Auf dem heruntergekurbelten Autofenster thront ein Teddybär. Neben dem Wagen der Adlerwerke – damals einer der größten deutschen Autoproduzenten – stehen der etwa fünfjährige Hermann Seidel und seine ein Jahr jüngere Schwester Elsa. Hermann hat seinen Spielzeughasen mitgebracht, der vor ihm sitzt, Elsa hält ihre Puppe im Arm.
Im Hintergrund sieht man die Rückseite der Alten Augenklinik am Röntgenring 12. Die Geschwister lebten 1934, als das Foto entstand, mit ihren Eltern Otto und Anna Seidel in dem Haus, weil ihr Vater Universitätsangestellter war und in der Klinik als Präparator arbeitete, außerdem als Chauffeur des Klinikdirektors und als Hausmeister, der sich um die Heizung kümmerte und an der Pforte saß.
Eine Wohnung in einem der repräsentativsten Häuser Würzburgs
Sie wohnten in einem der repräsentativsten Häuser Würzburgs. Die 1901 eröffnete Augenklinik hatte Universitätsbaumeister Rudolf von Horstig geplant, von dem auch die Neue Uni am Sanderring stammt. Das Haus – eine der modernsten Augenkliniken des Kaiserreichs – bot in bis zu 4,70 Meter hohen Räumen Platz für 80 Patientinnen und Patienten. Im Erdgeschoss lebte ab 1927 Otto Seidel; noch im selben Jahr heiratete er; zwischen 1929 und 1940 bekamen er und seine Frau Anna die Kinder Hermann, Elsa, Maria und Walter.
Otto Seidel wurde 1890 geboren und starb 1976; er kannte die Klinik, in der er seit 1913 arbeitete, wie kein Zweiter und hat das Leben darin jahrzehntelang festgehalten. Seine vom 2016 gestorbenen Sohn Hermann zur Verfügung gestellten Tagebücher, Dokumente und Fotos geben Einblicke in die Geschichte des prächtigen Gebäudes, das in diesem Frühjahr nach jahrelanger Sanierung an das Fraunhofer-Institut übergeben wird.
Im Ersten Weltkrieg hatte Seidel in Frankreich gekämpft; er wurde schon im September 1914 schwer verwundet und kehrte mit einem um fünf Zentimeter verkürzten rechten Bein nach längerem Lazarettaufenthalt im Mai 1915 an die Augenklinik zurück. Das Haus leitete damals Professor Karl Wessely.
Im Ersten Weltkrieg diente die Augenklinik als Lazarett
Zahlreiche verletzte Soldaten waren in der zum Lazarett umgewandelten Klinik und ihrer Zweigstelle in der Hauger Schule zu behandeln. Otto Seidel: "Es gab Fälle, wo junge Soldaten schwere Augenverletzungen erlitten hatten und dabei auch noch an Armen und Beinen schwer geschädigt waren und vielfach völlig hilflos dalagen."
Je länger der Krieg dauerte, desto stiller wurden die Truppen, die von den Kasernen in der Zellerau an der Klinik vorbei zu den Zügen am Bahnhof marschierten, die sie an die Front und viele in den sicheren Tod brachten. Am Anfang hatte Seidel noch die schmissige Marschmusik der Neuner-Kapelle gehört, jetzt herrschte "feierliche Ruhe", wie er notierte.
Die Menschen in Würzburg und im ganzen Reich litten. "Es fehlte an allem," schrieb Otto Seidel. "So war der Mangel an Operationsseife sehr groß. Jedes Stück wurde sorgfältig aufgehoben und bei Ausgabe darüber Buch geführt."
Als der Krieg verloren und Deutschland eine Republik geworden war, gab es überall Unruhen. Seidel beobachtete, wie im März 1919 Mitglieder der antikommunistischen Bürgerwehr eine Kanone an der Klinik vorbeischoben, mit der die Festung, in der sich Kommunisten verschanzt hatten, sturmreif geschossen werden solle: "Da aber eine große weiße Fahne auf der Festung sichtbar wurde, trat sie nicht in Tätigkeit." Später entwickelten sich Kämpfe am Steinberg. Seidel: "Man hörte in der Klinik noch lange das Vorbeipfeifen der Geschosse."
Otto Seidel wurde zwei Jahre später erneut Zeuge von bedeutsamen Ereignissen. Am 13. November 1923 hielten Hitler-Anhänger wenige Tage nach dem gescheiterten Hitlerputsch an der Klinik eine Versammlung ab. Danach marschierten sie durch die Kaiser- und Hofstraße zum Residenzplatz, wo die Polizei dem Spuk ein Ende bereitete. Im selben Jahr lösten Erlöserschwestern, die im Obergeschoss der Klinik in einem "Klausur" genannten abgeschlossenen Bereich wohnten, die bisher hier tätigen Rotkreuzschwestern ab.
Augenarzt Josef Schneider hinterließ der Würzburger Augenklinik 300.000 Dollar
Als Karl Wessely 1924 an die Münchner Universität berufen wurde, wollte er den bewährten Otto Seidel mitnehmen. Dieser musste freilich absagen: "Ich soll auch mitgehen", schrieb er bedauernd in sein Tagebuch, "kann aber bei dem kleinen Gehalt nicht." Wesselys Nachfolger war Professor Franz Schieck. Dieser begrüßte kurz nach seinem Amtsantritt 1925 in seiner Klinik den 79-jährigen Augenarzt Josef Schneider aus Milwaukee im US-Bundesstaat Wisconsin, der in Würzburg studiert hatte und 1879 in die USA ausgewandert war.
Schneider, ein wohlhabender Mann, hing an seiner Heimatstadt. Er ermöglichte durch eine große Spende den Bau der Straßenbahn zum Luitpold-Krankenhaus, weshalb in Grombühl die Josef-Schneider-Straße nach ihm benannt wurde, und er hinterließ der Augenklinik 1927 bei seinem Tod 300.000 Dollar - eine damals exorbitant hohe Summe.
"Von den Zinsen sollen Freiplätze für arme alte Leute und Kinder geschaffen werden, die an den Augen erkrankt sind", hielt Otto Seidel in seinem Tagebuch fest. "Sie sollen bei uns unentgeltlich verpflegt und behandelt werden." Jährlich beging die Klinik fortan am 19. März den Josefstag – in Erinnerung an den Mäzen und den Heiligen.
Führerschein für den Wagen des Professors
1928 war jenes Jahr, in dem Seidel den Führerschein machte und Franz Schieck sich eine Adler-Limousine zulegte, in der ihn Seidel von der Professoren-Wohnung in der Keesburgstraße abholte – entweder um ihn zur Klinik zu fahren oder, wie am 28. Juni 1928, mit Frau und Tochter zum Mozartfest in der Residenz.
Am 8. März 1931 hatte die Augenklinik wieder wichtigen Besuch. Bischof Matthias Ehrenfried kam in "goldenem Mantel mit Bischofsmütze und -stab" (Otto Seidel) zur Einweihung der neuen Klinikkapelle unter dem Dach. Der Bischof segnete Seidel und dessen zweijährigen Sohn Hermann, die neben dem Eingang zur "Klausur" der Erlöserschwestern standen; anschließend gab es ein Frühstück im Zimmer des Klinikdirektors.
Otto Seidel konnte nicht wissen, dass seine 1930 und 1934 geborenen Töchter Elsa und Maria beide in der Kapelle heiraten und dass seine Söhne Hermann und Walter darin ministrieren würden. Im Jahr 1998 besuchten Otto Seidels vier Kinder die damals bereits fast zwei Jahrzehnte leestehende Klinik und Elsa Fersch und Maria Tamm, die 2018 bzw. 2022 starben, tauschten in der samt Einrichtung noch vorhandenen Kapelle Erinnerungen aus.
Es folgten die zwölf Jahre des "Tausendjährigen Reiches", und schon 1935, als erstmals eine Verdunkelungs-Übung in der Klinik stattfand, war zu ahnen, dass es dunkle Jahre werden würden. Kaum hatte der Zweite Weltkrieg begonnen, wurde die Klinik erneut Lazarett, der Hörsaal Lager für Soldatenuniformen. Am 15. Oktober 1939 brachte man die ersten Verwundeten aus Polen.
Ein Jahr später tobte der Luftkrieg über England. "Bomben schwersten Kalibers werden auf London abgeworfen", schrieb Otto Seidel: "Riesenbrände dort, Explosionen, Öl-Tanklager brennen, die Hauptstraßen in Schutt und Trümmern, die Menschen wahnsinnig vor Schreck, Tausende obdachlos." Vier Jahre später kam der Luftkrieg nach Würzburg.
In der nächsten Folge unserer kleinen Serie über die alte Augenklinik erlebt die Familie Seidel den 16. März 1945 im Keller des Hauses am Röntgenring 12.
Trotz sorgfältiger Recherche konnten nicht alle Rechteinhaber der Fotos ermittelt werden. Rechteinhaber werden gebeten, sich bei der Redaktion zu melden.