zurück
Würzburg
Würzburger Pharmazie-Professorin: Politiker haben nichts gegen Lieferengpässe bei Arzneimitteln getan
In Deutschland fehlen Arzneimittel. Professorin Dr. Ulrike Holzgrabe von der Uni Würzburg kritisiert das scharf und nimmt die Politik in die Pflicht.
Fiebersäfte, Insulin, Blutdrucksenker und wichtige Penizilline fehlen aktuell in Deutschland. Professorin Dr. Ulrike Holzgrabe, Seniorprofessorin am Lehrstuhl  für Pharmazie und Medizinische Chemie an der Uni Würzburg, kritisiert das scharf.
Foto: Daniel Peter | Fiebersäfte, Insulin, Blutdrucksenker und wichtige Penizilline fehlen aktuell in Deutschland. Professorin Dr. Ulrike Holzgrabe, Seniorprofessorin am Lehrstuhl  für Pharmazie und Medizinische Chemie an der Uni ...
Gisela Rauch
 |  aktualisiert: 15.07.2024 10:23 Uhr

Die Aussage klingt drastisch: "Um Europa auszuschalten, braucht China keine Atombombe. Das Land braucht nur einfach aufzuhören, Antibiotika zu liefern!" Das sagt Professorin Dr. Ulrike Holzgrabe, Seniorprofessorin am Lehrstuhl für Pharmazie und Medizinische Chemie. Vor Lieferengpässen bei Arzneimitteln warnt die renommierte Wissenschaftlerin, die bis vor kurzem Lehrstuhlinhaberin war und seit Sommer emeritiert ist, schon seit einem Jahrzehnt. 

Frage: Sind aktuell die Lieferengpässe dramatischer als je zuvor?

Professorin Ulrike Holzgrabe: Ja, das muss man so sagen. Die Zahl der Medikamentenengpässe ist im letzten Jahrzehnt immer weiter gewachsen. Wir sind jetzt an dem Punkt angekommen, an dem jeder merkt, was los ist. Es ist keine unerwartete, aber eine gefährliche Entwicklung: Um Europa auszuschalten, braucht China als wichtiger Arzneiproduzent keine Atombombe – dieses Land braucht einfach nur keine Antibiotika zu liefern. Das klingt zwar jetzt sehr provokativ, aber die Situation ist in den letzten Jahren eskaliert. Von Reportern wird das zwar berichtet – aber unsere Politiker haben nichts gemacht.

Was ist die Ursache der massiven Lieferengpässe?

Holzgrabe: Die Ursachen sind vielfältig, aber eine der Ursachen ist die Gier nach günstigen Medikamenten. Noch in den 70-er Jahren war Deutschland sozusagen die 'Apotheke der Welt'; wir haben viele Medikamente im Land produziert. Dann haben wir angefangen, die Herstellung von Wirkstoffen immer billiger haben zu wollen – weil die Krankenkassen größere Rabatte anstrebten. Damit ist die Produktion von Deutschland und Europa nach China und Indien gewandert. Und damit hat sich Deutschland von diesen Ländern abhängig gemacht und kann nur hilflos zusehen, wenn es etwa wegen Lockdowns zu Engpässen kommt.

Aber Fiebersaft fehlt ja aktuell auch – und der Wirkstoff kommt nicht nur aus China.

Holzgrabe: Dieser berühmte Fiebersaft enthält Paracetamol. Paracetamol wird von vier indischen und vier chinesischen Firmen hergestellt, auch von Firmen in Frankreich, den USA und in der Türkei. Wirkstoff gibt es also genug. Wenn jetzt trotzdem Lieferengpässe bei Paracetamolsaft auftreten, dann deshalb, weil in diesem Jahr etwa die große deutsche Pharmafirma 1APharma die Weiterverarbeitung dieses Wirkstoffs zu Saft oder Zäpfchen als nicht rentabel eingestuft hat. Und die Produktion gestoppt hat. Allerdings können Apotheker den Wirkstoff selbst einkaufen, um Paracetamolsaft herzustellen. Das wird auch gemacht.

Über 300 wichtige Medikamente fehlen aktuell in Deutschlands Apotheken. 
Foto: Waltraud Grubitzsch, dpa | Über 300 wichtige Medikamente fehlen aktuell in Deutschlands Apotheken. 
Wie sieht es mit Antibiotika aus?

Holzgrabe: Die Wirkstoffe werden zum Teil noch in Europa hergestellt. Im österreichischen Kundl etwa produziert die Firma Sandoz, nur als Beispiel, das Standardmedikament Amoxicillin, das Kinder etwa bei Lungenentzündungen kriegen. Mit dem russischen Krieg sind aber die Energiekosten für dieses Werk immens gestiegen und die Firma kann diese Kosten nicht mehr selbst tragen. Wenn jetzt das Land Österreich oder auch die EU diese Firma nicht unterstützen, dann wird dieses Werk die Produktion einstellen müssen. Da kann man mit Geld tatsächlich etwas machen; und ich hoffe, da wird auch etwas gemacht.

Bedeuten die aktuellen Engpässe eine Gefahr für Patienten?

Holzgrabe: Viele Medikamente, Blutdrucksenker etwa, kann man ersetzen. Während die Belastung für Apotheker und Ärzte sicher gestiegen ist, besteht bei uns immer noch Therapiesicherheit für die Patienten. In den meisten Fällen jedenfalls: Bei Antibiotika, speziell bei Penicillinen, ist die Lage am unsichersten.

Was müsste passieren, damit Lieferengpässe abflauen?

Holzgrabe: Wir werden das Problem nicht schnell lösen können. Allerdings halte ich die Vorschläge, die SPD-Gesundheitsminister Lauterbach jetzt gemacht hat, für richtig, wenn auch schwer umsetzbar: Man muss mehr Geld für Medikamente ausgeben. Das gilt insbesondere im Generika-Bereich, wo Patente abgelaufen sind und die Preise sehr niedrig sind. Ich stimme Herrn Lauterbach auch insofern zu, als die Rabattverträge der Krankenkasse mit Pharmafirmen aufgeweicht werden müssen. Das System der Rabattverträge an sich muss man überdenken und ändern. Ganz wichtig ist auch, die Produktion in Europa zu befördern, hier Produktionsstätten aufzubauen. Allerdings ist das langwierig, denn diese Produktionsstätten müssen nicht nur errichtet, sondern auch genehmigt werden. Das ist speziell in Deutschland sehr schwierig – eine Sache von Jahren.

Warum geht das nicht schneller?

Holzgrabe: Bleiben wir beim Paracetamol. Wir kaufen Vorprodukte, die über längere Synthesewege aus Erdöl hergestellt werden aus China. Das heißt, selbst wenn wir eine eigene deutsche Produktion aufbauen, sind wir nicht unabhängig von China. Wenn wir aber versuchen würden, die Syntheseschritte zum Vorprodukt von Paracetamol auch in Europa zu machen, hätten wir das Problem, dass diese Schritte umwelttechnisch kritisch sind. Das heißt, viele unserer wichtigsten Medikamente brauchen Produktionsbedingungen, die mit unserer Umweltgesetzgebung nicht mehr vereinbar sind. Entweder muss also für die Produktion unsere Umweltgesetzgebung aufgeweicht werden oder wir machen uns weiter von Ländern wie China abhängig, in denen auf die Umwelt weniger geachtet wird als bei uns.

Ist angesichts der akuten Notlage ein Medikamententausch der Bürger untereinander eine Lösung?

Holzgrabe: Bloß nicht. Einen Medikamenten-Flohmarkt, wie ihn Ärztekammer-Präsident Klaus Reinhardt gerade vorgeschlagen hat, halte ich für nicht praktikabel. Die Vorstellung, dass dann bei sonntäglichen Kaffeekränzchen Medikamente ausgetauscht werden, macht mir wirklich Angst. Denn die Gefahr, dass dann die Dosierungen nicht stimmen oder es zu Unverträglichkeiten kommt, ist einfach zu groß.

Forschungsprojekt: Was kostet die Rückverlegung der Arzneimittel-Produktion in die EU?

Was eine Rückverlegung der Produktion von Arzneimitteln in die EU kosten würde, wird von einer Gruppe Würzburger Professoren untersucht, und zwar im Rahmen des EThICS-EU-Program. Kontakt: kontakt@ethics-eu.de
Das Ziel des EThICS‐EU‐Programms ist die Erforschung und Evaluation von Maßnahmen, die eine Versorgung der europäischen Bevölkerung mit lebenswichtigen Arzneimitteln sichert und globale Abhängigkeiten reduziert. Im Fokus steht dabei eine EU‐zentrierte Aufteilung von Lieferketten, die heute zumeist ihren Ursprung in China haben. Getragen wird das Programm von einer interdisziplinären Forschungsgruppe der Universität Würzburg mit Wissenschaftlern aus der Chemie, Pharmazie und Betriebswirtschaft sowie Experten aus der Praxis.
Die Forschungsgruppe analysiert ausgewählte Lieferketten von der Rohstoffgewinnung über die verschiedenen Produktionsstufen und den Vertrieb, entwickelt alternative Szenarien mit höherer Versorgungssicherheit, quantifiziert die wirtschaftlichen Folgen für die nationalen Gesundheitssysteme und entwickelt Handlungsempfehlungen für politische Entscheidungsträger. In einem ersten Schritt werden die Lieferketten für einige Wirkstoffe analysiert, die für die Bevölkerung besonders wichtig sind, etwa Amoxicillin.
Das Würzburger Forschungsteam besteht aus Professor Richard Pibernik (Leitung), Lehrstuhl für Logistik und quantitative Methoden in der BWL, Professorin Ulrike Holzgrabe, Institut für Pharmazie und Lebensmittelchemie, sowie Professorin Andrea Szczesny, Lehrstuhl für Controlling und Interne Unternehmensrechnung. 
Quelle: Uni Würzburg
 
Themen & Autoren / Autorinnen
Würzburg
Gisela Rauch
Antibiotika
Julius-Maximilians-Universität Würzburg
Klaus Reinhardt
Lieferketten
Professoren
Lädt

Damit Sie Schlagwörter zu "Meine Themen" hinzufügen können, müssen Sie sich anmelden.

Anmelden Jetzt registrieren

Das folgende Schlagwort zu „Meine Themen“ hinzufügen:

Sie haben bereits von 50 Themen gewählt

bearbeiten

Sie folgen diesem Thema bereits.

entfernen
Kommentare
Aktuellste
Älteste
Top
  • 1958kosb
    Nicht nur in Deutschland, auch da:
    https://www.news.com.au/lifestyle/health/health-problems/major-medicine-shortage-flagged-before-christmas/news-story/30ed86b1f980e64ee733f2cf879b8412
    • Bitte melden Sie sich an Gefällt mir () Gefällt mir nicht mehr ()
    • Antworten
  • dietmar@eberth-privat.de
    Warum muss eigentlich immer die Politik einspringen wenn die Wirtschaft Mist baut?
    • Bitte melden Sie sich an Gefällt mir () Gefällt mir nicht mehr ()
    • Antworten
  • Einwohner
    Es ist doch naiv zu glauben, dass wir sowas wieder in Deutschland ansiedeln können. Erstens sind die Kosten hier viel zu hoch, zweitens haben wir Vollbeschäftigung und somit keine Mitarbeiter die es tun könnten. Wäre es nicht eher sinnvoll, solche Fabriken in Südeuropa anzusiedeln? Ob wir Südeuropa über die EU unser Geld so schenken oder von dort Medikamente für ein paar Cent mehr kaufen, dürfte finanziell am Ende egal sein und die Menschen in Südeuropa hätten einen Job und eine Perspektive (siehe heutige Jugendarbeitslosigkeit).
    • Bitte melden Sie sich an Gefällt mir () Gefällt mir nicht mehr ()
    • Antworten
  • Margarete-wuestner@web.de
    Super Bericht, Frau Prof. Dr. Holzgrabe! Leider haben unsere Politiker oft die "Falschen" med. Berater. "Geiz ist geil", Herr Lauterbach und Herr Spahn!
    • Bitte melden Sie sich an Gefällt mir () Gefällt mir nicht mehr ()
    • Antworten
  • robert.erhard@gmx.de
    Das ist doch Käse! Die beiden haben da eigentlich nichts mit zu tun!
    Die Politik muss immer nur einspringen wenn die Kacke am dampfen ist und irgendwem die Kosten davonlaufen und das Defizit wächst!
    Es gibt wohl kein armes Pharmaunternehmen, welches staatliche Hilfe bedarf. Es ist nun mal auch so, dass Deutschland als Forschungsstandort und auch als Produktions Standort im weltweiten Vergleich viel zu teuer ist. Es sind in erster Linie die viel zu hohen Personalkosten, die uns also begibt man sich in die Hände andere. Die diktieren dann Preise, die die Apotheken dann am Ende bezahlen und verlangen. Bedanken Sie sich nicht bei der Politik, sondern zu einem Teil auch bei den Gewerkschaften und vor allem bei Geiz ist geil.
    • Bitte melden Sie sich an Gefällt mir () Gefällt mir nicht mehr ()
    • Antworten
  • schwabayer
    Anscheinend ein rein deutsches Problem. In unseren Nachbarländern oder Südeuropa ist das meiste reichlich vorhanden, wie man zuletzt in den Nachrichtensendungen mehrmals sehen konnte. Zudem sind dort Medikamente oft wesentlich billiger.
    • Bitte melden Sie sich an Gefällt mir () Gefällt mir nicht mehr ()
    • Antworten
  • Mainkommentar
    Eine Lösung wäre, das nur ein Pharmaunternehmen in Deutschland ihre Produkte verkaufen darf, wenn Sie selbst in Deutschland forschen und die Produkte die in Deutschland verkauft werden auch in Deutschland hergestellt werden. Und für Generika sollte gelten, das nur was in Deutschland produziert wird auch hier verkauft werden darf. Dann ist das Problem gelöst.
    • Bitte melden Sie sich an Gefällt mir () Gefällt mir nicht mehr ()
    • Antworten
  • steffen.cyran@freenet.de
    Nein, natürlich wäre das KEINE Lösung.

    Denn das verstieße gegen alle Wettbewerbsregeln der EU.
    • Bitte melden Sie sich an Gefällt mir () Gefällt mir nicht mehr ()
    • Antworten
  • mainpost@swamp.franken.de
    Und wenn sich kein Unternehmen findet, daß zu diesen Konditionen produziert, haben wir nicht nur einen Engpaß, sonder gar nichts.
    • Bitte melden Sie sich an Gefällt mir () Gefällt mir nicht mehr ()
    • Antworten
  • Braun_Matthias@hotmail.com
    Viele verdienen am System der Gewinnmaximierung, Pharmakonzerne, Apotheken... Medikamente billig produzieren und teuer verkaufen hat ja bislang immer gut funktioniert. Das ist in vielen anderen Bereichen auch so. Die Politik hat kein Interesse daran etwas zu ändern.
    • Bitte melden Sie sich an Gefällt mir () Gefällt mir nicht mehr ()
    • Antworten