Nach der Bundestagswahl ist vor der Kanzlerwahl. "Normalerweise müsste sich die Union jetzt zurückziehen", sagt der Würzburger Politikwissenschaftler Prof. Hans-Joachim Lauth. Er hält nichts für entschieden und erwartet aufregende Wochen. Am Tag nach der Bundestagswahl analysiert er die Konstellationen - und realistische Koalitionen.
Prof. Hans-Joachim Lauth (lacht): Nicht Frau Merkel. Vor vier Jahren war klar, Frau Merkel bleibt Kanzlerin, egal wie lange die Verhandlungen dauern. Jetzt möchte jemand neues anfangen und möglichst schnell zum Zuge kommen. Denn vier Jahre sind keine lange Zeit.
Lauth: Normalerweise würde die SPD jetzt den ersten Zugriff haben. Die Wahlniederlage der Union ist gravierend. Aber sie ist noch da, weil sich die FDP sehr klar für die CDU ausspricht. Und zwar klarer als die Grünen für die SPD. Hinzu kommt das gute persönliche Verhältnis zwischen FDP-Chef Christian Lindner und CDU-Chef Armin Laschet. Weiterhin besteht das Problem, dass die größten Divergenzen zwischen FDP und Grünen liegen. Beide Parteien könnten jeweils sowohl mit der SPD, als auch mit der Union regieren. Aber miteinander wird es schwer.
Lauth: Da wird wohl vieles parallel laufen. SPD und Union werden auch sofort die Fühler ausstrecken und sondieren. Wir stehen vor aufregenden Wochen. Es ist nichts entschieden. Die besseren Trümpfe hat Olaf Scholz, aber der Prozess kann eine eigene Dynamik entwickeln. Und ich denke, dass die FDP professioneller verhandelt als die Grünen.
Lauth: Das kann ich auch nicht so ganz nachvollziehen. Wenn man neun Prozentpunkte verliert, ist erstmal gut. Normalerweise müsste sich die Union jetzt zurückziehen und die anderen vehandeln lassen. Wenn die sich dann nicht einigen würden, könnte die Union ja wieder da sein, um eine Alternative anzubieten.
Lauth: Glaube ich zunächst nicht. Die Union will jetzt ihre Machtoption wahren. Landet sie in der Opposition, würde es ein Hauen und Stechen geben. Laschet würde in die Wüste geschickt. Aber wer soll übernehmen? Die Union weiß nicht, wie es dann weitergehen soll, das hält den Anspruch auf die Machtoption aufrecht.
Lauth (lacht): Das kommt darauf an, was man unter Zukunft versteht. Wenn man 16 Jahre an der Regierung war und dann die Zukunft ausruft, ist das sehr gewagt. FDP und Grünen stünde dieser Anspruch eher zu. Laschet kann den Grünen die größten Zusagen machen, aber es wird nicht viel passieren. Nordrhein-Westfalen ist nicht der Vorreiter einer grünen Industriepolitik. Selbst dort, wo Laschet regiert, hat die CDU verloren und ist Zweiter hinter der SPD geworden. Bei der FDP würde er jetzt alles unterschreiben. Laschet hat zu wenig Profil. Er sagt immer, er könne alles zusammenführen. Aber wo steht er selbst?
Lauth: Er braucht ein klares Votum der Grünen. Wenn die Grünen so zur SPD stehen, wie die FDP zur Union, geht es in Richtung Ampel, weil die FDP weniger Probleme mit der SPD hat als mit den Grünen. Scholz stand als Finanzminister für die schwarze Null, kommt aus dem konservativen Lager der SPD und wäre ein Verbündeter der FDP. Die Grünen sind der Wackelkandidat für eine Ampel.
Lauth: Die Stimmung in der Partei ist nicht für CDU und CSU. Die Grünen werden eine Mitgliederbefragung oder zumindest eine Mitgliederversammlung zur Festlegung auf einen Koalitionspartner durchführen. Da brauchen sie mindestens 51 Prozent. Und sie müssen dann auch den Koalitionsvertrag in der eigenen Partei durchbekommen. Eine Jamaika-Koalition könnte zudem die Grünen zu einem strategischen Abstieg führen. Sie würden die FDP als Königsmacher kopieren und für viele ihrer Wählerinnen und Wähler dadurch überflüssig werden. Andere, neue Parteien würden dann beim Klimaschutz die Rolle der Grünen übernehmen.
Lauth: Das wäre vorstellbar, wenn sich FDP und Grüne verhaken. Wenn sie nicht zusammen kommen oder unerfüllbare Forderungen an Union oder SPD stellen. Denn Welten trennen SPD und Union nicht. Die SPD hätte in diesem speziellen Fall wohl nichts gegen eine Große Koalition unter ihrer Führung, und für Laschet wäre es immerhin noch ein aufgefangener Absturz. Er könnte Vizekanzler werden.
Lauth: Nein, aber was bleibt übrig, wenn Grüne und FDP weder mit SPD noch mit der Union zusammenkommen? Den ganz großen Neuanfang wird es auch so nicht geben. Egal, wer die nächste Koalition anführt, SPD oder Union - die Hälfte der alten Bundesregierung ist immer dabei. Die FDP steht für mehr Marktwirtschaft, das ist auch nicht so neu. Der größte Aufbruch müsste im Klimabereich gemacht werden. Aber da haben die Grünen schon im Wahlkampf viel zu viel abgespeckt, um ihre Wahlchancen zu erhöhen. Und sie werden in den Koalitionsverhandlungen noch mehr verlieren, da bleibt wenig für einen grundsätzlichen Neuanfang.
sich zurückziehen und sofortiger Rücktritt
Da möchte ich nur an die gleiche Situation vor 4 Jahren erinnern.
Die FDP hatte damals wie ein stures Kleinkind die Zusammenarbeit mit den Grünen verweigert und damit die eigentlich schon getroffene Koalitionsentscheidung gesprengt. Deshalb musste die Union ja die SPD anbetteln, dass sie mit ihr in die Groko geht (was die SPD, damals unter Schulz, ja eigentlich abgelehnt hatte).
Positiver Nebeneffekt: die FDP war damit selbst dann komplett raus.
Dies zum Thema "vernünftiges Verhandeln". So wichtig wie sich die FDP immer noch selbst sieht, kann es durchaus erneut so kommen. Halt umgekehrt, mit der SPD statt der CDU als stärkste Partei.