
"Ich koche heute einen Blumenkohl mit gerösteten Semmelbröseln, einer guten Soße und Kartöffelchen", sagt Barbara Windbergs mit leuchtenden Augen. Eigentlich nichts Besonderes. Aber die Würzburgerin hat Multiple Sklerose (MS). Seit fast 30 Jahren ist sie auf einen Rollstuhl angewiesen. Inzwischen kann Barbara Windbergs auch ihre Hände nur noch schwer koordinieren. Doch die 61-Jährige wohnt weiter in ihrer eigenen Wohnung - und kocht sich ihr Mittagessen. Alles, was sie selbst nicht mehr kann, übernimmt eine ihrer Assistentinnen.
1987, kurz vor dem Ersten Staatsexamen, erhielt die Lehramtsstudentin damals die Diagnose: MS. "Von einem Tag auf den anderen war mein Leben ein anderes." Obwohl sie viel Zeit in Krankenhäusern verbrachte, schaffte Windbergs das Examen, an ein Referendariat aber war nicht mehr zu denken.
Karriere als Sängerin - bis es auf der Bühne nicht mehr ging
Ihr Studium hatte die gebürtige Oberfränkin als Sängerin finanziert: im Duo mit dem Bad Neustädter Christian Nowak, als Backgroundsängerin in einer Tanzkapelle, einer Rockband oder einer Galaband. Es gab sogar Auftritte mit Wencke Myrre und Freddy Quinn. Solange es ging, stand Windbergs am Wochenende auf der Bühne - der Rollstuhl blieb im Kofferraum. Und als es nicht mehr ging, sang sie Werbespots fürs Radio ein.
Die Musik sei ihr Leben gewesen und habe ihr Kraft gegeben, sagt die 61-Jährige. Doch eine Zeit des Abschiednehmens begann. Zuerst vom geliebten Motorradfahren. "Das tat mehr weh, als irgendwann auch nicht mehr Auto fahren zu können."

Heute übernehmen sechs Frauen, zwei davon in Vollzeit, die täglichen 16-Stunden-Assistenzen. Windbergs stellt die Assistentinnen selbst ein und rechnet dies dann mit dem Bezirk Unterfranken als Kostenträger ab. Als Arbeitgeberin habe sie zwar zusätzlichen Aufwand, sagt Windbergs. Aber dafür auch die Freiheit, sich die passenden Assistentinnen auszusuchen. Die zu finden, werde immer schwerer.
Für die Tätigkeit müsse man gerne anderen Menschen helfen, ohne ein Helfersyndrom zu haben, sagt Windbergs. Ihre Assistentinnen müssten sich auch zurücknehmen können, wenn sie nicht gebraucht werden. Eine besondere Ausbildung benötigen ihre Assistenten nicht. Derzeit sind eine Lehrerin, eine Modedesignerin und eine Kinderkrankenschwester dabei.
Selbstbestimmtes Leben: Alltägliches ist nur noch mit Unterstützung möglich
Sie übernehmen alles, was die 61-Jährige nicht mehr alleine kann. Sie helfen beim Aufstehen, Anziehen und der Körperpflege, stellen den Computer ein, schalten den Drucker an, bereiten das Essen zu, gehen mit zum Einkaufen oder ins Kino. "Ich will mich kratzen, wenn es juckt, mir die Nase putzen, wenn es nötig ist, was trinken, wenn ich durstig bin", sagt Windbergs. All das könne sie nur noch mithilfe einer Assistentin.

Langsam verbreitet sich der Duft von Blumenkohl in der Wohnung. "Nein, nicht den Einsatz nehmen, gib einfach so ein paar Zentimeter Wasser zum Blumenkohl", ruft Windbergs, obwohl sie gar nicht sehen kann, was am Herd gerade passiert. "Ich steuere meinen Haushalt übers Gehör", sagt sie und lacht. "Selbst wenn ich am Computer sitze und höre Geräusche aus der Küche, weiß ich genau, was gerade passiert."
Vieles habe ihr die Krankheit genommen, sagt die Würzburgerin. Ihr selbstbestimmtes Leben aber lasse sie sich nicht nehmen. Auch wenn der Kampf dafür manchmal "mehr nerve als die eigentliche Krankheit".
Bedarfsermittlung des Kostenträgers: Bezirk will weniger Stunden bezahlen
Kurz vor Weihnachten 2022 erhielt sie vom Bezirk Unterfranken einen Bescheid, dass sie ab Januar 2023 nur noch zehn statt 16 Stunden Assistenz täglich bezahlt bekomme. Bei einer Bedarfsermittlung habe sie zuvor Mitarbeitern des Bezirks ihren Tagesablauf in allen Details erläutern müssen.
Per einstweiliger Verfügung erstritt die MS-Patientin, dass der Kostenträger die 16 Stunden erst einmal weiterbezahlen musste, die ihr 2015 zugesprochen worden waren. Doch das eigentliche Widerspruchsverfahren steht noch aus. Es hänge wie ein Damoklesschwert über ihr, sagt die 61-Jährige.
Weil sie morgens am fittesten ist, lege sie ihre täglichen Therapien auf den frühen Vormittag. Bei nur zehn Stunden Assistenz wäre sie 14 Stunden am Tag hilflos ans Bett gefesselt, sagt Windbergs. Schon jetzt habe sie in der Nacht "liebe Nachbarinnen", die kommen und sie drehen, wenn sie Schmerzen hat. Ihr Handy, mit dem sie noch Anrufe auslösen, aber kaum noch welche annehmen kann, liegt immer am Bett. Ja, sie genieße die Stunden allein zu Hause. Aber 14 Stunden allein ohne Hilfe - das sei schon wegen Essen, Trinken oder Toilettengang gar nicht möglich.
Erstes Treffen von Betroffenen: Runder Tisch "Persönliche Assistenz in Unterfranken"
Darum ist Windbergs seit Jahren im Vorstand des Vereins "Würzburg Selbstbestimmt Leben" (WüSL) aktiv. Darum hat sie 2023 den Runden Tisch "Persönliche Assistenz in Unterfranken" mitinitiiert. "Wir müssen uns austauschen, vernetzen und gegenseitig informieren." 50 Betroffene und Assistenten seien zum ersten Treffen in diesem Januar gekommen. Zwei oder drei Mal im Jahr wollen sie künftig zusammenkommen und auch Experten zum Runden Tisch einladen, um die Unterstützungsform bekannter zu machen.

Eine erste Forderung an den Bezirk von Unterfranken: allen Betroffenen für ihre Assistenten die gleichen, an einen Tarif angelehnten Löhne zu bezahlen. Bislang müsse jeder seinen Stundensatz individuell aushandeln, sagt Windbergs.
Der Bezirk Unterfranken teilt auf Nachfrage mit: Die persönlichen Budgets würden individuell so bemessen, dass der jeweils festgestellte Bedarf gedeckt werde.
"Andere Leute leben einfach ihr Leben, wir organisieren es", sagt Windbergs. Sie schätzt, dass sie für ein selbstbestimmtes Leben bis zu zwei Stunden am Tag mit Bürokratie beschäftigt ist. Ein Jahr lang habe sie beispielsweise mit ihrer Krankenkasse für ein neues Gerät zur Erhaltung der Beweglichkeit gekämpft. Ihr altes Motomed war kaputtgegangen. Schließlich habe sie ein gebrauchtes geschenkt bekommen.
Um ihre Mutter in Kulmbach zu besuchen oder an Veranstaltungen etwa in Berlin teilzunehmen, müsse sie dort übernachten und benötige dann die Assistentin auch über Nacht. Vor Gericht erstritt sie, dass sie bis zu 20 Mal im Jahr auswärts mit Assistentin übernachten kann.