Victoria Vogt ist ein sehr emotionaler Mensch. Sie kann lachen, dass sich ihre Stimme schier überschlägt. Sie kann aber auch weinen wie ein Schlosshund. Da reicht dann meist schon ein einfühlsamer Song, wie der Klassiker "Sylvia's Mother" von Dr. Hook & the Medicine Show. Aber dass die junge Frau einem das überhaupt erzählen kann, grenzt an ein Wunder.
Denn Victoria Vogt wurde vor 35 Jahren drei Monate zu früh und mit einer starken Hirnblutung geboren. Sie überlebte nur knapp, war blind, kontaktunfähig und hatte keine zehn Prozent der normalen Hirnmasse.
Heute lebt Victoria Vogt, kurz Vicky genannt, trotz ihrer vielfältigen Behinderungen im Würzburger Stadtteil Sanderau in einer studentischen Wohngemeinschaft. Ein Dutzend Assistentinnen und Assistenten kümmern sich rund um die Uhr um sie. Lisa Schopf hat ihr Studium der Kunstpädagogik inzwischen beendet. Bis auf zwei weitere Assistenten studieren alle noch. So können die meisten neben dem Studium nur ein paar Schichten übernehmen.
Schichtdienst in der WG: Mitbewohner könne sich die Miete verdienen
So komme es zu der hohen Zahl von zwölf, erläutert Lisa Schopf, die Vicky seit Beginn des WG-Projekts vor fünf Jahren betreut. Verlässt ein Student oder eine Studentin Würzburg, ist durch Mund-zu-Mund-Propaganda meist schnell ein Nachfolger gefunden. "Wir haben schon lange keine freie Stelle mehr ausschreiben müssen", sagt Lisa Schopf. Auch Victorias beide WG-Mitbewohner würden Schichten übernehmen, die ihnen auf ihre Miete angerechnet würden. Wer viele Nachschichten übernimmt, könne mietfrei wohnen.
Inzwischen kümmert sich Schopf nicht nur um Vicky, sondern auch um die Einsatzpläne und andere Dinge für den Ablauf bei Victoria. Zwar würde die verheiratete Mutter einer Tochter gerne in einem weiteren Beruf als Kunstpädagogin arbeiten, aber nur in Teilzeit, denn Vicky würde sie trotzdem weiter betreuen, so die 30 Jährige. Sie habe zuvor nie mit behinderten Menschen zu tun gehabt, wusste gar nicht, ob sie das könne. Jetzt weiß sie, wie schön und wichtig es ist, Victoria Vogt dabei zu helfen, mitten in der Gesellschaft leben zu können und wie viele schöne gemeinsame Erlebnisse man dabei haben kann.
Finanziert werden die Assistenzen über ein Persönliches Budget, für das Victorias Vater, Wolfgang Vogt, lange ringen musste und immer wieder muss. Zuletzt ging es darum, dass er wenigstens den Mindestlohn für eine Stunde Betreuung zahlen konnte. Fast acht Jahre habe er mit den Behörden gekämpft, damit seine Tochter mittels eines Persönlichen Budgets diese Art von selbstbestimmtem Leben führen könne. Vogt ging bis vor das Sozialgericht - allein dort habe die Familie zwei Jahre auf einen Termin warten müssen, berichtet er. Dann sei alles sehr schnell gegangen.
Fünf Jahre ist das jetzt her, sagt Vogt. Und wenn er sehe, wie unglaublich positiv sich seine Tochter seitdem entwickelt habe, sei klar: Der Kampf habe sich absolut gelohnt.
Museum oder Sauna: Vicky ist am liebsten mittendrin
Zwölf Studentinnen und Studenten - das heißt, zwölf Menschen, die zwölf verschiedene Schwerpunkte und unterschiedlichste Erfahrungen in Victorias Leben bringen. Wie Lisa Schopf, die Kunstpädagogin, die oft mit der 35-Jährigen ins Museum geht. Dabei achte sie darauf, dass die Museen barrierefrei sind, sagt Schopf. Und auch einen Zugang zu den Bildern und Erklärungen in leichter Sprache hätten.
Andere machen mit ihr Musik, malen Bilder oder gehen in die Sauna. "Ich liebe es warm", sagt Victoria Vogt. Meistens halte sie es länger als ihr Assistent aus, ergänzt ihr Vater. Der Begleiter warte dann vor der Saunatür, bis Vicky signalisiere, dass es auch ihr allmählich reiche.
Lucas, der Skater, skatet mit der 35-Jährigen nach Randersacker zum Eisessen. Von Caren lässt sich Victoria gerne und lange Bücher vorlesen. Alle Harry-Potter-Bände haben sie durch - im englischen Original. "Jeder bringt seine eigene Persönlichkeit ein", schildert Wolfgang Vogt. Und bei schönem Wetter gehört ein Spaziergang in die Stadt fast immer zum Tagesablauf. Bei schlechtem Wetter sitzt Victoria Vogt am liebsten vor ihrem Aquarium und schaut den Fischen zu. Sie allein entscheidet, wann sie ins Bett geht, wann sie was isst, welche Ausflüge sie machen.
"Das ist selbstbestimmtes Leben", sagt ihr Vater. Ihn und seine Frau überrasche Victoria jetzt immer wieder mit völlig neuen Redewendungen. Ihr Wortschatz und ihre Interessen hätten sich enorm erweitert. Jahrelang habe er seiner Tochter den Wunsch nach einer Geige ausgeredet, erzählt Vogt. Er habe sich einfach nicht vorstellen können, dass sie mit ihren Beeinträchtigungen mit einem solchen Instrument überhaupt etwas anfangen könne.
"Dann haben alle Assistenten zusammengelegt und Vicky eine zum Geburtstag geschenkt." Für ihn sei es schon etwas beschämend gewesen, wie Victoria das Instrument gleich richtig anlegte und der Geige einige Töne entlockte. Ihre jetzige Lebensform sei für sie die beste Therapie. Nur Physiotherapie mache die 35-Jährige noch.
Wie Victoria Vogt ihre Ketten durchbrochen hat
Bis das Persönliche Budget genehmigt und die Wohnung gefunden war, lebte Victoria unter der Woche in einer Wohngruppe im Würzburger Blindeninstitut. Wohl habe sich Victoria dort nicht gefühlt, berichtet ihr Vater. Ungern sei sie nach dem Wochenende daheim wieder dorthin zurück. Schon allein die Lage auf dem Berg, in einem Stadtteil weit von der Würzburger Innenstadt, sei schwierig, sagt Vogt.
Wie soll ein Rollstuhlfahrer in die Stadt kommen, wie am gesellschaftlichen Leben teilhaben? Zudem gebe es in einer solchen Einrichtung feste Zeiten, die sich nach den Schichten der Mitarbeiter richten würden. Ob Sommer, ob Winter, auch als Erwachsene habe Victoria stets um halb neun Uhr ins Bett gemusst, weil danach kein Personal mehr zur Verfügung gestanden hätte, sie bettfertig zu machen. Nur noch eine Person sei dann für die Nachtbereitschaft für 32 Bewohner da.
"Ich habe meine Ketten durchbrochen, ich muss da nicht mehr hin", unterbricht Victoria Vogt ihren Vater und zitiert einen ihrer Lieblingssongs: "I want to break free", von der Rockband Queen.
Überhaupt ist die 35-jährige Würzburgerin ein großer Rock-Fan. Carlos Santana ist ihr Lieblings-Musiker, den sie so gerne einmal persönlich treffen würde. Bei Status Quo gelang es ihr schon einmal einen Backstage-Besuch zu bekommen. Und beim großen Petö-Weltkongress, dem Kongress für konduktive Therapien zur Kompensation von Hirnschädigungen, durfte sie auf der Bühne auf einem Keyboard "Wind of Change" anstimmen. Da flossen nicht nur bei ihrer Mutter einige Tränchen.
Ihr größter Wunsch aber sei es, einmal in einem Kinofilm mitzuspielen, sagt die 35-Jährige. Einmal selbst auf der großen Leinwand sein, die sie so liebt. Immerhin "bekannter als ich ist sie in Würzburg schon", sagt Wolfgang Vogt, der aus den Erfahrungen mit seiner Tochter den Verein "Assiston e.V." gegründet hat, der in Würzburg auch eine "Ergänzende Unabhängige Teilhabe-Beratung“ (EUTB) anbietet, und der Vorsitzender des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes Unterfranken ist. Victorias Mutter Gretel Vogt betreibt in Würzburg das barrierefreie "Petit Café".
Persönliches Budget macht Menschen mit Behinderung zu Arbeitgebern
Vor Kurzem bekam Victoria Vogt Besuch von der Landtagsabgeordneten der Grünen, Kerstin Celina, die sich im Bayerischen Landtag für die Rechte von Menschen mit Beeinträchtigungen engagiert. Einen Tag lang begleitete sie Victoria und ihre Assistenten - begeistert von dieser Art der Inklusion, die nicht genügend ausgeschöpft werde, wie sie sagt.
Es sei aber auch schwierig und aufwändig mit einem Persönlichen Budget als Arbeitgeber aufzutreten und alles bis hin zu Lohnbuchhaltung zu organisieren, sagt Wolfgang Vogt. Ein Mensch mit Behinderung könne das alleine kaum schaffen. Gerne würde er hier Hilfsangebote auf die Beine stellen, wie es sie in anderen Bundesländern längst gebe. In Bayern aber gebe es hier noch große Widerstände seitens der Bezirke.
Und dann wird Victoria Vogt, die so gerne und laut lachen kann, ganz ruhig. Die Frage, was sie gar nicht mag, beantwortet sie mit "meine Wut". Gemeint ist die Wut und die Traurigkeit, die sie immer mal wieder befällt, wenn sie reflektiert, ein Mensch mit Behinderung zu sein. "Warum ich?", fragt sie dann leise.
https://www.gll-muenchen.de/
Ein tolles Projekt, das noch viel zu wenige Nachahmer in anderem Städten hat.
Die Menschen der Allgemeinheit sollte man auch bedenken, 38-40 Stunden Woche, danach nur noch Pflicht, der Alltag geht vor 19 Uhr zu ende weil die Personen nicht mehr können.
Die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ist für alle da, Frieden , Freiheit, Demokratie gehört für alle Menschen dazu.
Viele der hier involvierten Studenten würden ohne die Zusammenarbeit mit Frau Vogt vlt. nie mit Menschen mit Behinderungen in Berührung kommen. Solche Erfahrungen sind aber sicher mit Grundlage für funktionierende Inklusion.
Erschreckend finde ich, dass die Hürden hier so hoch zu liegen scheinen. Hätte Frau Vogt andere Eltern, wäre sie heute nicht an diesem Punkt. Das ist fürchterlich, sollte doch für jeden gelten, dass er ungeachtet seiner Familie bzw. eines funktionierenden sozialen Netzwerks zu seinem Recht kommt - egal, ob behindert oder nicht. Aber mir ist bewusst, dass das Wunschdenken meinerseits ist... 2/2
Das Budget soll den individuell festgestellten Bedarf eines behinderten Menschen decken. Bei Untersuchungen lag das kleinste Budget bei 36 Euro und das höchste bei 12.683 Euro. Die Mehrheit der bewilligten Budgetsummen lag zwischen 200 Euro und 800 Euro im Monat. Mehr Geld als bisher sollte aber niemand erwarten: Das Persönliche Budget soll die Höhe der Kosten aller bisher individuell festgestellten Leistungen nicht überschreiten. Dabei sind möglicherweise notwendige Aufwendungen für Beratung und Unterstützung schon einbezogen.
Quelle: https://www.bmas.de/DE/Soziales/Teilhabe-und-Inklusion/Persoenliches-Budget/Fragen-und-Antworten/faq-persoenliches-budget.html
Soll anscheinend ja kostenneutral umgesetzt werden bzw. sein.
Bei solchen Artikeln gleich mit der Kostenfrage zu kommen, finde ich komisch. Was soll man denn mit Betroffenen machen? Sie ins stille Kammerleine zwingen und sich selbst überlassen? 1/2
Mehr Win- Win geht ja fast gar nicht
Ich lebe gerne in so einem Land, und versuche meinen Beitrag zu leisten, oder haben sie bessere Vorschläge Menschen mit Handicap das Leben lebenswerter zu machen?
Weil wenn sie das wirklich nicht wissen…, oje