
Das Leben und der Tod - größere Gegensätze sind kaum denkbar. Und doch werden im Angesicht des Todes existenzielle Themen des Lebens deutlich. Die Würzburgerin Johanna Klug schenkt Sterbenden auf Palliativstationen Nähe und Zeit. In ihrem Buch "Mehr vom Leben" berichtet die 27-Jährige von ihren vielen Begegnungen mit Menschen, deren Leben zu Ende ging. Ein Gespräch darüber, wie die Begleitung Sterbender sie selbst verändert hat.
Johanna Klug: Wenn ich so recht überlege, habe ich mich schon als 16-Jährige recht intensiv damit auseinandergesetzt. Damals habe ich neben der Schule in einem Altenheim gearbeitet. Zwei Jahre lang habe ich für die Menschen dort das Essen zubereitet und mich gekümmert. Viele Menschen litten sehr unter der Einsamkeit, denn die Pflegekräfte waren einfach stark überlastet. Daran hat sich ja leider bis heute nichts geändert. Bereits damals hat es mich erschreckt, wie einfach alte Menschen in Institutionen "abgeschoben" werden. Keiner bedenkt, dass wir alle auch einmal diese alten Menschen sein werden.
Klug: Bis heute kann ich nicht sagen, weswegen mich Sterben, Tod und Trauer so sehr beschäftigen. Ich hatte zu der Zeit keinen persönlichen Verlust erfahren, wurde mit dem Tod nicht direkt konfrontiert. Aber der Tod, das Ende unseres Lebens – egal wie man es nennen mag – ist letztlich doch das Lebensthema jedes Menschen. Ohne den Tod gäbe es auch kein Leben. Vielmehr müsste doch die Frage lauten: Warum beschäftigen wir uns NICHT mit Sterben, Tod und Trauer? Die Angst, die dahinter steckt, wird nicht geringer, wenn wir dem Thema keinen Platz geben.
Klug: Entweder bringe ich Blumen mit, backe Kekse mit den Zugehörigen oder Patienten und Patientinnen oder wir machen Obstsalat. Das ist eigentlich fast immer so ein "Opener" – wie ein Aperitif, den man anbietet, um ein bisschen aufzutauen. Ich wollte nie dieses "klassische" Bild einer Hospizbegleiterin erfüllen und zu den Sterbenden gehen, die Hand halten und reden. Sterbende sind Menschen, wie Du und ich. Sterbende sind nach wie vor Lebende. Und deswegen versuche ich immer ganz viel Leben in Form von alltäglichen, kleinen Besonderheiten mitzubringen.

Klug: Wenn ich die "Palli" betrete, dann ist das für mich ein zeitloser Raum. Nichts ist in diesem Moment wichtiger als bei den Menschen zu sein. Nichts hat mehr Bedeutung. Wahrscheinlich ist es genau das: an dieser Schnittstelle zu sein zwischen Leben und Tod. Eine Ausnahmesituation, mit der viele Menschen nicht umgehen können, weil wir von klein auf nie wirklich gelernt haben, mit Gefühlen und Emotionen umzugehen, die nicht in unsere Happiness-Gesellschaft passen. In diesen Situationen geht es um alles. Deswegen fühle ich mich dem Leben so nah, weil es so echt, unverfälscht und pur ist.
Klug: Das ist höchst individuell und auch abhängig von der Stimmung jedes Menschen. Aber ich merke schon, dass mit mir viel über den Tod geredet wird. Ich glaube auch einfach, weil die Menschen spüren, dass ich offen dafür bin. Und ein großer Vorteil ist eben, dass ich nicht Teil ihres Familiensystems bin. Ich "belaste" sie also nicht zusätzlich damit, dass sie mir ihre Gedanken über ihr eigenes Sterben mitgeben. In meinen Begleitungen mit Kindern spüre ich auch, wie sensibel und feinfühlig sie sind. Bei Sterbenden ist das sehr oft auch so. Da muss man gar nicht viel sagen, es reicht aus, hinzuspüren, was gebraucht wird. Aber das ist etwas, was in unserer Gesellschaft überhaupt keine Bedeutung hat und keine Wertschätzung erfährt. Doch wo kommen wir als Gesellschaft hin, wenn sich die Welt nur um uns selbst dreht und wir nicht lernen, statt unseren Kopf auch mal unser Herz einzuschalten?
Klug: Die Frage nach dem Warum beschäftigt oft viel mehr die Zugehörigen als die Sterbenden selbst. Manchmal ist es auch die Erwartungshaltung der Zugehörigen, die es Sterbenden schwer macht. Zum Beispiel beim Thema Essen und Trinken: Warum möchte der sterbende Mensch nichts mehr essen? Da prallen Welten aufeinander, weil für uns Essen immer mit Leben gleichgesetzt wird. Aber wir vergessen, dass dieser Mensch im Sterben liegt. Oft sind es ungelöste Konflikte zwischen Familie oder Freundinnen und Freunden, oder die Trauer über vergeudete Zeit. Im Leben und im Sterben geht es immer um Beziehung. Die Beziehung zu sich selbst und zu anderen. Wie wir am Ende unser "Schicksal" annehmen oder nicht, hat viel damit zu tun, wie wir gelebt haben.
Klug: Unsere Haut ist das größte Organ. Dadurch kommunizieren wir mit unserer Umgebung. Berührungen sind wichtig, aber natürlich nur solche, die wir selbst als angenehm empfinden. Bei einer Berührung schüttet unser Körper ganz viel Glückshormone aus, die einen immensen Einfluss auf unsere psychische Gesundheit haben. Wir müssen bei der Behandlung sterbender Menschen Körper und Psyche im Blick behalten – aber sonst natürlich auch immer. Aber wir können Menschen natürlich nicht nur über unsere Haut berühren, sondern auch die Seele mit unseren Worten, unserem Dasein. Einfach mit dem, wer und wie wir sind.
Klug: Für mich ist das eine Frage der inneren Haltung. Ich kann niemanden richtig begleiten, wenn ich ständig im Kopf habe "Ich muss jetzt professionell distanziert sein". Jedes Mal, wenn ich ein Zimmer betrete, mache ich mich innerlich frei und schaue, was mich erwartet. Jedes Mal lasse ich mich völlig neu auf die Situation und auf den Menschen ein. Ich glaube, es ist genau diese Absichtslosigkeit, die es ausmacht. Jedes Mal bin ich einfach Mensch. Ich kann mit den Geschichten, die mir erzählt werden, gut umgehen. Ich nehme sie nicht mit nach Hause und trotzdem bin ich in den Gesprächen präsent, höre zu und nehme mich gleichzeitig zurück. Dann bin ich ganz bei meinem Gegenüber.
Klug: Die Diskussion um Sterbehilfe und ein würdevolles, selbstbestimmtes Sterben ist komplex und sehr vielschichtig. Aber immer steht im Raum die Frage: Was für ein Bedürfnis steckt hinter dem Wunsch nach assistiertem Suizid oder aktiver Sterbehilfe? Bei den Menschen im Altenheim oder in der "Palli" bemerke ich oft, dass es der Wunsch nach Zuwendung ist. Manchmal ist es ein Hilfeschrei, weil sich Menschen einsam fühlen. Da muss man ganz genau hinhören, hinspüren und sozusagen die einzelnen Puzzlestücke zusammensetzen.
Klug: Stimmt, dann ist es zu spät. Deswegen sollten wir nicht leben als wären wir unsterblich, denn das sind wir nicht. Den Tod als Teil unseres Lebens zu begreifen und zurück in unsere Realität zu integrieren, kann sogar helfen, noch viel bewusster und intensiver zu leben. Wir sind Menschen mit echten, tiefen Emotionen, die da sein dürfen. Denn nur wenn wir als Gesellschaft Gefühlen wie Wut, Trauer und Angst einen Raum geben und nicht verdrängen, kommen wir uns wieder näher. Der Tod hat etwas Verbindendes. Wenn ich mit Freundinnen und Freunden oder Fremden über Sterben und Tod spreche, merke ich immer wieder, was für eine Tiefe in Begegnungen erreicht werden kann, die sonst nie möglich wäre.
Klug: Am Ende ist es ganz banal: Es sind die Beziehungen zu Menschen, zu Tieren oder zur Natur. Es sind die kleinen Dinge im Leben, die so besonders sind. Das Große im Kleinen: Eine liebe Geste, ein warmes Lächeln und die Offenheit und Beziehung, die man selbst zu sich und damit auch zum Leben hat.
Zur Person
Buchtipp: Johanna Klug "Mehr vom Leben. Wie mich die Begleitung Sterbender verändert", Kösel Verlag, 160 Seiten, 18 Euro.
L.G. Martin Dobat