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Würzburg
Professor mit Sehbeeinträchtigung: Gibt keine Barrierefreiheit, die für alle passt
Er ist Professor für Sonder- und Inklusionspädagogik - und selbst sehbeeinträchtigt. Was für Dino Capovilla Teilhabe bedeutet - und im Würzburger Alltag die größte Behinderung ist.
Professor Dino Capovilla 
Foto: Ivana Biscan | Professor Dino Capovilla 
Alice Natter
 und  Folker Quack
 |  aktualisiert: 15.07.2024 09:00 Uhr

Das Interview bei ihm im Büro an der Universität Würzburg - für Dino Capovilla hat es was von Theater. "Schließlich muss ich die ganze Zeit spielen: So, wie ich jetzt dasitze, so wie ich jetzt blicke, würde ich das niemals tun." Am Tisch sitzt Capovilla, wie ein Sehender sitzt. Und er blickt, wie ein Sehender blickt. "Normale" Verhaltensweisen - "die trainieren wir uns an". Bei einer blinden Bekannten, sagt der sehbeeinträchtige Professor, gehe das so weit, dass sie im Gespräch ständig nicke.

Seit Herbst 2020 leitet Dino Capovilla den neu geschaffenen Lehrstuhl für Pädagogik bei Sehbeeinträchtigungen, sowie allgemeine Heil-, Sonder- und Inklusionspädagogik an der Universität Würzburg. Gerade hat er ein wenig Schlagzeilen gemacht, weil er ein vielfach gelobtes und ausgezeichnetes Kinderbuch zu Inklusion heftig kritisierte. Ein Gespräch über seine eigene Sehbeeinträchtigung, über Förderschulen - und die größten Barrieren.

Professor für Pädagogik bei Sehbeeinträchtigung, der selbst sehbeeinträchtigt ist. Klingt logisch - und ungewöhnlich zugleich. Wie konsequent, wie gerade war Ihr Weg an die Universität?

Dino Capovilla: Das waren viele glückliche Umstände. Mein Traumberuf wäre Arzt gewesen. Das ging aufgrund meiner Sehbeeinträchtigung nicht. Ich habe dann von dem Studium der Informatik und der theoretischen Medizin in München gehört, das kam meinem Traumberuf am nächsten. So wurde ich Lehrer für Mathematik und Informatik. Zunächst in Südtirol, dann in Deutschland. Doch die Klassen waren hier zu groß. Über 30 Schülerinnen und Schüler - die waren aufgrund der Stimmen und Geräusche für mich nicht differenzierbar. Schließlich bin ich zurück an die Uni, habe in Didaktik der Informatik promoviert - und mit dem Thema Inklusion den damaligen Zeitgeist getroffen.

Spüren Sie Vorurteile?

Capovilla: Selbst Eltern die ein behindertes Kind großziehen, sind zunächst mit ihren eigenen Vorurteilen konfrontiert. Auch mir geht das so, wenn ich etwa einem Menschen im Rollstuhl begegne. Vorurteile helfen uns, Situationen, in denen wir Dinge nicht vorhersehen können, zu erleichtern. Das sind auch Erklärungsmodelle. Die können positiv sein. Leider sind sie meistens negativ, wenn es um Behinderung geht. Allerdings - und das hat sich in den letzten 30 Jahren geändert -  sind Menschen heute viel zurückhaltender, diese Vorurteile mitzuteilen. Ich werde heute mit sehr wenig Ablehnung aufgrund meiner Behinderung konfrontiert.

Professor Dino Capovilla am Fenster in seinem Büro an der Uni Würzburg.
Foto: Ivana Biscan | Professor Dino Capovilla am Fenster in seinem Büro an der Uni Würzburg.
Dann 30 Jahre zurück:  Sie sind in Stuttgart geboren, haben Ihre Schulzeit aber in Südtirol verbracht. Dort gab es keine Förderschulen, sondern - bis heute - Inklusion von Anfang an. Ein Vorteil?

Capovilla: Seit den 1970er Jahren gibt es in Südtirol zwar keine Förderschulen mehr, aber es gibt Klassen, in denen zum Beispiel nur Kinder mit geistiger Behinderung lernen. Kinder mit einer Sehbeeinträchtigung aber sind damals bereits zusammen mit anderen Kindern unterrichtet worden, es gab keine spezielle Unterstützung. Meine Integrationshelfer waren Lehrer, die gerade keinen Job hatten.

Ist Ihre Mutter extra wegen der Schule mit Ihnen nach Südtirol gegangen?

Capovilla: Da kam vieles zusammen. Sicherlich auch das Heimweh einer Gastarbeiterfamilie. Zudem war in den 80er Jahren hier in Deutschland noch viel Ablehnung für Menschen mit einer Behinderung zu spüren. Meine vier Jahre ältere Schwester, die auch sehbeeinträchtigt ist, hat das zu spüren bekommen. Zu meiner Einschulung ist meine Mutter deshalb mit uns nach Bozen gezogen.

Und wie war es in der klassischen Schule?

Capovilla: Natürlich sind mir da auch Sachen entgangen. Ich hatte nie den Luxus, dass mir meine Wünsche aufgrund der Sehbeeinträchtigung von den Augen abgelesen wurden. Das können spezielle Förderschulen leisten. Dafür können Menschen, die ausschließlich dort unterrichtet werden, gewisse soziale Kontakte nie knüpfen.

Gab es Hänseleien?

Capovilla: Ja total.   

Wie sind Sie damit umgegangen?

Capovilla: Das hat mich schon fertig gemacht. Gerade in der kritischen Zeit der 5. bis 7. Jahrgangsstufe, wo es richtig zur Sache geht. Solche Hänseleien sind übrigens in Deutschland häufig die Ursache, dass Kinder an die Förderschule wechseln.

In Deutschland wird kontrovers diskutiert, ob wir überhaupt noch Förderschulen brauchen. Was ist Ihre Meinung?

Capovilla: Früher gab es in der Sonderpädagogik das Ziel, Menschen für ein selbstbestimmtes, autonomes Leben zu entwickeln. Inklusion heißt für mich, dass wir die Bildungsziele für alle Kinder gleich ansetzen. Nämlich junge Menschen in der eigenen Generation verankern. Und wir selektieren nach beruflichen Voraussetzungen. Wenn diese Ziele für alle gleich sind, stellt sich die Frage,  gelingt das besser in der Förderschule oder in der Regelschule? Darum brauchen wir jede Schule, die das besser kann. Wenn eine Förderschule besser Bildung produziert, mehr Schüler zu Abschlüssen bringt, brauchen wir eine Förderschule. Wir brauchen aber auch mehr soziale Verankerung, die kann vielleicht besser die Regelschule bieten. Unter Umständen aber auch der geschützte Raum einer Förderschule. Ich sehe eigentlich kein Motiv, warum man die UN-Behindertenrechtskonvention so auslegt, dass wir neue Türen aufmachen, aber gleichzeitig unbedingt alte schließen müssen.

Das heißt, Inklusion und Förderschule schließen sich nicht aus?

Capovilla: Ich verstehe nicht ganz, wo das fehlende Selbstbewusstsein von Förderschulen herkommt. Das sind richtig stark ausgestattete Schulen mit Schwimmbädern, großen Klassenräumen und guter technischer Ausstattung. Meine Vision wäre, dass die Förderschule eine Art privilegierte Regelschule wird. In einigen Bundesländern öffnen sich Förderschulen für Kinder ohne zugeschriebenen Förderbedarf bereits. Die Vorteile dort sollten dazu führen, dass es Wartelisten gibt - für die, die ohne Beeinträchtigung dort lernen dürfen. Das wäre besser als eine "Resteschule", die diejenigen auffängt, bei denen es nicht gelingt, sie in der Regelschule zu integrieren.

Barrierefreiheit heißt auch Braille-Schrift an den Türschildern öffentlicher Gebäude - wie hier in der  Grundschule in Randersacker (Lkr. Würzburg).
Foto: Antje Roscoe | Barrierefreiheit heißt auch Braille-Schrift an den Türschildern öffentlicher Gebäude - wie hier in der  Grundschule in Randersacker (Lkr. Würzburg).
Was könnte so eine Förderschule besser als eine Regelschule?

Capovilla: Sie schneidet die Bildung besser auf den einzelnen Menschen zu. Das ist ein Ansatz in der Sonderpädagogik. Es gibt kleinere Klassen, mehr Interaktion und für die Kinder mit Beeinträchtigungen eine spezielle Expertise. Zum Beispiel die Braille-Schrift für sehbeeinträchtigte Lernende, die in Italien kaum mehr gelehrt wird, weil die Lehrkräfte an Regelschulen sie nicht beherrschen und weitergeben können.

Wie wichtig ist die Braille-Schrift für sehbeeinträchtigte Menschen angesichts der Digitalisierung denn überhaupt noch?

Capovilla: Ein Kind, das weder die gedruckte Schrift noch die Braille-Schrift lesen kann, ist Analphabet. Sicher, wenn ich mit dem Computer arbeite, gibt es die Möglichkeiten der Sprachausgabe, die ist auch schneller. Braille-Schrift dagegen muss ich erst mühsam erlernen. Und ich erreiche damit nur durch viel Übung annähernd die Geschwindigkeit wie beim Lesen schwarz auf weiß. Wenn ich aber nur noch die Sprachausgabe nutze, schreibe ich irgendwann auch in Lautsprache: Vogel mit F, Service mit w. Das hat massive berufliche Nachteile. Braille öffnet erblindeten Menschen den Zugang zur Kultur. Es ist ein Unterschied, ob ich Lyrik höre - oder selbst lese.

"Es ist ein Unterschied, ob ich Lyrik höre - oder selbst lese."
Prof. Dino Capovilla über den Zugang zu Schrift und Kultur
Ganz grundlegend gefragt: Wann ist ein Mensch behindert?

Capovilla: Behinderung ist im ersten Schritt eine sozialrechtliche Kategorie - und sonst gar nichts. Diese Kategorie wurde geschaffen, um Menschen, die systematisierbare Bedarfe haben, zu unterstützen. Behinderung, insbesondere Sehbeeinträchtigung, hat einen Kern in meiner Biologie. Aber neben diesem Kern gibt es einen Haufen an gesellschaftlichen Konzepten und Strukturen, die dazu führen, dass ich in bestimmten Situationen behindert bin: Stufen, komplizierte Behördenbriefe, Bushaltestellen, die ich nicht finde. Behinderung ist immer etwas Situatives, immer etwas Relatives, abhängig von den äußeren Rahmenbedingungen. Statistisch lässt sich nachweisen, dass Menschen mit einer Behinderung schlechtere Lebensbedingungen haben als Menschen ohne eine Behinderung. Ich würde auch bestimmte Ausgrenzungserfahrungen als Teil der Behinderung sehen.

Stichwort Rahmenbedingungen. Orientiert sich die staatliche Förderung nicht nach wie vor sehr stark daran, behinderte Menschen von "hilflosen" zu "nützlichen" Mitgliedern der Gesellschaft zu machen?

Capovilla: Darauf ist in Deutschland in der Tat alles ausgerichtet. Teilhabe muss hier irgendwann in Erwerbstätigkeit münden. Aber soziale Verankerung passiert auch in der Freizeit. Und dafür bräuchten Menschen mit Beeinträchtigungen viel dringender eine Assistenz, die sie bislang bislang in der Regel nur für die Schule oder Berufstätigkeit bekommen. Wir sollten darüber nachdenken, ob Erwerbstätigkeit wirklich das letzte Ziel für Menschen mit Behinderung sein soll. Warum ertragen wir nicht, dass sich Menschen beispielsweise im Behindertensport oder als Influencer auf Youtube viele besser verwirklichen können? Warum ertragen wir nicht, dass ein Kind einen Schulabschluss bekommt, den es nicht so ganz "verdient" hat? Die sogenannten zieldifferenzierten Schulabschlüsse sind bei der Suche nach einem Arbeitsplatz nichts wert. Die Beschäftigungsquote von Menschen mit Behinderung ist in Deutschland extrem gering. Bei blinden Menschen liegt sie bei 25 Prozent. Wenn wir Inklusion über Arbeit realisieren, müssen wir eingestehen, dass wir furchtbar erfolglos sind.

"Die perfekte Welt für alle gibt es nicht."
Dino Capovilla über Hilfen und Hemmnisse
Was fehlt bei uns, damit wirklich alle ein gleichberechtigter Teil der Gesellschaft werden?

Capovilla: Ich habe mal unvorsichtigerweise von der Barrierearmut statt von der Barrierefreiheit gesprochen, was von Kollegen zu der Aussage führte, dass ich vor der Wirklichkeit kapituliere. Ein bisschen stimmt das ja auch. Dennoch ist Barrierefreiheit der Hauptanteil, den die Gesellschaft leisten kann.

Was meinten Sie mit Barrierearmut?

Capovilla: Dass wir keine Barrierefreiheit schaffen, die für alle passt. Das klassische Beispiel ist die Bordsteinkante. Für Menschen mit Sehbeeinträchtigung ist sie ganz wichtig zur Fortbewegung, weil sie Orientierung für den weißen Stock gibt. Für Rollstuhlfahrer stellt sie hingegen eine Behinderung dar. Die perfekte Welt für alle gibt es nicht, aber es gibt sinnvolle Konzepte von Barrierefreiheit. Die müssen wir kennen, verstehen und auch umsetzen wollen. Dadurch entsteht das Gefühl von Zugehörigkeit, das Gefühl willkommen zu sein. Es entsteht nicht, wenn erst eine Rampe gebaut wird, wenn der erste Rollstuhlfahrer vor der Tür steht.

Wo erleben Sie selbst die größte Behinderung?

Capovilla: Das ist ganz klar die Mobilität. Ich gehe zu Fuß mit meinem Stock und nutze den öffentlichen Nahverkehr. Gerade in Würzburg funktioniert das GPS zur Orientierung nicht überall, und es gibt hier kein Street-View, das mir die Planung meiner Wege viel leichter machen würde. Wenn dann noch Busfahrer die Sprachdurchsagen abgeschaltet haben, ich die Busnummern nicht lesen kann, mein Bus an der Haltestelle nicht an der üblichen Stelle hält, macht mir das schon Stress.  Mehr Straßenbahnlinien wären für mich Luxus.

 
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