Es war ein Tag Ende Juni vergangenen Jahres, als der 13-jährige Stas um ein Haar sein junges Leben verloren hätte. Die Region Charkiw lag unter russischem Beschuss, und diesmal traf es auch Hruschuwacha, auf halber Strecke gelegen zwischen Charkiw und Luhansk, ein 860-Seelen-Dorf, der Heimatort von Stas. Er war zu Hause gewesen, als um ihn herum die Hölle losbrach und die Decke über ihm einstürzte.
Gemeinsam mit Helfern zog ihn sein Vater schwer verletzt aus den Trümmern. Stas hatte Verletzungen im Gesicht, im Schädel klaffte ein acht Zentimeter großes Loch. Neun Tage lag er im Koma und mehrere Wochen auf der Intensivstation in Charkiw. Dann wurde Stas ins Nationale Rehabilitationszentrum Unbroken überstellt. Das Zentrum ist im Klinikum von Würzburgs Partnerstadt Lwiw angesiedelt, bei Unbroken werden seit einem Jahr Militärangehörige und Zivilpersonen behandelt, die durch den Krieg schwere Verletzungen davongetragen haben. Hier würden sie sich nun auch um den 13-Jährigen kümmern.
Die verletzten und verstümmelten Kinder erschüttern am meisten
Die Behandlung von Kindern wie Stas zu organisieren, von verstümmelten Soldaten und Zivilisten, das ist die Aufgabe von Oleh Samchuk und seinem Team. Der 37-Jährige ist Generaldirektor des Klinikums und so etwas wie die Verkörperung eines Chefs: energisches Auftreten, feste Stimme, klare Botschaften. Schon vor dem Krieg war das Krankenhaus von Lwiw mit seinen derzeit rund 4300 Angestellten das größte der Ukraine, das noch junge Unbroken-Zentrum ist inzwischen die Hoffnung für alle ukrainischen Schwerverletzten des Krieges.
Samchuk, dem man im Deutschen vielleicht das Etikett "harter Hund" anheften würde, nimmt die energische Stimme zurück, wenn er von Patienten spricht, die in diesem Krieg nichts gewinnen können, von Patienten wie Stas. "Als die ersten Kinder hier ankamen, war das für uns der größte Schock. Es sind Kinder, die von Explosionen verletzt wurden. Sie kommen zu uns ohne Beine, ohne Arme. Verletzte Lungen, Nieren, Leber. Ein Geschoss unterscheidet nicht zwischen einem Kind und einem Erwachsenen. Es ist schon traurig, einen Erwachsenen ohne Beine oder ohne Arme zu sehen, aber wenn man Kinder so sieht, erlebt man das noch einmal komplett anders."
Rund 400 Kinder, mehr als doppelt so viele wie vor Kriegsbeginn, werden derzeit in Lwiw behandelt, nicht alle sind unmittelbare Kriegsopfer. Aber weil in den Kampfgebieten viele Krankenhäuser zerstört oder beschädigt sind, hoffen die Eltern der jungen Patienten auf Hilfe im Klinikum von Oleh Samchuk – und nicht nur sie. "In der Ost- und Mittelukraine findet gerade kaum medizinische Versorgung statt, die Patienten kommen daher zu uns in den Westen. Wir sind komplett überlastet und haben fünf bis sechs Patienten in einem Zimmer. Die ganze Ukraine ist hierhergekommen", sagt Samchuk und nennt Zahlen: Allein 2022, im ersten Kriegsjahr, wurden 500.000 Patienten behandelt. 56.000 Operationen führten die Ärztinnen und Ärzte durch – vor dem Krieg waren es 12.000.
Und natürlich sind es neben Zivilisten vor allem die Soldaten, die im Unbroken mit schweren Verletzungen ankommen. Junge Männer mit Bein- und Armstümpfen, mit Splitter- und anderen Verletzungen bestimmen das Bild auf den Fluren des Reha-Zentrums. Sie sind mit dem Leben davongekommen – aber ist das überhaupt noch ein Leben?
Eine bionische Hand für den 23-jährigen Serhii
Bei Unbroken erzählen sie die Geschichte von Serhii Kostiuchenko, schmal und hochgewachsen, 23 Jahre alt, mit dem Gesicht eines Jungen. Im Kampf verlor er seinen rechten Arm – und mit ihm seinen Glauben an eine Zukunft mit seiner Freundin, sie heißt Julia. Serhii wollte ihr das Leben mit einem Kriegsversehrten nicht zumuten, er wollte sie verlassen. Doch sie hielt zu ihm.
In Lwiw machten die Ärzte sein Schicksal zu ihrem eigenen. Serhii war einer der ersten, dem sie eine bionische Hand-Prothese machen ließen, ein Hightech-Gerät des deutschen Herstellers Ottobock, mit dem man beinahe wie mit einer echten Hand zufassen kann. Freiwillige hatten dafür 20.000 Euro gesammelt. Von Serhiis Geschichte gibt es inzwischen mehrere Videos, eines zeigt, wie er mit der neuen Hand seiner Julia einen Ring auf den Finger steckt.
Angepasst hat ihm die Prothese Nazar Bahniuk. Die Werkstatt des 40-jährigen Orthopädietechnikers steht in einem Hof des Unbroken-Zentrums, es ist ein Container mit zwei Arbeitsplätzen. Wie lange es dauert, bis eine normale Prothese fertig ist? Das hänge von verschiedenen Faktoren ab, vom Grad der Amputation und dem Gesamtzustand der Patienten. Von einem Tag bis zu einem Monat sei alles möglich. "Prothesen für Arme sind schwieriger zu machen als für Beine", sagt Bahniuk.
Es sind Beispiele wie das von Serhii, aus denen sie bei Unbroken Kraft ziehen. Aber Oleh Samchuk weiß auch, dass ein langer Atem vonnöten ist: "Unser Hauptziel ist es, jeden einzelnen Kriegsgeschädigten zu heilen. Das kann bis zu 20 Jahre dauern, die Menschen brauchen ja nicht nur die akute Behandlung." Denn der Krieg verletzt nicht nur mit Raketen und Granaten. "Wir haben deutlich mehr Herzinfarkte und Schlaganfälle zu verzeichnen", sagt Samchuk.
Dazu kommen die psychischen Belastungen, sie sprechen auch aus den Bildern, die an den Kellerwänden des Krankenhauses hängen. Bilder von Kriegsopfern, die keine Erklärung brauchen: Kinder in Rollstühlen mit amputierten Gliedmaßen, Verletzte mit schmerzverzerrtem Gesicht. Ein Bild zeigt eine junge Frau, die zur Seite blickt. Daneben ein weiteres Bild, es ist leer. "Diese Frau war schwanger", sagt Unbroken-Pressesprecherin Solomiya Yakubechko, "sie hat bei einem Angriff ihr Kind verloren."
Schutzraum bei Luftangriffen: Eine zweite Klinik unter der Klinik
Der Keller mit den vielen Bildern ist der Schutzraum bei Luftangriffen, eine Art Klinik unter der Klinik. "Ausgestattet mit Sauerstoff, Wasserversorgung und Generatoren", sagt Oleh Samchuk und führt durch einen Raum voller vorbereiteter Betten, an der Seite zeigt er auf einen kompletten OP-Saal unter der Erde.
Unbroken hat inzwischen Kontakt zu Ärzten aus aller Welt. In der Extremsituation des Krieges im eigenen Land will man hier mit internationaler Unterstützung Erfahrungen sammeln – und sie später weitergeben, wenn anderswo Hilfe gebraucht wird, sei es bei Kriegen, sei es bei Naturkatastrophen. "Wir setzen viel auf die Ausbildung unserer Ärzte in Europa und den Austausch von Wissen", sagt Samchuks Kollege, Klinik-Direktor Yulian Holyk. "Heute helfen Sie uns, und morgen erhalten Sie vielleicht von uns Hilfe."
Im April soll ein Erweiterungsbau des Unbroken-Zentrums in Betrieb gehen
Im Moment richtet man bei Unbroken den Blick auf einen Neubau, der fast fertig ist und im April in Betrieb gehen soll. Auf sieben Stockwerken und 4000 Quadratmetern soll dort künftig bis zu 10.000 Menschen im Jahr geholfen werden, den Weg zurück ins Leben zu finden. Eine Großinvestition, in die auch die 200.000 Euro Soforthilfe geflossen sind, die die Stadt Würzburg im vergangenen Jahr nach Lwiw überwiesen hat.
Stas, der Junge aus dem kleinen Dorf Hruschuwacha, hat inzwischen das Schlimmste überstanden. Gemeinsam mit amerikanischen Kollegen haben ihm die Unbroken-Ärzte eine spezielle Platte in den Schädel eingesetzt und sich bemüht, die Narben im Gesicht so gering wie möglich zu halten. Nun gilt es abzuwarten, wie die Genesung voranschreitet.
Draußen, an der Fassade des Krankenhauses, prangt ein buntes Bild. Es zeigt ein Mädchen, das einen Drachen steigen lässt, und einen Jungen, der einen Schriftzug an die Wand malt. Darüber ist eine Ärztin zu sehen, mit ihren Händen formt sie ein Herz. Das Wort, das der Junge malt, ist "dakuju". Es heißt danke.
Weitere Infos zu Unbroken und Möglichkeiten zu helfen unter https://unbroken.org.ua.