
Eine ganz besondere Recherche sei das gewesen, sagt Ingrid Sontag. Ein Glücksfall. Am kommenden Mittwoch, 17. April, steht in Würzburg an acht Orten in der Stadt die nächste Stolperstein-Verlegung an. Elf Steine sind es dieses Mal, die künftig erinnern sollen an das Leben jüdischer Menschen, die von den Nazis ermordet worden sind. Und einer dieser Gedenksteine wird für Johannette Frank, geborene Loeb, sein.
Was sie bei ihren Nachforschungen zu Johannette Frank erlebte – Ingrid Sontag bezeichnet es als einzigartig. Als Ausnahme. Seit zehn Jahren engagieren sie und Elke Wagner, beide pensionierte Lehrerinnen, sich ehrenamtlich im Würzburger Arbeitskreis Stolpersteine und recherchieren das Leben von Holocaust-Opfern. Sie wählen die ermordeten jüdischen Männer und Frauen aus, prüfen die Deportationslisten oder die Anfragen von Nachkommen und verfassen kurze Biografien.
Und in Ausnahmefällen erhalten sie bei ihrer Suche unerwartet einen umfassenden Einblick in eine Familiengeschichte. Wie jetzt, bei Johannette Frank.
Denn bei ihren Nachforschungen erhielt Ingrid Sontag aus den USA von der Urenkelin Norma Moruzzi unveröffentlichte Dokumente zugeschickt: Moruzzi lebt in Chicago, lehrt als Professorin Politikwissenschaft und stellte dem Stolperstein-Arbeitskreis die ganze Familienchronik zur Verfügung. Für Ingrid Sontag eine unschätzbare Quelle, die weit über das hinausging, was ihr bisher zur Verfügung stand.
Zwei ehemalige Lehrerinnen, die NS-Zeit und ihre Beschäftigung mit den Schicksalen
Wie auch Elke Wagner beschäftigt sich Ingrid Sontag seit Jahren fast täglich mit dem Leben und Tod von NS-Opfern - und noch immer sind sie von den einzelnen Schicksalen bewegt. Die beiden früheren Geografie-Lehrerinnen kennen sich seit Studienzeiten. Sie trafen sich wieder, als sie in Pension gingen – und beide anfingen, durch die Tätigkeit im Arbeitskreis Stolpersteine die Erinnerung an die ermordeten Menschen wachzuhalten.
"Wir sitzen viel am Computer oder direkt in Archiven", sagt Sontag. Die Recherchen beginnen Monate vorher mit dem Biografischen Handbuch von Reiner Strätz "Würzburger Juden 1900-1945" und der Datenbank Jüdisches Unterfranken. Oft sind nur wenige Daten vorhanden. Dann heißt es suchen: in einschlägigen Genealogie-Portalen, im internationalen Archiv über NS-Opfer in Bad Arolsen sowie im Bundesarchiv in Koblenz. Eine wichtige Quelle für die Forscherinnen ist die Datenbank der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem.
Bei ihr seien es familiäre Hintergründe, dass sie sich im Arbeitskreis engagiert, erzählt Elke Wagner: "Ein Onkel wurde im Konzentrationslager ermordet." Er sei homosexuell und politisch aktiv gewesen. "In der Familie wurde nicht über ihn gesprochen."
Und eine Cousine von ihr wurde ein "Euthanasie"-Opfer. Sie habe nicht den Arier-Vorstellungen der Nazis entsprochen, galt als "lebensunwertes Leben" - und wurde in der Tötungsanstalt Hadamar in Hessen ermordet.
Wagner musste bei der Frage, was sie im Ruhestand machen will, deshalb nicht lange überlegen: "Geschichte studieren? Stolpersteine sind Geschichte!"
Auch Ingrid Sontag interessiert sich schon seit Schultagen für den Umgang der Nazis mit den Opfern. Und über die Rolle der eigenen Eltern in der NS-Zeit wollte die ehemalige Studiendirektorin am Gymnasium in Lohr mehr wissen.

Sie seien durch die "68er" stark politisiert, sagt Elke Wagner. Damals, in den 1960er Jahren, hatte die kritische Auseinandersetzung der Nachkriegsgeneration mit der NS-Diktatur begonnen. An den Universitäten hinterfragten die Studierenden das Schweigen der Professoren, aber auch ihrer Eltern und Großeltern zu den Verbrechen, die spätestens mit dem Auschwitz-Prozess in Frankfurt ab 1963 öffentlich geworden waren.
Doch erst als 1978 die US-Serie "Holocaust" die fiktive Geschichte der jüdischen Familie Weiss ins heimische Wohnzimmer brachte, seien viele aufgerüttelt worden, sagt die 75-Jährige. "Meine Mutter hat die Verfilmung sehr erschüttert."
Wagner und Sontag hat das Thema NS-Zeit jedenfalls nie losgelassen. Deshalb engagieren sie sich im Stolperstein-Team. In Würzburg führt ihr Weg ins Stadtarchiv, wo Einwohnermeldebögen wichtige Hinweise geben, und ins Staatsarchiv zu den Gestapo-Akten.
Wenn es Hinweise auf Nachkommen gibt, dann melden sich die beiden Forscherinnen bei ihnen. "Wenn keine Antwort kommt, dann belassen wir es dabei." Wenn solch überraschende Antwort kommt wie aus Chicago im Fall von Johannette Frank ist die Freude umso größer.

Autor der Familienchronik, die die Urenkelin nach Würzburg schickte, ist der Mediziner Ludwig Frank: 1884 geboren und zweitältester Sohn des Heidingsfelder Weinhändlers Otto Frank.
Ludwig Frank war 1934 nach Palästina emigriert und lebte ab 1937 in den USA, zuletzt in England. 1958, mit 74 Jahren, setzte der Arzt sein lange geplantes Vorhaben um, "zum Nutzen der jüngeren und zukünftigen Generationen". Sie sollten, so der Chronist, ein wenig über den Ort ihrer Herkunft und die Lebensbedingungen ihrer Familie erfahren. Und über die Menschen, die das NS-Regime nach 1933 zur Emigration gezwungen hatte.
Von Heidingsfeld nach Würzburg: Die Weinhändlerfamilie Frank
Ludwig Frank hat auf den 22 Seiten seiner Chronik erstaunlich genaue Erinnerungen und Beobachtungen aufgezeichnet. Sein Bruder Oswald und Neffe Otto fügten später Ergänzungen hinzu. So wird das Leben einer jüdischen Familie in Würzburg ab dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts lebendig - mit viel Lokalkolorit.
Den Aufzeichnungen zufolge lebten die Franks seit etwa 100 Jahren in Heidingsfeld. Als sich auch in Würzburg Juden niederlassen durften, zog Ludwig Franks Großmutter Zerline 1882 in die Kapuziner Straße.
Zerline Frank soll eine sehr dominante Persönlichkeit gewesen sein. Nicht nur ihre Charaktereigenschaften beschreibt Ludwig Frank anschaulich. Zu allen Familienmitgliedern weiß er etwas zu sagen und schildert Lebensumstände genau.

Seine Mutter Johannette soll ein wenig Angst vor ihrer Schwiegermutter gehabt haben, schreibt Ludwig Frank. 1858 in Abenheim in der Nähe von Worms als Tochter eines Weinhändlers geboren, hatte Johannette 1882 den Heidingsfelder Weinhändler Otto Frank geheiratet. Das Paar bekam fünf Kinder: August, Ludwig und Oswald, Helene und Irene.
Seinen Vater Otto beschreibt Ludwig Frank als feurigen, temperamentvollen, oft gar stürmischen Mann. Der Opern-Liebhaber sei intelligent und interessant gewesen. Und habe dazu geneigt, sich den Meinungen anderer zu widersetzen.

Familienchronist Ludwig Frank erinnert an Freunde seines Vaters wie den Würzburger Architekten Anton Leipold, der Anfang des 20. Jahrhunderts viele Häuser rund um das Franksche Anwesen in der Rottendorfer Straße 9 baute. Das Haus der Franks steht heute nicht mehr. Laut Chronik war es mittelgroß und einfach, aber solide gebaut. Auf jedem der drei Stockwerke gab es fünf Zimmer, Küche und Bad. Ein Teil davon war vermietet, schreibt Ludwig Frank. Zum Haus gehörte auch ein großer Garten mit Blumen, Obstbäumen und Gemüsebeeten.
Die Mutter blieb alleine in Würzburg zurück und wurde deportiert
Nur in einem Absatz geht der Arzt bei seinen Erinnerungen an seine Mutter auf die NS-Zeit ein. Die seit 1923 verwitwete Johannette blieb in Würzburg zurück, als ihre Kinder nach Hitlers Machtübernahme ab 1933 Deutschland nach und nach verließen. Seine Mutter habe ihr Haus, ihre Freunde und ihr gesamtes Vermögen verloren, schreibt Frank. Zuletzt lebte die Seniorin im Jüdischen Altersheim in der Konradstraße 3.
Am 23. September 1942 wurde die über 80-Jährige nach Theresienstadt deportiert. Ihr Name steht auf der Deportationsliste, die online abrufbar ist. Knapp drei Wochen später war sie tot.
Ihre drei Söhne und die beiden Töchter veröffentlichten später in der deutsch-jüdischen Zeitung "Aufbau", die ab 1934 in New York publiziert wurde, eine Todesanzeige für Johannette Frank. Dort steht: "Ihr sehnlichster Wunsch, alle ihre Kinder wiederzusehen, ist ihr leider nicht erfüllt worden."
Künstler und Initiator Gunter Demnig kommt zur Verlegung
Einen Stolperstein für die Würzburgerin wird Gunter Demnig nun an ihrem letzten selbstgewählten Wohnsitz in der Rottendorfer Straße 9 verlegen. Der Künstler hatte 2006 diese Form der Erinnerung ins Leben gerufen und ist seither deutschlandweit zu Verlegungen unterwegs – und immer wieder und oft auch in Würzburg.
"Stolpersteine sind für die Nachkommen sehr wichtig", sagt Ingrid Sontag. Wenn sie zur Verlegung kommen können, seien das immer besondere Begegnungen. "Es ist ein Abschied für sie, vergleichbar einer Beerdigung."
So wird es sicher auch am 17. April sein. Norma Moruzzi, die Urenkelin von Johannette Frank, die die Chronik ihres Onkels zur Verfügung stellte, kommt aus den USA. Und wird bei der Verlegung des Stolpersteins dabei sein.
Es werden 1945 ja nicht alle Grundbücher verbrannt sein.
Wenn man liest, welcher Aufwand betrieben wurde, um die bei dem Sammler Gurlitt sichergestellte Raubkunst ihren ehemaligen Besitzern zurückzugeben, ist der Aufwand für Immobilien vergleichsweise gering.