Im Gespräch ist die Direktorin des Würzburger Amtsgerichts freundlich, aber zurückhaltend – wie es das Amt verlangt. Aber wer gut zu Fuß ist, erfährt viel über Helga Twardzik, wenn er sie durch die langen Gänge des Gerichtsgebäudes begleitet: Die Direktorin übernimmt sofort die Führung, legt in ihrem eleganten Rollstuhl ordentlich Tempo vor. Von bevorstehendem Ruhestand ist nichts zu merken: Sie rollt so flott voran, dass selbst Jüngere Probleme haben, mit ihrem ehrgeizigen Tempo mitzukommen.
Höflichkeit schätzt sie – aber nicht, wenn ihr jemand in altbackener Manier Türen aufreißen will. Das mag sie nicht. Die 64-jährige Würzburgerin hat als querschnittgelähmter Mensch gelernt, sich Türen zu öffnen, die ihr im Rollstuhl verschlossen schienen. Auf dieses Stück Selbstbehauptung besteht sie nun auch.
Kein Gericht ist näher am Alltagsleben als das Amtsgericht
Ohne Umwege rollt die Frau im schicken Blazer die langen Gänge entlang zu ihrem Ziel. Und ist dort mit einem Gesprächspartner schon bei dem Thema, das sie hierher führte, während man selbst noch Atem holt.
Dass die Richterin im Rollstuhl 2013 Chefin eines der acht Amtsgerichte in Unterfranken wurde, zeigt, wie viel Vertrauen die Justiz in sie hat: Kein Gericht ist näher am Leben als das Amtsgericht. Die 73 Amtsgerichte in Bayern sind für alles zuständig, was alltäglich passiert: Wenn Jugendliche stehlen, Eheleute sich fetzen, Raser erwischt werden, jemand ein Haus kauft, erbt oder betreut werden muss.
Als Helga Twardzik nach 26 Jahren bei der Justiz 2013 Direktorin wurde, bescheinigte ihr Oberlandesgerichtspräsident Clemens Lückemann "hohe Entschlusskraft, umfassendes Urteilsvermögen und unbegrenzten Einsatzwillen bei zugleich hilfsbereiter und einfühlsamer Lebensart". All diese Eigenschaften seien "beste Voraussetzungen für die Leitung" des Würzburger Amtsgerichts.
Heute sagt Lückemann aus dem Ruhestand im Würzburg: Er sehe sich bestätigt und würde das auch heute so unterschreiben, "Wort für Wort".
Die Modernisierung des Gerichts erleichterte ihren Aufstieg
Twardzik selbst sagt: Zu ihrem Amtsverständnis gehöre, dass sie trotz ihrer Behinderung zu jedem Mitarbeiter aus eigener Kraft kommen kann. Ihre Berufung zur Direktorin war auch ein Symbol und Mutmacher: Dass es Bayern Ernst meint mit der Integration behinderter Menschen – und dass die es bis in Spitzenpositionen der Justiz im Freistaats schaffen können.
Früher war das Würzburger Amtsgericht auf mehrere alte Häuser quer durch die Stadt verteilt: das Registergericht in der Landwehrgasse, ausgelagerte Abteilungen in der Virchowstraße und der Kösterklinik, Hauptsitz in der Ottostraße – nicht barrierefrei, dafür mit steilen Treppen, teils ohne Fahrstuhl.
Twardzik weiß: Die Zentralisierung aller Abteilungen samt sieben Jahren Umbau und Modernisierung in der Ottostraße kamen ihr entgegen. Da habe sich bei der Justiz vieles für behinderte Menschen zum Besseren gewandelt, sagt sie. Was sie nicht eigens erwähnt, aber vorlebt: Dass Helga Twardzik - eine von 1,5 Millionen Rollstuhlfahrenden in Deutschland - durch ihr Beispiel gehörig dazu beiträgt, Menschen mit einer Behinderung als gleichwerte Kollegen zu akzeptieren, sogar als Chefin.
Als Achtjährige wurde sie von einem Auto angefahren
Wer mit Twardzik ins Gespräch kommen will, muss die Scham vor dem Thema überwinden, das untrennbar Teil ihres Lebens ist: Sportlich-elegant ist ihr Rollstuhl-Modell, technisch auf dem neuesten Stand - aber auch Kennzeichen eines Andersseins, das ihr Gegenüber schnell verlegen macht.
Twardzik spricht darüber, als sei es das Normalste auf der Welt. Aber als Chefin eines Amtsgerichts ist sie Vorbild, steht stark im Blickfeld der Öffentlichkeit. Und weiß, dass der Erfolg Neider hat, die hinter vorgehaltener Hand flüstern: Kann die das – trotz Behinderung? Sie beweist, dass sie es kann. Tag für Tag.
Ein Unfall stellte 1966 unbarmherzig die Weichen für ihr Leben: Als Achtjährige wurde sie vor dem Haus ihrer Eltern in der Nähe von Giebelstadt von einem Auto angefahren, erlitt unheilbare Verletzungen am Rücken. Ein Jahr lang lag sie in einer Klinik, jahrelange Behandlungen folgten. Als sie im Rollstuhl in den Alltag zurückkehrte "war ich zur Außenseiterin geworden" erinnert sie sich.
Am Schönborn-Gymnasium trugen sie drei Schüler treppauf und treppab
Aber Helga Twardzik biss die Zähne zusammen, kämpfte um ihre Eigenständigkeit. Sie erinnert sich an Etappen, die viel mit Türen zu tun haben. Am Schönborn-Gymnasium in Würzburg gab es keinen Aufzug. Aber dann öffnete das Schicksal eine Tür: "Meine Eltern erklärten einen Haftungsverzicht, als der mutige Direktor einen Ausweg fand", erinnert sie sich: Drei Schüler erklärten sich bereit, sie treppauf und treppab zu tragen – bis zum Abitur. "Wir wurden damals schnell ein eingespieltes Team."
Auch an der Würzburger Uni gab es einen verständnisvollen Kanzler. Der verschaffte dieser ehrgeizigen jungen Jura-Studentin im Rollstuhl Schlüssel, mit denen sich unorthodox Türen öffnen ließen. "Ich habe mir viele Wege selbst gesucht", sagt Twardzik schmunzelnd. "Nicht immer die kürzesten. Aber ich lernte, auch auf Umwegen zum Ziel zu kommen."
Viele Berufe waren der Rollstuhlfahrerin verwehrt. Noch heute erinnert sie sich an einen wenig feinfühligen Personalreferenten, der die erste halbe Stunde im Bewerbungsgespräch damit verbrachte, ihr zu erklären, warum sie nicht für die Stelle geeignet sei. Auf dem Weg zur Vorstellung im Justizministerium beschloss sie: "Wenn man mir da eine Chance gibt, mache ich das."
Sie machte Schlagzeilen, als sie 2007 die Deutsche Bank verurteilte
Aus der Chance wurde dann ein 35-jähriger Berufsweg bis an die Spitze des Amtsgerichts in Würzburg. Sie kennt aus eigenem Erleben, wie viel Fingerspitzengefühl im Familiengericht erforderlich ist, wenn es menschelt. Sie musste urteilen über die Geschäfte von Gaunern, die am Kapitalmarkt naiven Kunden das Geld aus der Tasche zogen. Und Twardzik sorgte für Schlagzeilen, als sie 2007 im Swap-Prozess die Deutsche Bank verurteilte, die Stadt Würzburg für Millionenverluste bei riskanten Zinsgeschäften zu entschädigen.
Heute erwähnt keiner ihrer Kollegen und Kolleginnen mehr den Rollstuhl, wenn er oder sie über Twardzik redet. Andere machten Karriere an Nachbargerichten, die nicht barrierefrei sind wie in Würzburg. Helga Twardzik blieb in Würzburg, erwarb sich hier Respekt, mit eiserner Disziplin. Manche am Amtsgericht sagen, sie sei höflich, aber zu Mitarbeitern ähnlich hart und fordernd wie zu sich selbst. Sie selbst sagt von sich: "Mir ist wichtig, dass ich da, wo ich arbeite, gut arbeite." Und: "Man muss nahe an die Menschen ran."
Als die Richterin auf Händen getragen wurde
Sie hat bewiesen, dass sie das Gericht so gut führen kann wie ein Mensch ohne Behinderung – auch, wenn sie vor Überraschungen nicht immer gefeit war. Hinter vorgehaltener Hand erzählten Mitarbeiter später die Anekdote von einem überraschenden Feueralarm, als Twardzik gerade ganz oben im Gebäude unterwegs war. So selbstverständlich war inzwischen ihr Dasein geworden, dass niemand Vorkehrungen getroffen hatte.
Doch nun war der Fluchtweg über die Fahrstühle verwehrt, Helga Twardzik schien gefangen: Wie sollte die Richterin im Rollstuhl – nicht nur bei einem Probealarm - die Treppen hinunterkommen und zum Ausgang? Der hünenhafte damalige Landgerichtspräsident Peter Schauff fackelte nicht lange - und trug seine Kollegin auf Händen selbst die Treppe hinunter.
Die Geschichte, wie die Richterin auf Händen getragen wurde, wurde im ganzen Gerichtsbezirk erzählt. Aber heute steht für ähnliche Fälle eine professionelle Transport-Trage griffbereit in einer diskreten Ecke vor ihrem Büro.
Es fällt ihr nicht leicht, sich in den Ruhestand zu verabschieden
Als Direktorin sah sich Twardzik immensen Veränderungen des Arbeitsalltages gegenüber: elektronische Akte, um Verfahren zu beschleunigen, Videovernehmung, Teilzeit-Richterinnen, Homeoffice und kräftezehrende Corona-Zeit. Oft brannte das Licht noch abends in ihrem Büro. Nur selten sah man sie, oft flankiert von ein, zwei Kollegen, auf dem Weg zum Essen oder einem Glas Wein nach Feierabend.
Noch immer steht sie an jedem Arbeitstag schon vor Sonnenaufgang auf, um pünktlich um 7.30 Uhr im Büro zu sein. Das alles endet, wenn Helga Twardzik Ende Juli in Pension geht, mit 64 Jahren. "Es fällt mir nicht ganz leicht", sagt sie. "Es war mir immer eine Freude, für den Rechtsstaat eintreten zu können, mitgestalten zu dürfen." Andere werden es künftig vielleicht ein bisschen leichter haben als sie, hofft sie. Aber ihr Körper sende Signale, dass es allmählich genug sei und sie sich nun endlich mal um sich selbst kümmern soll: Arm und Schulter schmerzen – auch vom lebenslangen Türen öffnen.
Twardzik will in Würzburg bleiben. Nicht, um eine neue Tür zu öffnen, wie andere Richter nach der Pensionierung: "Ich werde nicht als Rechtsanwältin arbeiten," verkündet sie. "Das liegt nicht in meiner Natur." Die Hände in den Schoß legen? Kann sie sich auch nicht vorstellen: Vielleicht etwas Ehrenamtliches? Könnte sein. "Wer rastet, der rostet", sagt sie.