Ein August-Vormittag auf dem "Judenhügel" bei Kleinbardorf im unterfränkischen Grabfeld. Rund 3100 historische Grabsteine umfasst der - abgesehen von München - größte jüdische Friedhof in ganz Bayern. Trotz der über 21 Hektar Fläche ein Kleinod mitten im Wald.
Riccardo Altieri und Marian Fritsch vom Johanna-Stahl-Zentrum in Würzburg, das seit 1987 die jüdische Geschichte und Kultur in Unterfranken erforscht, sind hier unterwegs, um Gräber und Inschriften zu dokumentieren.
Seit dem 16. Jahrhundert haben jüdische Familien aus der nahen und weiteren Umgebung bis nach Thüringen in Kleinbardorf ihre Toten beerdigt. Jakob Fleischhacker, ein Kaufmann aus dem nahen Dorf, war 1938 der letzte Tote, der hier seine ewige Ruhe fand.
Rund 30.000 Gräber befinden sich auf den jüdischen Friedhöfen in Unterfranken
Die meist hebräischen Inschriften auf den Grabsteinen erzählen Lebensgeschichten von jüdischen Menschen, die den Alltag in vielen Dörfern der Region geprägt haben wie ihre christlichen Nachbarn. "Jüdinnen und Juden waren keine Exoten, sie gehörten einfach dazu", sagt Altieri. In Kleinbardorf, heute ein Ortsteil von Sulzfeld (Lkr. Rhön-Grabfeld), lebten zu Beginn des 19. Jahrhundert 85 Juden, was gut einem Drittel der Dorfbevölkerung entsprach.
Rund 80.000 Gräber hat man auf den über 120 Friedhöfen im Freistaat gezählt. Allein 30.000 befinden sich auf den 45 Friedhöfen in Unterfranken. Mancherorts haben ehrenamtliche Initiativen begonnen, die Grabmäler abzufotografieren.
Die Dokumentation von Kleinbardorf indes ist allein wegen der großen Menge eine besondere Herausforderung, sagt Altieri. "Die Erfassung der Steine wird zum Wettlauf mit der Zeit." Denn wenn die Texte auf den Gräbern verwittert und nicht mehr lesbar sind, ist der Verlust groß.
Uni Bamberg bietet "Grabstein-Sprechstunden" für Ehrenamtliche an
Sind die Friedhöfe erst einmal dokumentiert, steht die Entschlüsselung der Inschriften an. Dank der Fotos könnten diese aber auch in einigen Jahren noch gelesen, übersetzt und ausgewertet werden.
Ehrenamtliche Heimatpfleger, die beim Enträtseln der steinernen Dokumente helfen, können Grundkenntnisse dafür bei sogenannten "Grabstein-Sprechstunden" am Institut für Judaistik der Uni Bamberg erwerben – und so die "Profis" beim Erforschen lokaler Geschichten unterstützen.
In Kleinbardorf gibt es einzelne Grabsteine, die als Symbol zwei Hände eingraviert haben, bei denen Mittel- und Ringfinger gespreizt sind. "Kennen Sie den Vulkanier-Gruß aus 'Raumschiff Enterprise'?", fragt Ricardo Altieri und lacht. Der jüdische Autor der Weltraum-Serie habe sich bei Mister Spocks legendärem Gruß durch jüdische Symbolik inspirieren lassen.
Die Hände mit den gespreizten Fingern zeigten, dass der Verstorbene aus dem Geschlecht eines antiken Priesters, "eines Cohen" stammt, erläutert der Experte. "Cohen, Coen, auch Kohn oder Kahn sind Familiennamen, die auf diese Herkunft hindeuten."
Ein paar Meter weiter kniet Marian Fritsch vor einem kleinen Grabstein. Der 34-Jährige gibt die Inschrift wieder: "Miriam, Tochter von Simcha". Es handelt sich um ein Kindergrab von 1817, Nachnamen gab es damals noch nicht in jüdischen Familien. Das Mädchen habe im über 20 Kilometer entfernten Unsleben gelebt, erläutert Fritsch weiter. "Juden auf dem Land haben oft weite Wege auf sich nehmen müssen, um ihre Toten zu begraben."
Jüdinnen und Juden aus der ganzen Welt suchen in Unterfranken nach ihren Wurzeln
Der Historiker Altieri und der Judaist Fritsch sind mit viel Herzblut der jüdischen Geschichte in Unterfranken auf der Spur. Der 37-jährige Altieri hat 2016 als Praktikant beim Johanna-Stahl-Zentrum in Würzburg begonnen. Er war Volontär und Sachbearbeiter, bevor er 2022 als Nachfolger von Rotraud Ries die Leitung übernahm.
Die Forschungseinrichtung, die seit 2011 den Namen der von den Nazis ermordeten jüdischen Würzburger Journalistin und Frauenrechtlerin Johanna "Henny" Stahl (1895-1943) trägt, wird gemeinsam vom Bezirk Unterfranken und der Stadt Würzburg finanziert. Kooperationspartner ist die Jüdische Gemeinde, in deren Räumen im "Shalom Europa" das Johanna-Stahl-Zentrum mit seiner Bibliothek und seinem Archiv untergebracht ist.
Das jüdisch-kulturelle Erbe der Region zu sichern, weiterzuerforschen und vor allem auch in Publikationen, Ausstellungen und Verträgen einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen, haben sich Altieri und Fritsch zur Aufgabe gemacht.
Außerdem betreuen sie Anfragen von Menschen jüdischer Herkunft, unter anderem aus Israel und den USA, die auf der Suche nach ihren familiären Wurzeln in Unterfranken sind. "Hier mithelfen zu können, motiviert jeden Tag neu", sagt Riccardo Altieri und richtet seine Kamera auf den nächsten Grabstein.
Durch den jüdischen Friedhof in Kleinbardorf führt ein öffentlicher Wanderweg. Anders als viele andere Judenfriedhöfe ist dieser also jederzeit ohne vorherige Anmeldung begehbar.