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Würzburg
Tödliche Stiche "objektiv" keine Notwehr: Warum das Landgericht Würzburg den Angeklagten dennoch frei ließ
Wie kam es zu den tödlichen Messerstichen vor einem Würzburger Club? Das Landgericht hält Fahrlässigkeit für denkbar und beruft sich auf eine "diffizile" Ausgangslage.
Hat der Angeklagte sich vor seinen Stichen in einer Notwehr-Lage geglaubt und war diese Annahme irrig? Laut Landgericht Würzburg steht jetzt eine Verurteilung wegen Fahrlässigkeit im Raum.
Foto: Thomas Obermeier | Hat der Angeklagte sich vor seinen Stichen in einer Notwehr-Lage geglaubt und war diese Annahme irrig? Laut Landgericht Würzburg steht jetzt eine Verurteilung wegen Fahrlässigkeit im Raum.
Aaron Niemeyer
 |  aktualisiert: 07.07.2024 02:34 Uhr

Nach Auffassung des Würzburger Landgerichts sind die tödlichen Stiche vor Stift Haug im September 2023 "objektiv keine Notwehr" gewesen. Der 23 Jahre alte Mann, der sich wegen der Messerstiche jetzt verantworten muss, könnte sich jedoch - irrtümlich - in einer Notwehr-Situation geglaubt haben, sagt Gerichtssprecher Michael Schaller. "Die Klärung des Sachverhalts ist offen", teilte Schaller auf Anfrage mit.

Die Kammer hatte den Angeklagten in der vergangenen Woche aus der Haft entlassen, weil kein "dringender" Tatverdacht mehr vorliege. Der 23-Jährige hatte nach einem Streit vor dem Würzburger Club "Studio" einen 28-Jährigen tödlich und zwei weitere Personen schwer verletzt.

Dritter Türsteher spricht von Faustschlägen vor Würzburger Club

An diesem Donnerstag sagte vor dem Landgericht ein dritter Türsteher des Clubs aus – und widersprach in weiten Teilen der bisher aus dem Studio-Umfeld verbreiteten Version der Tatnacht. Der Angeklagte sei vor dem Club in Streit mit der Freundin eines anderen Türstehers gekommen, sagte der Zeuge. Sein damaliger Kollege habe den 23-Jährigen daraufhin mit "vier oder fünf" Personen angegriffen – mit Fäusten, nicht durch Ohrfeigen.

Die Reaktion des Angeklagten beschrieb der Zeuge so: "Er hat überhaupt nichts gemacht." Stattdessen sei der 23-Jährige geflüchtet: "Er ist alleine gelaufen und die anderen sind ihm hinterher." Am Kreisverkehr vor dem Studio sei der Angeklagte zu Boden gegangen. Er sei dort unter anderem von dem 28-Jährigen geschlagen worden und habe erst danach zugestochen.

Landgericht Würzburg: Verurteilung wegen Fahrlässigkeit denkbar

Die Chefs des "Studio" hätten ihm nach dem Vorfall nahegelegt, seine Beobachtungen für sich zu behalten, sagte der ehemalige Türsteher. Erst bei einer zweiten Vernehmung durch die Polizei habe er dann in vollem Umfang ausgesagt: "Das erste Mal habe ich gar nichts erzählt, weil ich Angst hatte."

Waren die Stiche also Notwehr? "Es ist sehr diffizil", sagt Gerichtssprecher Michael Schaller. Aktuell gehe die Kammer von einem sogenannten "Erlaubnistatbestandsirrtum" aus. Vereinfacht gesagt: Wer die tatsächlichen Umstände einer Tat nicht kennt, handelt nicht vorsätzlich. Im vorliegenden Fall sei nicht auszuschließen, dass der Angeklagte geglaubt habe, sich in einer Notwehr-Situation zu befinden. Das sei jedoch ein Irrtum gewesen. Denkbar sei daher eine Verurteilung wegen Fahrlässigkeit, sagt Schaller.

Anwalt der Nebenklage: "Aus meiner Sicht hat sich die Anklage bestätigt"

Staatsanwaltschaft und Vertreter der Nebenklage sehen das anders. Oberstaatsanwalt Thorsten Seebach hat gegen die Freilassung des Angeklagten Beschwerde beim Landgericht eingereicht und will die Angelegenheit gegebenenfalls dem Oberlandesgericht in Bamberg vorlegen.

Christian Cazan, Anwalt des Vaters des Getöteten, sagte gegenüber der Redaktion: "Aus meiner Sicht hat sich die Anklage bestätigt." Er halte den Vorwurf des Totschlags für weiterhin angebracht. Die Freilassung durch das Gericht könne er nicht nachvollziehen.

Rechtsanwalt Christian Cazan vertritt den Vater des Getöteten. Im Gespräch mit der Redaktion kritisierte er die Freilassung des Angeklagten durch das Würzburger Landgericht.
Foto: Aaron Niemeyer | Rechtsanwalt Christian Cazan vertritt den Vater des Getöteten. Im Gespräch mit der Redaktion kritisierte er die Freilassung des Angeklagten durch das Würzburger Landgericht.

Die Streit-Situation vor dem Club sei aus seiner Sicht "nicht so dramatisch" gewesen, sagt Cazan. Das hätten Zeugenaussagen gezeigt. So habe die Hauptbelastungszeugin den 23-Jährigen als "kaltblütig" beschrieben, ein zweiter Türsteher habe ihn nach seinen Stichen als "frech und arrogant" wahrgenommen. Der Angeklagte hätte einfach gehen können  können", sagt Cazan. "Mir kommt das alles zu kurz."

Der Prozess wird an diesem Freitag, 5. Juli, um 8 Uhr fortgesetzt. Der Vorsitzende Richter Thomas Schuster hat angekündigt, den aktuellen Stand aus Sicht des Gerichts und das weitere Vorgehen besprechen zu wollen.

 
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  • Hans-Martin Hoffmann
    Hab mal gehört

    nichts fürchtet der Jurist so wie den "gesunden Menschenverstand". Vermutlich deshalb, weil mir der gerade sagt, dass ein tödlicher Angriff vermittels einer (ständig?) mitgeführten potenziell tödlichen Waffe irgendwie keine Fahrlässigkeit sein kann, sondern doch den Entschluss voraussetzt, 1. dieselbe überhaupt mitzuführen und sie 2. im Fall des Falles rigoros einzusetzen. Vom (puren) "Außer-Acht-Lassen der erforderlichen/ zumutbaren Sorgfalt" (s. StGB) scheint mir das nun doch ein Stück entfernt... aber OK, ich bin ja auch kein Jurist, sondern wundere mich nur manchmal, was da so rauskommt...
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  • Edith Kram
    @GF:

    Notwehr hin oder her?
    Wer zum Teufel läuft nachts mit einem Messer durch die Kneipen?

    Es ist wieder einmal typisch, dass man nach tausend Ausflüchten für den "Messerstecher" sucht, aber keiner an die Opfer denkt.

    "Lex Herbipolensis" - Messer frei in Würzburgs Innenstadt???

    Autor: @GF
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  • Johannes Metzger
    Nach Hubsi dem Aiwangrigen soll, ich zitiere: „jeder anständige Mann und jede anständige Frau ein Messer bei sich in der Tasche haben dürften“.
    Bei soviel dummen Geschwätz von einem hochrangigen bayrischen Regierungsmitglied, wundert es mich, daß nicht noch mehr passiert.
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  • Hans-Martin Hoffmann
    Seh ich ähnlich - @ Edith Kram -

    eine Werbung dafür, da hinzugehen, wenn man einfach nur entspannen will, ist sowas definitiv nicht...
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  • Alfred Mahler
    Vier oder Fünf Personen prügeln auf mich ein und verfolgen mich- ich gehe zu Boden, die Schläger holen mich ein. Wenn das keine Notwehr-Situation ist, was dann?
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  • Johannes Metzger
    Da bin ich mal gespannt, was das Gericht heute erklärt und wie es weitergehen soll. Eine große Herausforderung für das Schöffengericht ist dieser Prozess allemal. Und ich finde, zumindest bisher, haben sie das gut gemeistert.
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  • Alexander Götz
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  • Peter Koch
    Wenn mehrere Leute über mich herfallen würden wäre mir nur meine subjektiv gesehene Notwehrsituation wichtig.
    Jetzt ist die Frage welchen Zeugen das Gericht glauben soll. Ich täte nur den zum Tatzeitpunkt nüchternen glauben.
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