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Würzburg
Überraschung bei Stolperstein für Holocaust-Opfer: Was das Würzburger Team in einer Familienchronik aus den USA findet
Bevor ein Stolperstein verlegt wird, recherchiert der Würzburger Arbeitskreis lange das Leben der Ermordeten. Und entdeckt manchmal Unerwartetes. Wie beim neuesten Stein.
Elke Wagner und Ingrid Sontag bei der Recherche im Würzburger Stadtarchiv. Die beiden pensionierten Lehrerinnen gehören zum Arbeitskreis Würzburger Stolpersteine.
Foto: Silvia Gralla | Elke Wagner und Ingrid Sontag bei der Recherche im Würzburger Stadtarchiv. Die beiden pensionierten Lehrerinnen gehören zum Arbeitskreis Würzburger Stolpersteine.
Christine Jeske
 |  aktualisiert: 15.07.2024 10:20 Uhr

Eine ganz besondere Recherche sei das gewesen, sagt Ingrid Sontag. Ein Glücksfall. Am kommenden Mittwoch, 17. April, steht in Würzburg an acht Orten in der Stadt die nächste Stolperstein-Verlegung an. Elf Steine sind es dieses Mal, die künftig erinnern sollen an das Leben jüdischer Menschen, die von den Nazis ermordet worden sind. Und einer dieser Gedenksteine wird für Johannette Frank, geborene Loeb, sein.

Was sie bei ihren Nachforschungen zu Johannette Frank erlebte – Ingrid Sontag bezeichnet es als einzigartig. Als Ausnahme. Seit zehn Jahren engagieren sie und Elke Wagner, beide pensionierte Lehrerinnen, sich ehrenamtlich im Würzburger Arbeitskreis Stolpersteine und recherchieren das Leben von Holocaust-Opfern. Sie wählen die ermordeten jüdischen Männer und Frauen aus, prüfen die Deportationslisten oder die Anfragen von Nachkommen und verfassen kurze Biografien.

Und in Ausnahmefällen erhalten sie bei ihrer Suche unerwartet einen umfassenden Einblick in eine Familiengeschichte. Wie jetzt, bei Johannette Frank. 

Denn bei ihren Nachforschungen erhielt Ingrid Sontag aus den USA von der Urenkelin Norma Moruzzi unveröffentlichte Dokumente zugeschickt: Moruzzi lebt in Chicago, lehrt als Professorin Politikwissenschaft und stellte dem Stolperstein-Arbeitskreis die ganze Familienchronik zur Verfügung. Für Ingrid Sontag eine unschätzbare Quelle, die weit über das hinausging, was ihr bisher zur Verfügung stand. 

Zwei ehemalige Lehrerinnen, die NS-Zeit und ihre Beschäftigung mit den Schicksalen

Wie auch Elke Wagner beschäftigt sich Ingrid Sontag seit Jahren fast täglich mit dem Leben und Tod von NS-Opfern - und noch immer sind sie von den einzelnen Schicksalen bewegt. Die beiden früheren Geografie-Lehrerinnen kennen sich seit Studienzeiten. Sie trafen sich wieder, als sie in Pension gingen – und beide anfingen, durch die Tätigkeit im Arbeitskreis Stolpersteine die Erinnerung an die ermordeten Menschen wachzuhalten.

"Wir sitzen viel am Computer oder direkt in Archiven", sagt Sontag. Die Recherchen beginnen Monate vorher mit dem Biografischen Handbuch von Reiner Strätz "Würzburger Juden 1900-1945" und der Datenbank Jüdisches Unterfranken. Oft sind nur wenige Daten vorhanden. Dann heißt es suchen: in einschlägigen Genealogie-Portalen, im internationalen Archiv über NS-Opfer in Bad Arolsen sowie im Bundesarchiv in Koblenz. Eine wichtige Quelle für die Forscherinnen ist die Datenbank der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem.

Bei ihr seien es familiäre Hintergründe, dass sie sich im Arbeitskreis engagiert, erzählt Elke Wagner: "Ein Onkel wurde im Konzentrationslager ermordet." Er sei homosexuell und politisch aktiv gewesen. "In der Familie wurde nicht über ihn gesprochen."

Und eine Cousine von ihr wurde ein "Euthanasie"-Opfer. Sie habe nicht den Arier-Vorstellungen der Nazis entsprochen, galt als "lebensunwertes Leben" - und wurde in der Tötungsanstalt Hadamar in Hessen ermordet. 

Wagner musste bei der Frage, was sie im Ruhestand machen will, deshalb nicht lange überlegen: "Geschichte studieren? Stolpersteine sind Geschichte!"

"Stolpersteine sind Geschichte!"
Elke Wagner vom Arbeitskreis Würzburger Stolpersteine

Auch Ingrid Sontag interessiert sich schon seit Schultagen für den Umgang der Nazis mit den Opfern. Und über die Rolle der eigenen Eltern in der NS-Zeit wollte die ehemalige Studiendirektorin am Gymnasium in Lohr mehr wissen.

Für die pensionierte Lehrerin Elke Wagner war schnell klar, dass sie sich im Ruhestand ehrenamtlich für den Arbeitskreis Würzburger Stolpersteine engagiert.
Foto: Silvia Gralla | Für die pensionierte Lehrerin Elke Wagner war schnell klar, dass sie sich im Ruhestand ehrenamtlich für den Arbeitskreis Würzburger Stolpersteine engagiert.

Sie seien durch die "68er" stark politisiert, sagt Elke Wagner. Damals, in den 1960er Jahren, hatte die kritische Auseinandersetzung der Nachkriegsgeneration mit der NS-Diktatur begonnen. An den Universitäten hinterfragten die Studierenden das Schweigen der Professoren, aber auch ihrer Eltern und Großeltern zu den Verbrechen, die spätestens mit dem Auschwitz-Prozess in Frankfurt ab 1963 öffentlich geworden waren. 

Doch erst als 1978 die US-Serie "Holocaust" die fiktive Geschichte der jüdischen Familie Weiss ins heimische Wohnzimmer brachte, seien viele aufgerüttelt worden, sagt die 75-Jährige. "Meine Mutter hat die Verfilmung sehr erschüttert."

Wagner und Sontag hat das Thema NS-Zeit jedenfalls nie losgelassen. Deshalb engagieren sie sich im Stolperstein-Team. In Würzburg führt ihr Weg ins Stadtarchiv, wo Einwohnermeldebögen wichtige Hinweise geben, und ins Staatsarchiv zu den Gestapo-Akten.

Wenn es Hinweise auf Nachkommen gibt, dann melden sich die beiden Forscherinnen bei ihnen. "Wenn keine Antwort kommt, dann belassen wir es dabei." Wenn solch überraschende Antwort kommt wie aus Chicago im Fall von Johannette Frank ist die Freude umso größer.

Ingrid Sontag interessiert sich seit ihrer Schulzeit für die NS-Zeit. Für den Arbeitskreis Würzburger Stolpersteine recherchiert sie das Leben der von den Nazis ermordeten Würzburger Juden.
Foto: Silvia Gralla | Ingrid Sontag interessiert sich seit ihrer Schulzeit für die NS-Zeit. Für den Arbeitskreis Würzburger Stolpersteine recherchiert sie das Leben der von den Nazis ermordeten Würzburger Juden.

Autor der Familienchronik, die die Urenkelin nach Würzburg schickte, ist der Mediziner Ludwig Frank: 1884 geboren und zweitältester Sohn des Heidingsfelder Weinhändlers Otto Frank. 

Ludwig Frank war 1934 nach Palästina emigriert und lebte ab 1937 in den USA, zuletzt in England. 1958, mit 74 Jahren, setzte der Arzt sein lange geplantes Vorhaben um, "zum Nutzen der jüngeren und zukünftigen Generationen". Sie sollten, so der Chronist, ein wenig über den Ort ihrer Herkunft und die Lebensbedingungen ihrer Familie erfahren. Und über die Menschen, die das NS-Regime nach 1933 zur Emigration gezwungen hatte.  

Von Heidingsfeld nach Würzburg: Die Weinhändlerfamilie Frank

Ludwig Frank hat auf den 22 Seiten seiner Chronik erstaunlich genaue Erinnerungen und Beobachtungen aufgezeichnet. Sein Bruder Oswald und Neffe Otto fügten später Ergänzungen hinzu. So wird das Leben einer jüdischen Familie in Würzburg ab dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts lebendig - mit viel Lokalkolorit.

Den Aufzeichnungen zufolge lebten die Franks seit etwa 100 Jahren in Heidingsfeld. Als sich auch in Würzburg Juden niederlassen durften, zog Ludwig Franks Großmutter Zerline 1882 in die Kapuziner Straße. 

Zerline Frank soll eine sehr dominante Persönlichkeit gewesen sein. Nicht nur ihre Charaktereigenschaften beschreibt Ludwig Frank anschaulich. Zu allen Familienmitgliedern weiß er etwas zu sagen und schildert Lebensumstände genau.

Johannette Frank (Mitte) an ihrem 70. Geburtstag im November 1928 mit ihren fünf Kindern Irene (links) und Helene sowie (hinten von links) Ludwig, August und Oswald. An der Wand hinter dem Sofa: ein gerahmtes Foto von Johannettes Ehemann Otto Frank, der 1923 gestorben war.
Foto: Archiv Norma Moruzzi | Johannette Frank (Mitte) an ihrem 70. Geburtstag im November 1928 mit ihren fünf Kindern Irene (links) und Helene sowie (hinten von links) Ludwig, August und Oswald.

Seine Mutter Johannette soll ein wenig Angst vor ihrer Schwiegermutter gehabt haben, schreibt Ludwig Frank. 1858 in Abenheim in der Nähe von Worms als Tochter eines Weinhändlers geboren, hatte Johannette 1882 den Heidingsfelder Weinhändler Otto Frank geheiratet. Das Paar bekam fünf Kinder: August, Ludwig und Oswald, Helene und Irene.

Seinen Vater Otto beschreibt Ludwig Frank als feurigen, temperamentvollen, oft gar stürmischen Mann. Der Opern-Liebhaber sei intelligent und interessant gewesen. Und habe dazu geneigt, sich den Meinungen anderer zu widersetzen.

Johannette und Otto Frank im Alter von 18 und 21 Jahren. Die Aufnahmen entstanden vor ihrer Hochzeit 1882.
Foto: Archiv Norma Moruzzi | Johannette und Otto Frank im Alter von 18 und 21 Jahren. Die Aufnahmen entstanden vor ihrer Hochzeit 1882.

Familienchronist Ludwig Frank erinnert an Freunde seines Vaters wie den Würzburger Architekten Anton Leipold, der Anfang des 20. Jahrhunderts viele Häuser rund um das Franksche Anwesen in der Rottendorfer Straße 9 baute. Das Haus der Franks steht heute nicht mehr. Laut Chronik war es mittelgroß und einfach, aber solide gebaut. Auf jedem der drei Stockwerke gab es fünf Zimmer, Küche und Bad. Ein Teil davon war vermietet, schreibt Ludwig Frank. Zum Haus gehörte auch ein großer Garten mit Blumen, Obstbäumen und Gemüsebeeten.

Die Mutter blieb alleine in Würzburg zurück und wurde deportiert

Nur in einem Absatz geht der Arzt bei seinen Erinnerungen an seine Mutter auf die NS-Zeit ein. Die seit 1923 verwitwete Johannette blieb in Würzburg zurück, als ihre Kinder nach Hitlers Machtübernahme ab 1933 Deutschland nach und nach verließen. Seine Mutter habe ihr Haus, ihre Freunde und ihr gesamtes Vermögen verloren, schreibt Frank. Zuletzt lebte die Seniorin im Jüdischen Altersheim in der Konradstraße 3.

"Stolpersteine sind für Nachkommen sehr wichtig. Es ist ein Abschied für sie, vergleichbar einer Beerdigung."
Ingrid Sontag vom Arbeitskreis Würzburger Stolpersteine

Am 23. September 1942 wurde die über 80-Jährige nach Theresienstadt deportiert. Ihr Name steht auf der Deportationsliste, die online abrufbar ist. Knapp drei Wochen später war sie tot. 

Ihre drei Söhne und die beiden Töchter veröffentlichten später in der deutsch-jüdischen Zeitung "Aufbau", die ab 1934 in New York publiziert wurde, eine Todesanzeige für Johannette Frank. Dort steht: "Ihr sehnlichster Wunsch, alle ihre Kinder wiederzusehen, ist ihr leider nicht erfüllt worden."

Künstler und Initiator Gunter Demnig kommt zur Verlegung 

Einen Stolperstein für die Würzburgerin wird Gunter Demnig nun an ihrem letzten selbstgewählten Wohnsitz in der Rottendorfer Straße 9 verlegen. Der Künstler hatte 2006 diese Form der Erinnerung ins Leben gerufen und ist seither deutschlandweit zu Verlegungen unterwegs – und immer wieder und oft auch in Würzburg.

"Stolpersteine sind für die Nachkommen sehr wichtig", sagt Ingrid Sontag. Wenn sie zur Verlegung kommen können, seien das immer besondere Begegnungen. "Es ist ein Abschied für sie, vergleichbar einer Beerdigung."

So wird es sicher auch am 17. April sein. Norma Moruzzi, die Urenkelin von Johannette Frank, die die  Chronik ihres Onkels zur Verfügung stellte, kommt aus den USA. Und wird bei der Verlegung des Stolpersteins dabei sein.

Arbeitskreis Stolpersteine in Würzburg

Würzburg zählt zu den Orten mit den meisten Stolpersteinen bundesweit: Aktuell sind es über 700. Im Arbeitskreis Stolpersteine recherchieren rund 20 Mitglieder über Holocaust-Opfer und andere Opfer der NS-Zeit. Sie betreuen die Homepage, bereiten die Verlegung vor, versuchen Paten für die Stolpersteine zu gewinnen und informieren die Anwohner. Eine Person organisiert außerdem das Putzen der Steine und bronzenen Platten mit der Inschrift.
Die 34. Stolpersteinverlegung in Würzburg findet am Mittwoch, 17. April, statt. Infos dazu gibt es im Internet unter www.stolpersteine-wuerzburg.de. Eine öffentliche Veranstaltung findet um 19 Uhr im Hörsaal des Rudolf-Virchow-Zentrums statt, Uniklinik Haus D 15, Josef-Schneider-Straße 2. Thema: "Jüdische Ärzte in der NS-Zeit".
cj
 
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  • Hermann Spitznagel
    Wenn ich Stolpersteine höre, frage ich mich immer, wieso man nie hört, wie diese ehemals jüdischen Immobilien in den Besitz der heutigen Eigentümer kamen.
    Es werden 1945 ja nicht alle Grundbücher verbrannt sein.
    Wenn man liest, welcher Aufwand betrieben wurde, um die bei dem Sammler Gurlitt sichergestellte Raubkunst ihren ehemaligen Besitzern zurückzugeben, ist der Aufwand für Immobilien vergleichsweise gering.
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