Die eigenen vier Wände sind ein elementares Bedürfnis - auch für behinderte Mitmenschen. 2006 wurde dies offiziell in der UN-Behindertenrechtskonvention festgeschrieben, der 2009 auch die Bundesrepublik beigetreten ist. Damit verpflichtete sich Deutschland zu gewährleisten, dass auch behinderte Menschen eine Wahlfreiheit haben, wo und mit wem sie zusammenleben wollen und nicht in besonderen Wohnformen leben müssen. Entsprechend wurden die Sozialgesetze geändert. Es gilt seitdem das Prinzip, dass ambulante Hilfen stationären vorzuziehen seien. Doch inwieweit ist das im wirklichen Leben angekommen?
Immerhin 42 Prozent der volljährigen, körperlich, geistig oder seelisch behinderten Menschen in Unterfranken werden in einer Pflegefamilie oder Wohngemeinschaft ambulant betreut. Damit liegt die Region über dem bayerischen Durchschnitt. Fast 58 Prozent leben in Einrichtungen oder Heimen. Das sind in absoluten Zahlen über 2600 Menschen.
200 000 Betroffene werden in Deutschland ambulant betreut
Doch auch das bundesweite Schlusslicht liegt im Freistaat: in der Oberpfalz werden nur 28 Prozent der Betroffenen ambulant betreut. Deutschlandweit leben über 50 Prozent außerhalb von großen Einrichtungen. Spitzenreiter sind Berlin (71 Prozent), Hamburg (68 Prozent), Nordrhein-Westfalen (61 Prozent) und Hessen (55 Prozent). Bundesweit leben somit rund 200 000 der betroffenen Menschen in ambulant betreuten Wohnformen, aber fast ebenso viele in stationären Einrichtungen.
Es fehlt vor allem am Geld, sagt die Vorsitzende der Lebenshilfe und ehemalige Sozialministerin in Bayern, Barbara Stamm (CSU). Denn inklusives Wohnen sei wesentlich teurer als ein Wohnheim. 2018 hat eine ihrer Nachfolgerinnen, Kerstin Schreyer (CSU), deshalb 400 Millionen Euro versprochen. Das Geld sollte über einen Zeitraum von 20 Jahren investiert werden, um die Umwandlung von großen komplexen Einrichtungen in kleine inklusive Wohneinheiten zu fördern.
Freistaat will "Konversion mit Augenmaß"
Doch die unterfränkische Landtagsabgeordnete Kerstin Celina (Grüne) kritisiert, dass die Staatsregierung das Projekt nur halbherzig angehe: weder seien die entsprechenden Mittel im Haushalt eingeplant worden, noch gebe es eine Förderrichtlinie. Zudem würden Menschen mit psychischen Behinderungen überhaupt nicht berücksichtigt.
Die Landtagsfraktion der Grünen fordert zudem eine Fachstelle für die Umwandlung und Dezentralisierung der großen Einrichtungen und eine deutliche Mittelaufstockung. Nach Einschätzung der bayerischen Wohlfahrtsverbände würde die Umwandlung der großen Einrichtungen in kleinere Einheiten das Dreifache der veranschlagten 400 Millionen Euro kosten. Doch alle Anträge der Grünen-Landtagsfraktion wurden von der Regierungsmehrheit abgelehnt.
Die bayerische Sozialministerin Carolina Trautner (CSU) antwortet auf Nachfrage dieser Redaktion, dass die Schaffung von inklusivem Wohnraum für sie ein "Herzensanliegen" sei. Trautner fügt jedoch hinzu: "Auch für die Zukunft gilt, dass sowohl Komplexeinrichtungen als auch kleinteilige regionale Wohnangebote gleichberechtigt nebeneinander bestehen. Wir beabsichtigen mit dem Sonderinvestitionsprogramm eine Konversion mit Augenmaß, in der die Verbesserung der Wohnsituation von Menschen mit Behinderung oberste Priorität hat.“
Desweiteren teilt das Sozialministerium mit, dass 2019 und 2020 insgesamt 240 Wohnplätze aus Komplexeinrichtungen dezentralisiert worden seien. Und auch 2021 könnten - wie schon im Jahr 2020 - Projekte in Höhe von 20 Millionen Euro bewilligt werden. Es sei aber nicht Ziel des Sonderinvestitionsprogramms, Komplexeinrichtungen vollständig aufzulösen. Eine Förderrichtlinie sei unter Einbeziehung aller Beteiligten erarbeitet worden und befinde sich derzeit in der finalen Abstimmung.
Verein kritisiert anhaltende Ausgrenzung
Der Verein "Selbstbestimmt Leben Würzburg" (WüSL) kritisiert die anhaltenden Ausgrenzungen von Menschen mit Behinderungen in Unterfranken. Er macht dies unter anderem an der Benachteiligung ambulanter Unterstützungsleistungen gegenüber stationären Angeboten fest. Zudem fehle barrierefreier Wohnraum gerade in Würzburg.
Mit Sorge nehme der Verein zur Kenntnis, dass der Ausbau stationärer Wohneinrichtungen ungebremst weiterbetrieben werde, so aktuell mit einem Neubau einer Behinderteneinrichtung neben dem Körperbehindertenzentrum am Stadtrand von Würzburg. Ulrich Lorey, Vorstandsmitglied von WüSL sagt: "Diese fortgesetzte Ghettoisierung ist das Gegenteil eines Lebens mittendrin und von Ansätzen inklusiver Wohnformen."
Die UN-Behindertenrechtskonvention und die Vorgaben des Bundesteilhabegesetzes seien die Grundlagen dafür, dass sogenannte Komplexeinrichtungen aufgelöst und kleinere Wohneinheiten errichtet würden, teilt die Pressestelle des Bezirks Unterfranken auf Nachfrage mit.
Ein Beispiel für eine solche Dezentralisierung sei die Konversion der ehemaligen Komplexeinrichtung Schloss Ditterswind in Maroldsweisach (Lkr. Haßberge) in neue, kleinere Gebäudekomplexe. Bezirkspressesprecher Moritz Mauritz sagt: "Es wird aber auch künftig Menschen mit Behinderung geben, die eine engmaschige Betreuung und Versorgung benötigen, sodass ein völliger Verzicht auf Einrichtungen wie zum Beispiel das St. Josefs-Stift aus heutiger Sicht nicht möglich erscheint."
Barbara Stamm spricht von einer "Herkulesaufgabe"
Zudem würden persönliche Assistenzkräfte im ambulanten Bereich nicht schlechter gestellt als das Fachpersonal in den übrigen Einrichtungen der Behindertenhilfe, so Bezirkssprecher Mauritz auf Nachfrage. Es würden die gleichen tariflichen Eingruppierungsregeln abhängig von der Qualifikation der Assistenzkräfte gelten.
Die großen komplexen Einrichtungen in kleinere und inklusive Einheiten aufzuteilen, sei noch ein weiter Weg, den Bayern bis jetzt höchstens zu einem Drittel geschafft habe, sagt Barbara Stamm. Der Freistaat sei dabei, die großen Einheiten in kleinere umzubauen, "aber das ist eine Herkulesaufgabe". Es gebe zwar die gesetzliche Wahlfreiheit, aber letztlich scheitere es doch sehr oft daran, dass die Kostenträger die tatsächlich nötigen Aufwendungen nicht anerkennen würden.
Wichtig sei auch die Durchmischung von Menschen mit und ohne Handicap, sagt Stamm. Vor allem junge Menschen seien zu solchen Wohnformen bereit. Am Ende sei dies aber immer auch eine Kostenfrage.
Verwendung der Bezeichnung "Menschen mit Behinderung" MmB durchzuziehen. Vielen Dank