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Heidingsfeld
Johanna Klug über Hospiz-Arbeit: "Viele Sterbende erzählen mir Dinge, die sie ihrer Familie nicht erzählen würden"
Mit 20 begann Johanna Klug, Sterbende ehrenamtlich zu begleiten und lernte im Hospiz viel über das Leben. Wie die junge Sterbebegleiterin das Thema aus der Tabu-Ecke holt.
Johanna Klug, Sterbebegleiterin aus Würzburg, will das Thema Sterben und Tod aus der Tabu-Ecke holen.
Foto: Thomas Obermeier | Johanna Klug, Sterbebegleiterin aus Würzburg, will das Thema Sterben und Tod aus der Tabu-Ecke holen.
Alice Natter
 |  aktualisiert: 08.02.2024 10:20 Uhr

Als sie 16 ist und ihre Freunde Party machen, verbringt Johanna Klug ihre Zeit im Altenheim. Der Tod ist für sie damals schon fast alltäglich. Heute ist die Würzburgerin Johanna Klug 28, ausgebildete Sterbe- und Trauerbegleiterin und sagt: "Wir haben ein Problem damit, den Tod als Teil des Lebens zu nehmen." 

Das Sterben sei doch normal - "wir haben es so unnormal werden lassen". Bei ihrer Arbeit auf der Palliativstation hat Johanna Klug viele Menschen getroffen, die ganz unmittelbar mit ihrer eigenen Endlichkeit umgehen müssen. In ihrem zweiten Buch erzählt die Sterbebegleiterin jetzt von zehn Sterbenden - und von Einsichten über das Leben, die im Angesicht des Todes entstehen.

Wie kann man "normal" mit dem Sterben umgehen? Ein Gespräch über ein gesellschaftliches Tabu, Unbefangenheit - und erfülltes Leben.

Frage: Frau Klug, wie beginnt für Sie Sterbebegleitung? Wie gehen Sie auf einen sterbenden Menschen zu?

Johanna Klug: Sterbebegleitung beginnt für mich mitten im Leben. Das Allerschlimmste ist für mich, wenn sterbende Menschen nicht mehr als Menschen, sondern als Objekte wahrgenommen werden. Es ist meine Haltung, Sterbenden ganz normal zu begegnen. Wie jedem anderen Menschen eben auch. Es gibt keine Tabus, keine Dinge, die dort nicht sein dürfen. Egal ob ich auf der Palliativstation bin, im Hospiz, oder sterbende oder trauernde Kinder begleite – es ist immer ein neues sich einlassen auf den Menschen. Wie im Leben auch. Was hindert uns also daran, in einen natürlichen Kontakt mit der Endlichkeit zu kommen?

Die Angst?

Klug: Wir haben so große Angst vor Sterben und Tod, dass wir lieber verdrängen und tabuisieren, als uns damit auseinanderzusetzen. Doch irgendwann werden wir damit konfrontiert. Wir können dem Tod nicht davon laufen. Unsere eigene Endlichkeit wird uns dann in aller Überdeutlichkeit gespiegelt.

"Es gibt keine Checkliste, wie man Sterbenden begegnen kann."
Johanna Klug, die seit ihrer Jugend in der Hospizarbeit tätig ist
Wie stellen Sie selbst sich darauf ein? Oder gehen Sie unmittelbar, unvorbereitet auf einen sterbenden Menschen zu?

Klug: Als ich auf der Palliativstation angefangen habe, wusste ich nie, welchem Menschen ich gleich begegnen werde. Ich wusste außer dem Namen und manchmal der Diagnose nichts. Das war für mich immer ein kleines Abenteuer – in ein Zimmer zu gehen und nicht zu wissen, was mich jetzt erwartet. Meistens habe ich gesagt "Hallo, ich bin Johanna" – das war's. Ich hatte nie eine Checkliste, nie einen Fragenkatalog. Denn wenn ich mich in einem Konstrukt schon so begrenze, kann ich nicht offen sein für mein Gegenüber. Es gibt keine Checkliste, wie man Sterbenden begegnen kann. Die gibt es für mich übrigens auch nicht für das Leben.

Von einem der Sterbenden, über die Sie jetzt schreiben, sind Sie gefragt worden: "Kann man Dich auch buchen?" Kommen Sie denn auf Wunsch? Auf Bestellung?

Klug: Also nicht so wie das Essen bei Lieferando. Aber wenn es jemand ausdrücklich wünscht, komme ich natürlich auch. Im Hospiz bin ich einfach da, und manchmal bleibe ich auch länger.

Sagen Sterbende von sich aus, bitte gehen Sie? Ich will nicht, dass Sie da sind?

Klug: Wir wachsen ja in einer Gesellschaft auf, in der man höflich ist, immer seine eigenen Bedürfnisse hintenanstellt.

Verzeihen Sie, haben Sie dieses Gefühl? Geht es nicht überall um das eigene Interesse? Dominiert nicht Egoismus?

Klug: Ja, in der Gesellschaft geht es viel zu oft nur um das Ego. Wir sind eine absolute Ego-Gesellschaft, konsumieren nicht nur Gegenstände, sondern auch Menschen. Das beginnt bereits mit dem Schulsystem. Kinder werden nach Noten beurteilt, extrovertierte Kinder den introvertierten vorgezogen. Was macht das mit unserer Haltung, aber auch mit uns als Gesellschaft, wenn wir die Individualität nicht genug fördern? Aber oft sind wir zu höflich, um gesunde Grenzen zu setzen und zu sagen, "Ich möchte nicht, dass du jetzt da bist" oder "Ich will für mich sein". Doch Abgrenzung kann nur in einer Beziehung funktionieren, in der wir uns sicher fühlen und vertrauen. Geht es um die eigenen Bedürfnisse, tun wir uns schwer damit diese auch zu äußern. Manchmal sind wir vielleicht so isoliert von uns selbst, dass wir es nicht mal selbst fühlen. Wenn ich in ein Zimmer auf der Palli komme und frage, ob es okay ist, dass ich da bin, sagen manche einfach klar "Nein!". Dann lache ich und sage: "Es ist so gut, dass Sie das sagen!" Und gehe. Die eigenen Bedürfnisse klar zu äußern und nicht anderen zuliebe, sondern nur sich selbst zuliebe etwas zu tun, sollte nicht erst auf dem Sterbebett gelingen.

Sie schreiben, dass der Tod verbindend ist. Dass er uns Menschen verbindet. Trennt er nicht?

Klug: Der Tod verbindet uns alle. Und am Ende macht er alle Menschen gleich. Gerne wird Sterben und Tod von den Medien als angstverbreitendes und düsteres Stilmittel verwendet. Angst macht uns klein und begrenzt. Vielmehr sollten die Medien Verantwortung übernehmen uns zu helfen, mit dem Tod von Menschen aus Familien- und Freundeskreis umzugehen, wie auch mit Kriegssituationen - und nicht noch mehr Panik zu verbreiten. So reproduziert sich das Tabu Tod.

"In erster Linie ist Trauer pure Liebe."
Johanna Klug, Autorin und Sterbebegleiterin
Das es für Sie nicht gibt?

Klug: Für mich ist es nicht nur dunkel oder düster. Ganz klar gibt es auch hier wieder viele Facetten. Aber in erster Linie ist Trauer pure Liebe. Denn ich trauere nur um die Menschen, die ich sehr geliebt habe. Das Wissen um diese tiefe Liebe sollte viel stärker verbreitet werden. Wie kann uns Liebe trennen? Mir stellt sich immer wieder die Frage: Wenn wir dem Tod nicht seinen rechtmä­ßigen Platz geben, wenn wir diese menschlichste aller Erfahrun­gen von uns wegschieben, leben wir dann nicht am Leben vorbei? Wir leben in einer leistungsorientierten Gesellschaft, die ober­flächliche Werte priorisiert und Menschen in Schubladen packt. Diese Einstellung macht mich müde. Ich kann gar nicht sagen, wie unendlich müde mich das macht.

Sie schreiben, dass Sie sich "leer machen", wenn Sie in ein Zimmer gehen? Was heißt das?

Klug: Es geht um das Leermachen von allen äußerlich auferlegten Erwartungen. Ich habe nicht die Erwartungshaltung, dass sich ein perfektes Gespräch entwickelt oder dass sich der sterbende Mensch danach besser fühlt. Es geschieht einfach. Leer machen bedeutet für mich aber nicht, nichts mehr zu fühlen. Es bedeutet, offen und innerlich weit zu sein. Es ist die professionelle Nähe und keine Distanz, die in solchen Momenten so wichtig ist. Ich kann keinem Menschen begegnen, wenn mich meine eigene Angst begrenzt oder ich mich nicht zeigen will. Der Grat, die Sachen nicht an sich selbst heranzulassen, ist schmal. Sich verletzlich zu zeigen, erfordert Mut. Es lohnt sich immer. Erst dann kann Beziehung auf eine tiefere Ebene gelangen.

Was macht es aus, dass Sie neu im Leben des Sterbenden sind?

Klug: Das ist der große Vorteil in der Begleitung. Dass ich nicht mit einer Vorbelastung aus dem Familiensystem komme. Ich bin nicht die Tochter, ich bin nicht die Freundin. Ich bin einfach als Mensch da, als Johanna. Viele Sterbende erzählen mir Dinge, die sie ihrer Familie nicht erzählen würden – aus Angst sie zu verletzen und weil sie nicht wollen, dass sich die Zugehörigen zu viele Sorgen machen. Mir werden sehr viele Lebensgeschichten erzählt. Ich trage sie alle in mir, ohne dass sie für mich zu einem schweren Rucksack werden. Ich werde oft nach Supervision gefragt. Aber ich hatte und habe nie das Gefühl, das zu brauchen. Ich hatte nie das Bedürfnis oder Gefühl, etwas verarbeiten zu müssen, was ich dort mit den Sterbenden durchlebt habe.

Wie unterscheidet sich das Sterben von alten und von jungen Menschen?

Klug: Sterben ist individuell. So wie jeder Mensch anders lebt, stirbt auch jeder Mensch anders. Natürlich sterben Kinder anders als ältere Menschen. Aber Kinder leben ja auch anders als ältere Menschen. Für mich ist es wichtig, sich auf die individuelle Situation einzulassen und den Menschen auf Augenhöhe zu begegnen.

Was ist die größte Angst von Sterbenden?

Klug: Vergessen zu werden. Dass sich niemand mehr an einen erinnert. Man möchte gesehen werden. Im Leben, im Sterben und auch über den Tod hinaus. "Was bleibt von mir, wenn ich sterbe" ist eine Frage, die man sich nicht erst im Sterbeprozess stellen sollte.

Sie hören zu. Stellen Sie Sterbenden auch viele Fragen?

Klug: Ich stelle Fragen. Weil ich, naja, neugierig bin, das klingt jetzt frech. Weil ich interessiert bin. Ich frage aus purem Interesse. Die Gespräche entwickeln sich einfach, ich habe da keinen Fahrplan. Ob ich mich mit einer guten Freundin zum Kaffee treffe oder mich mit einem sterbenden Menschen auf der Palli unterhalte – für mich gibt es da keinen großen Unterschied wie ich mich auf mein Gegenüber einlasse. Es ist mein Anspruch, aufmerksam zu sein. Für mich geht es um die Präsenz und aus einem aufrichtigen Interesse heraus dem Menschen Zeit zu schenken. 

Johanna Klugs Erkenntnis? 'Nichts aufschieben!'
Foto: Thomas Obermeier | Johanna Klugs Erkenntnis? "Nichts aufschieben!"
Mit Blick auf den Untertitel "Zehn Einsichten Sterbender, die uns erfüllter leben lassen" - was sind die wichtigsten Erkenntnisse und Einsichten?

Klug: Ich erzähle Geschichten von Menschen. Wenn zehn Menschen diese Geschichten lesen, dann werden sie zehn unterschiedliche Erkenntnisse daraus ziehen. Die Essenz von dem Buch ist: Jeder Mensch interpretiert diese Geschichten anders und zieht seine ganz individuellen Schlüsse. Ich maße mir nicht an, Expertin zu sein und möchte nichts vorgeben. Ich habe keinen Ratgeber geschrieben, sondern ich gebe Menschen einen Raum für ihr Leben. Mir haben nach dem ersten Buch viele gesagt, dass sie eigentlich eine Checkliste erwartet haben mit zehn Punkten, um besser mit Sterben und Tod umzugehen und ein erfüllteres Leben zu leben. Wir hätten gerne eine To-Do-Liste für das eigene Leben – aber so einfach ist das nicht.

Und ihr wichtigster Schluss? Ihre eigene Erkenntnis?

Klug: Nichts mehr aufschieben! Vertrauen in sich zu haben und der eigenen Intuition zu folgen, dem Impuls nachzugeben - auch wenn man nicht weiß, was einen erwartet. Das Leben wie der Tod ist ein ganz großes Abenteuer. Seitdem ich mich mit Sterben und Tod beschäftige, fühle ich mich erst lebendig.

Johanna Klug

Die Würzburgerin Johanna Klug, geb. 1994, ist Sterbe- und Trauerbegleiterin. Nach langjähriger Erfahrung im Hospiz- und Palliativbereich in Deutschland und Südafrika engagiert sie sich ehrenamtlich in der Begleitung schwerkranker und sterbender Menschen. Sie studierte Medienmanagement und Digitale Kommunikation und war Studienkoordinatorin beim interdisziplinären Studiengang "Perimortale Wissenschaften" der Uni Regensburg, der sich mit Sterben, Tod und Trauer auseinandersetzt. 2021 erschien ihr erstes Buch "Mehr vom Leben - Wie mich die Begleitung Sterbender verändert". Aktuell lebt Johanna Klug in Berlin, arbeitet an ihrer Promotion zum Thema "Patient:innenautonomie todkranker Kinder" und bietet Lesungen, Coachings und Workshops an.

Das Buch:
"Liebe den ersten Tag vom Rest deines Lebens: Zehn Einsichten Sterbender, die uns erfüllter leben lassen", Gräfe und Unzer Edition 2022, 224 Seiten, 17,99 Euro
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Kommentare
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  • T. F.
    Sie sind für viele Menschen ein sehr wertvoller Mensch...vielen herzlichen Dank dafür!
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  • R. B.
    Sehr geehrte Frau Klug, erst einmal meinen allergrößten Respekt für das, was Sie da leisten. Ich habe den Artikel bewusst zwei mal gelesen, weil Ihre Aussagen sehr viel Botschaft enthalten. Irgendwie entlarven Sie uns als Gesellschaft und die Erkenntnis am Ende unseres Lebens ist ernüchternd. Am Ende zählt es nicht wie arm oder reich wir sind, wir gehen alle den gleichen Weg, wohin der auch führen mag. Ich habe sehr viel Bewunderung für das was Sie tun, alleine aus der Erkenntnis heraus, dass ich dies nie leisten könnte.
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  • Veraltete Benutzerkennung
    Ich kenne einige Menschen, die in diesem Berufsfeld arbeiten und mir viel darüber erzählt haben. Sie alle sagten einhellig, dass gute Supervision unabdingbar ist und ihnen ermöglicht, blinde Flecken im eigenen Dasein aufzudecken, die sich ansonsten unbemerkt auf die Arbeit auswirken könnten. In anderen Ländern, so erzählten sie mir, sei Supervision verpflichtend und wird teilweise sogar von den Institutionen bezahlt. Sie würden sich wünschen, dass dies auch in Deutschland so wäre. Auch, wenn diese junge Frau meint, keine Supervision zu benötigen, würde sie wahrscheinlich sehr davon profitieren.
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  • B. K.
    Allergrößten Respekt dieser Frau.
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  • G. K.
    Bewundernswert!
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