Die Spültaste drücken und ab in den Orkus - für die allermeisten Menschen dürfte der Gang aufs Klo damit erledigt sein. Dass aber die unflätige Ladung einen wahren Schatz an Informationen repräsentiert, dringt erst nach und nach ins Bewusstsein der Öffentlichkeit. Was alles an Erkenntnissen aus dem Abwasser gewonnen werden könnte, weiß Martin Michel, Geschäftsleiter der Verbandskläranlage des Zweckverbands Abwasserbeseitigung im Raum Ochsenfurt (AVO) in Winterhausen. Er behauptet: "Gib mir dein Abwasser, und ich sage dir, wer du bist."
Erst wenige Wochen ist es her, da wurden die Unterfranken auf ein irritierendes Phänomen aufmerksam gemacht: Im Raum Ochsenfurt, oder, um genau zu sein, in den an die Verbandskläranlage in Winterhausen angeschlossenen Gemeinden, wird überdurchschnittlich viel Amphetamin konsumiert. Ans Licht kam dieser Umstand durch eine Abwasseruntersuchung in acht bayerischen Kommunen. Und kurz vor Weihnachten machte die Nachricht die Runde, dass im Abwasser der Stadt München die Omikron-Variante des Coronavirus schon ab dem 7. Dezember nachweisbar war und damit verbreiteter als zuvor gedacht.
Martin Michel findet solche Nachrichten nicht überraschend. Seit rund 24 Jahren ist der in Berlin studierte Verfahrenstechniker, der in Würzburg im Bereich Biotechnologie promoviert hat, in der Abwasserbeseitigung tätig, die letzten fünf Jahre als Geschäftsleiter der Verbandskläranlage. Wer mit ihm eine Führung durch die Anlage macht, weiß danach deutlich mehr, als dass es dort nicht nach Rosen und Veilchen duftet. Unter Ausnutzung physikalischer Gegebenheiten und mit Hilfe von Mikroorganismen wird aus der schmuddelig-trüben Brühe, die im Zulauf der Kläranlage ankommt, relativ sauberes Wasser gemacht.
"Die Natur ist sehr vielfältig", sagt Martin Michel und erklärt, was er damit meint: Seien sie auch noch so unbekömmlich - für eine Vielzahl von Stoffen finden sich irgendwo spezialisierte Abnehmer in Gestalt von Bakterien, die die Stoffe abbauen können. Das gilt zum Beispiel auch für Rohöl. Andere Substanzen jedoch, wie zum Beispiel im Klärschlamm angereichertes Kupfer oder Dioxin, sind so giftig, dass man den Klärschlamm nur verbrennen kann. Akzeptieren muss die Kläranlage aber zunächst alles.
"Wir müssen nehmen, was kommt", sagt Michel. Und es kommt so manches an in Winterhausen. Auch das, was in einer Kläranlage niemand brauchen kann. Feuchttücher aus Baumwollfasern zum Beispiel, die Martin Michel wie alle anderen mit Abwasserbeseitigung befassten Menschen schier zur Verzweiflung treiben. "Die lösen sich nicht wie Toilettenpapier auf, sondern verdrillen sich und verstopfen die Pumpen", seufzt Michel.
Aber während jeder einzelne Mensch entscheiden kann, ob er so etwas in die Toilette wirft oder nicht, hat er hinsichtlich vieler anderer Stoffe gar keine Wahl. Ob er krank ist oder gesund, ob er Drogen nimmt und wenn ja, welche, ob er raucht, gerne Fleisch isst oder doch lieber Vollkornbrot und vitaminreiche Lebensmittel, ob er Antibiotika nimmt oder andere Medikamente - all diese Informationen gibt zwangsläufig jeder preis, der sich auf die Toilettenschüssel setzt. Denn von allem, was der Mensch durch sich hindurchfiltert, bleibt am Ende etwas übrig. In Japan, weiß Michel zu berichten, sind bereits mit Sensoren ausgestattete Toiletten im Einsatz, die solche Werte beim Einzelnen messen können.
Obgleich sich diese Informationen hierzulande nicht bis zum einzelnen Nutzer zurückverfolgen lassen, kann sich doch auf die gesamte Bevölkerung gesehen ein höchst interessantes Bild ergeben. Die Ernährungsgewohnheiten der Menschen könnten analysiert und Trends abgelesen werden. Wie viel wird geraucht, wie viel Alkohol wird getrunken, haben die Menschen übermäßigen Stress? Denn sogar den verrät das Abwasser anhand der vorhandenen Stoffwechselprodukte. Dazu kommt die breite Palette der Umweltgifte, etwa Weichmacher oder Pestizide.
Die meisten der im Abwasser nachweisbaren Stoffe werden aktuell im täglichen Betrieb einer Kläranlage gar nicht ermittelt, sagt Martin Michel. Aber die Möglichkeit bestünde. Die Anlage in Winterhausen verfügt über ein leistungsfähiges Labor. Auch PCR-Tests von Proben aus der Kläranlage werden vorgenommen, allerdings außer Haus. Üblicherweise dienen diese Tests der Analyse der Bakterienstämme, die in der Kläranlage tätig sind. Denn die winzigen Einzeller sowie andere Mikroorganismen sind in der biologischen Stufe eine tragende Säule bei der Abwasserreinigung, und man möchte wissen, ob auch die richtigen Organismen bei der Arbeit sind. Selbstverständlich könnten aber auch die genetischen Codes aller anderen im Abwasser vorkommenden Lebensformen identifiziert werden.
Zum Beispiel Coronaviren nachzuweisen, wäre überhaupt kein Problem. Man wüsste dann, ob und in welcher Konzentration in der Bevölkerung der angeschlossenen Gemeinden Coronaviren zirkulieren. "Die Frage ist nur: Was fängt man mit dieser Information an?" gibt Michel zu bedenken. Als Frühwarnsystem könnte dieses Wissen durchaus von Nutzen sein. Gleiches wäre auch für andere Krankheitserreger vorstellbar. Wie verbreitet etwa Polio oder Hepatitis in der Bevölkerung wirklich sind, könnte anhand des Abwassers ganz unabhängig von Befragungen oder anderen Erhebungsmethoden objektiv festgestellt werden. Martin Michel glaubt, dass die mit solchen Erkenntnissen verbundenen Fragen in Politik und Wissenschaft am besten aufgehoben wären.
Die Analyse des Abwassers führt aber viel weiter. Denn wenn bekannt ist, welche Erreger oder chemischen Stoffe ins Abwasser gelangen, ist auch klar, dass ein Teil davon unweigerlich in der Umwelt ankommt. Und das hat Folgen. Martin Michel hält etwa das Thema "multiresistente Keime" für eines der drängendsten. Krankheitserreger, gegen die eine Vielzahl von Antibiotika nicht mehr wirken, gelangen über das Abwasser am Ende in Bäche, Flüsse und Seen. Und dort besteht die Möglichkeit, dass Menschen mit ihnen in Berührung kommen.
Die aktuell betriebenen dreistufigen Kläranlagen können diese Keime nicht abfangen. Dazu wäre die viel diskutierte vierte Reinigungsstufe notwendig - für Michel ein wichtiger Baustein der Daseinsvorsorge. Denn die Ausbreitung der unter anderem aus Kliniken, aber auch Privathaushalten und der Tierhaltung stammenden multiresistenten Keime in der Umwelt nicht mit allen Mitteln einzudämmen, hält der Geschäftsleiter für ein Spiel mit dem Feuer.
Digging in the dirt (stochern im Schmutz).
Nachdem das Gesundsheitsamt ja die Kontaktnachverfolgung aus Kapazitätsgründen nicht mehr stemmen kann, wäre es doch klug, die doch sehr aussagekräftigen Zahlen über die Virusverbreitung von den Kläranlagen im Land zu holen.