahmen hier einen notdürftigen Vorlesungsbetrieb wieder auf.
Ab 1951 leitete Walter Reichling das Haus am Röntgenring, der zuvor in der Charité in Berlin gearbeitet hatte. Der Professor, ein begeisterter Hobbypianist, war auch durch den nach ihm benannten und von ihm geleiteten Laienchor bekannt. Wie sein Nachfolger Wolfgang Leydhecker 1965 bei seinem Amtsantritt bemerkte, widmete Reichling dem Chor wohl ungebührlich viel Aufmerksamkeit.
Als Leydhecker die Bibliothek der Augenklinik betrat, musste er staunen: "In den letzten Jahren war fremdsprachliche Literatur nicht mehr angeschafft worden", schrieb er in seinem Erinnerungen. "Sie enthielt aber einen Karton mit Plakaten der Aufführung der Matthäus-Passion, die mein Vorgänger dirigiert hatte."
1970 siedelte die Augenklinik nach Grombühl um
Während Professor Leydheckers bis 1987 dauernder Amtszeit siedelte die Augenklinik 1970 in die neuerbaute Kopfklinik in die Josef-Schneider-Straße um. Bis Anfang der 80er Jahre nutzte die Universitätsnervenklinik das Gebäude, bevor auch diese in Grombühl einen Neubau bezog. An den Wänden fanden sich noch 1998 Zeichnungen von hier untergebrachten Psychiatriepatienten. Gelegentlich führte die Polizei in dem nun leerstehenden Gebäude Übungen für angehende Polizisten durch.
Es schien, als wäre das unter Denkmalschutz stehende Haus dem Verfall preisgegeben. Immer wieder wurden Nutzungen ins Gespräch gebracht und dann doch verworfen. Vor allem der Status als Denkmal machte viele Vorschläge zunichte. Von musealer Verwendung war die Rede, von einem Umzug der Polizeiinspektion von der Augustinerstraße an den Röntgenring oder von der Schaffung von Kongressräumen in Kooperation mit dem benachbarten Congress Centrum. Nichts davon kam zustande.
Immerhin wurde 1998 der separate Hörsaal im Hof für 3,1 Millionen Euro saniert und mit einem neuen Eingangsbereich versehen. Das Erdgeschoss der Klinik nahm eine Mensa für Studierende der Fachhochschule (jetzt Technische Hochschule) und der Uni-Institute am Röntgenring auf. In den vier Stockwerken darüber nisteten freilich die Tauben und blätterte der Putz. Das prächtige Treppenhaus führte in Zimmer, die keiner betrat und in denen teilweise noch die alten Büromöbel standen. Die Klinik lang in einem Dornröschenschlaf.
Als kaum noch jemand zu hoffen wagte, das Haus würde jemals wieder als Ganzes genutzt werden, kam im Dezember 2017 die Wende, als der damalige Regierungspräsident Paul Beinhofer in der Jahresschlusssitzung des Stadtrats überraschend mitteilte, dass eine grundlegende Sanierung des maroden Bauwerks bevorstehe. 2020 begann der Umbau; am 8. Mai zieht das Fraunhofer-Institut ein und betreibt hier künftig unter anderem medizinische Grundlagenforschung.
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