
Die Universität Würzburg, sagt Dino Capovilla, habe beim Thema Inklusion eine „beachtliche Strahlkraft, die weit über Bayern hinausreicht“. Überhaupt sei Würzburg mit der Blindeninstitutsstiftung, dem Berufsförderungswerk oder auch der Johann Wilhelm Klein-Akademie schon jetzt ein wichtiges Zentrum der Pädagogik bei Sehbeeinträchtigungen im deutschsprachigen Raum. Für den Lehrstuhl, den er jetzt aufbaut, also: „ein idealer Standort“.
Dino Capovilla weiß, wovon er spricht. Seit seiner Geburt ist er erblich bedingt hochgradig sehbehindert. Stark herabgesetzte Sehschärfe, begrenztes Farbensehen, stark eingeschränktes Bewegungssehen, dazu hohe Blendempfindlichkeit – im Alltag und beruflich nutzt Capovilla deshalb diverse vergrößernde Sehhilfen, die Brailleschrift und die Sprachausgabe am Computer. Und im Straßenverkehr, sagt der 41-Jährige, „bin ich in der Regel mit einem weißen Stock unterwegs“.
Jetzt kommt der gebürtige Stuttgarter von der Humboldt-Universität Berlin nach Würzburg: Ab Oktober leitet er hier den neuen Lehrstuhl für Pädagogik bei Sehbeeinträchtigungen. Vor zwei Jahren hatte der Freistaat angekündigt, den Bereich Sonderpädagogik an den Universitäten auszubauen. Im Zuge der Inklusion werden immer öfter Kinder und Jugendliche mit und ohne besonderen Förderbedarf gemeinsam unterrichtet. Doch dafür braucht es deutlich mehr Lehrkräfte, die sonderpädagogisch ausgebildet sind. Die neue Würzburger Professur für Sehbeeinträchtigungen ist in Bayern einmalig, bundesweit gibt es sie laut Mitteilung der Universität an nur fünf Standorten überhaupt.
„Mir geht es darum, dass ein zeitgemäßes und von Selbstbestimmung geprägtes Bild behinderter Menschen aufgegriffen und im Beruf gewohnheitsmäßig verankert wird“, sagt Capovilla. An der Uni wird der studierte Informatiker dafür ein Team aufbauen, das einschlägige Handlungskonzepte entwickelt und verbessert. Den Studenten soll der Lehrstuhl neue Berufsfelder eröffnen: Als Fachleute mit dem Profil „Pädagogik bei Sehbeeinträchtigungen“ können sie später in spezifischen Förderschulen oder an allgemeinen Schulen unterrichten oder in anderen pädagogischen Bereichen arbeiten. „Das Berufsbild von Inklusionslehrkräften erweitert sich hin zu Beratungslehrkräften, die auch mobil in Regelschulen beraten“, sagt Capovilla, der viele Jahre selbst an Schulen in Bozen Mathematik und Informatik unterrichtete. An den Hochschulen setze man bislang oft noch zu stark auf die Ausbildung „klassischer“ Lehrkräfte.
Der neue Studiengang soll das ändern – zum Wintersemester 2021/22 soll er an den Start gehen. Capovilla setzt mit einem Alleinstellungsmerkmal in Deutschland auf technologiegestützte Kommunikation bei Sehbeeinträchtigungen. Bei ihm lernen die Studenten, wie sie sehbehinderte Schüler beim Nutzen von Computern, Tablets und Smartphones bestmöglich unterstützen.
Vor allem will der Sonderpädagoge die digitale Lehre vorantreiben und seinen Lehrstuhl komplett papierfrei organisieren. Nicht nur der Barrierefreiheit wegen, auch für ökologische Nachhaltigkeit. „Es war immer ein enormer Aufwand, die universitären Papierunterlagen zu digitalisieren“, sagt Capovilla. Durch Corona sei da plötzlich einiges leichter geworden.
Wichtig ist ihm der Aspekt Selbstbestimmung. Noch vor gut zehn Jahren sei über Menschen mit Behinderungen vorwiegend bestimmt worden: „Ein Netz von Einrichtungen und Akteuren versuchte, individuelle Probleme zu lösen und dadurch den Bedürfnissen der Betroffenen gerecht zu werden.“ Heute stünden Menschen mit Behinderung zunehmend als selbstbestimmte Individuen im Mittelpunkt. „Die Betroffenen sollen soweit möglich selbst entscheiden, wie ihre gesellschaftliche Teilhabe aussieht. Das wird nicht mehr von anderen ausgehandelt. Das empfinde ich als sehr wohltuend.“
Capovillas Familie war in den 1980er Jahren nach Bozen in Italien gezogen, um ihm den Besuch einer inklusiven Schule zu ermöglichen. In Deutschland, sagt Capovilla, habe es das damals kaum gegeben.