Vor 50 Jahren ist Peter Siebenlist in das St. Josefs-Stift in Eisingen (Lkr. Würzburg) gezogen. Und der 67-Jährige lebt noch heute dort in seiner Wohngruppe. Doch nicht nur deshalb steht Siebenlist wie kaum ein anderer für das 50-jährige Bestehen der Wohn- und Arbeitsstätten für geistig und mehrfach behinderte Menschen. Denn ohne ihn gäbe es dieses Jubiläum, gäbe es diese Einrichtung auf dem Stiftsberg vielleicht gar nicht.
Als der in Aschaffenburg geborene, während des Krieges in Hammelburg als Pfarrer tätige Robert Kümmert 1945 von Bischof Matthias Ehrenfried zum Caritas-Direktor ernannt wurde, lag Würzburg in Trümmern. Im Unterfranken der Nachkriegszeit galt es für den Caritas-Direktor erst einmal den Hunger der Menschen zu bekämpfen, Wohnraum zu schaffen und Familien zusammenzuführen. Auch wenn Pfarrer Kümmert heute als der Wohltäter für Menschen mit Behinderung gilt - er selbst dachte an diese Gruppe zunächst nicht. Denn Menschen mit Behinderung - sie waren im öffentlichen Leben nicht präsent, lebten abgesondert und versteckt in ihre Familien. Nur so hatten sie die Zeit des Nationalsozialismus, in der sie als unwertes Leben galten, überhaupt überleben können.
1962 lernte Kümmert den siebenjährigen Peter Siebenlist kennen. Peters Mutter war am Ende ihrer Kräfte. Eine Hirnhautentzündung im Alter von drei Monaten hatte bei ihrem Sohn zu einer schweren geistigen Behinderung geführt. Im Hause Siebenlist waren alle Schränke verschlossen, der Tisch wurde erst unmittelbar vor dem Essen gedeckt. Denn der Siebenjährige räumte am liebsten aus und ab. Ein paar Jahre hatte er in den "Sonderkindergarten" der Leo-Deeg-Schule in Würzburg gehen können, dann gab es keine Betreuungsmöglichkeit für Kinder wie Peter mehr.
Im Büro des Würzburger Caritas-Direktors den Schreibtisch abgeräumt
Eines Tages packte Greta Siebenlist ihren Sohn und ging mit ihm in das kleine Büro des Würzburger Caritas-Direktors. In seinem Rückblick schrieb Kümmert später selbst, er habe die Mutter beruhigen wollen - "wird schon nicht so schlimm sein". Da ließ Greta Siebenlist den Siebenjährigen, den sie bei Ausflügen immer fest an der Hand hielt, einfach los. Erst räumte er Kümmerts Schreibtisch ab, dann begann er die Schränke auszuräumen. In seinen Erinnerungen schreibt Kümmert über diese Begegnung: "Jetzt muss etwas geschehen. Wer nicht mittut, bekommt drei Peter auf den Schreibtisch."
Noch im selben Jahr gründete Kümmert das St. Josefs-Stift als einen eingetragenen Verein. Von Anfang an wollte der Kirchenmann bei diesem Projekt unabhängig von der Kirche sein. Die Familie Siebenlist war Gründungsmitglied. Von 1968 bis 1971 entstanden die ersten Gebäude am heutigen Stiftsberg bei Eisingen. Bis 1978 sollte der Pfarrer 44 Millionen Mark an Spenden für das Stift sammeln. Es wurde zu seinem Lebenswerk.
Das Amt des Caritas-Direktors gab der gebürtige Aschaffenburger irgendwann in andere Häne. Er selbst zog in das Stift und führte es mit viel Humor und Schlitzohrigkeit. Und manchmal ein wenig in Gutsherrenart, wie Weggefährten heute berichten.
"Es tut gut unter diesen mehrfach behinderten Menschen zu leben", schrieb Kümmert über seine Entscheidung, selbst auf den Stiftsberg zu ziehen. "Man sieht das Leben ganz anders an. Was viele möglichst weit weg haben möchten, ist ein unverzichtbares Stück menschlichen Lebens."
Ja, die Familie hätte den älteren Bruder viele Jahre versteckt, berichtet Thomas Siebenlist von damals. Die Eltern hätten ihn, den jüngeren Sohn, und sich selbst vor den Blicken und dem Unverständnis schützen wollen. Als Peter dann im Stift wohnte, gab es die "Peter-Wochenenden", in denen der Bruder nach Hause kam. Selbst Familienfeiern hätten die Eltern dann gemieden.
Schon 1972 die Grundlage für Inklusion gelegt
Am Anfang seien es schon zwei Welten gewesen, berichtet Ludger Langhorst, der von 1972 bis 2011 im Stift arbeitete. "Die von da oben", also die vom Stiftsberg, seien etwas kritisch beäugt worden. Schließlich seien auch viele der Betreuer zunächst von außerhalb gekommen. Doch Kümmert legte mit seinem Beispiel die Grundlage für Inklusion.
"Alle Bewohner haben ihn vergöttert", erzählt Thomas Siebenlist - weil er nicht nur für, sondern mit den behinderten Menschen gelebt habe. Mit Stiftungsfesten und seinen sehr auf Kinder ausgerichteten Gottesdiensten schaffte es der Pfarrer von Anfang an, die Menschen in Eisingen für das Stift zu interessieren, sie auf das Gelände einzuladen. Heute sind Bewohner des Stifts in Eisinger Vereinen aktiv - und gehören dazu.
"Wir denken Inklusion auch anders herum", sagt der heutige Geschäftsführer Marco Warnhoff. Normalerweise verstehe man unter Inklusion, die Menschen mit Behinderung in die "normale Welt" zu schicken und zu integrieren. "Wir wollen mit unseren Attraktionen zusätzlich die Menschen hier hinein holen", sagt Warnhoff. Sei es durch öffentliche Theateraufführungen, Ausstellungen oder die die Parkanlage ums Stifts, die öffentlich ist und von vielen Eisingern für Spaziergänge und Begegnungen genutzt wird. Für die nahe Zukunft plane das Stift ein Inklusionscafé und ein medizinisches Zentrum, das nicht nur die ärztliche Versorgung der Stiftsbewohner sicherstellen, sondern auch Patientinnen und Patienten von außerhalb zur Verfügung stehen soll.
Selbstständigkeit der Menschen mit Behinderung als Ziel
"Aber wir gehen auch raus", sagt Warnhoff. Aktuellstes Beispiel sei das gemeinsame Inklusionsprojekt im TeGut-Supermarkt in Waldbrunn. Mehr Selbstständigkeit für Menschen mit Behinderung sei ein großes Ziel, das noch nicht erreicht sei. Im Stift beginnen dies bei Bestrebungen, sie auch möglichst nah am ersten Arbeitsmarkt unterzubringen, und reichen über die externen Wohngruppen bis hin zu Probewohnungen, in denen das selbstständige Wohnen mit einer nur noch ambulanten Betreuung trainiert werden kann.
Doch viele würden gerade die Gemeinschaft auf dem Stiftsberg schätzen. Es gibt Wohngruppen, die gemeinsam in den Urlaub fahren, sich wie eine Wohngemeinschaft selbstständig verpflegen, im Garten Gemüse anbauen und sich ihre eigenen Hühner halten. Einige kommen nur tagsüber ins Stift zum Arbeiten in der Werkstätte oder zum Besuch der Förderstätte. Die meisten aber seien gerne in ihrer Gemeinschaft, in der sie ihre Freunde gefunden hätten, berichtet Iris Forstner, Leiterin des Bereichs Lebensgestaltung und seit über 30 Jahren im Stift tätig. Auch Peter, so berichtet sein Bruder Thomas Siebenlist, sei spätestens nach zwei Tagen zuhause immer nervös geworden und habe wieder ins Stift zurück gewollt.
Wohngruppen auch für viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wie eine Familie
Der Bedarf an Wohnplätzen sei in Unterfranken größer als das Angebot, sagt Geschäftsführer Marco Warnhoff. Insbesondere für pflegebedürftige Bewohner. Das liege auch am mangelnden Fachpersonal, auf dem freien Markt seien so gut wie kein Pflegepersonal mehr zu finden. "Wenn wir eine neue Fachkraft einstellen, fehlt sie in einer anderen Einrichtung. Die allgemeine Versorgungsituation wird dadurch nicht besser", beklagt Warnhoff. Das Besondere am Personal im Stift sei aber, dass sich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Wohngruppen meist wie eine Familie sähen. Viele arbeiteten bereits in der zweiten Generation im Stift.
Es sei völlig falsch das St. Josefs-Stift als Einrichtung zu sehen, wo Menschen mit einer Behinderung ab- oder an die Seite geschoben würden, so Warnhoff. Die Lage am Ortsrand von Eisingen biete auch Menschen mit großen Einschränkungen die Möglichkeit, auch alleine mal raus zu gehen. Das wäre in der Stadt nicht möglich. Ziel sei es, Menschen mit Behinderung pädagogisch zu fördern, damit sie sich entfalten und besser am gesellschaftlichen Leben teilnehmen könnten.
Bis ins hohe Alter im Stift - dank Wohnpflegeheim
Dass Peter Siebenlist auch 50 Jahre nach seinem Einzug noch immer auf dem Stiftsberg wohnen kann, ist keine Selbstverständlichkeit. "Unsere Bewohner altern mit uns", sagt Warnhoff. Andere Behinderteneinrichtungen müssten ihre Schützlinge abgeben, wenn der Pflegeaufwand zu hoch wird. Mit dem Wohnpflegeheim biete das St. Josefs-Stift die Möglichkeit, auch im hohen Alter und bei hoher Pflegebedürftigkeit in der gewohnten Umgebung bleiben zu können. Wer nicht wolle, müsse das Stift nie mehr verlassen.
Aber sie hat es getan - sicherlich aufgrund der zunehmenden Belastung, dennoch finde ich es bewundernswert. Andere hätten (und haben) ihr Kind mit Behinderung weiter zuhause versorgt und häufig eben auch versteckt - oft zu ihren eigenen Lasten und vor allem zu Lasten des Kindes. Was aus ihrem mutigen Schritt wurde, ist beeindruckend.