Schritt für Schritt nähert sich das Landgericht Würzburg im Prozess um den Messerangriff auf dem Barbarossaplatz vor genau einem Jahr der entscheidenden Frage: Ist der Beschuldigte schuldfähig? Ausführlich äußerte sich an diesem Freitag, dem zehnten Verhandlungstag, dazu Professor Dominikus Bönsch, Direktor der Psychiatrischen Klinik in Lohr und des Zentrums für seelische Gesundheit (ZSG) in Würzburg.
Bönsch schilderte, dass Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen den Beschuldigten "nicht als herausstechenden Patienten wahrgenommen" hätten: "Da haben wir in Lohr im Jahr bestimmt 100 Patienten, die mit ähnlichen Symptomen kommen." Gleichwohl hätte, so der Psychiater, die Ausgangssituation des Somaliers "nicht schlechter sein können": ohne Wohnung, ohne Arbeit, ohne familiäre oder soziale Einbindung.
Mitarbeiter erlebten Patienten als "bedrohlich"
Abdirahman J. sei vier Mal im ZSG in Würzburg behandelt worden, man habe "Psychose-artige Zustände" und "ausgeprägte Ängste" diagnostiziert. Mitarbeiter hätten den Geflüchteten bei seinem Erscheinen als "als bedrohlich erlebt". Das, erklärte Bönsch, sei aber keine Seltenheit in der Einrichtung. Manche Erkrankte würden "das Gefühl haben, sich gegen die Wahnvorstellungen verteidigen zu müssen". Der Zustand des Somaliers habe sich in der Therapie jedes Mal schnell verbessert.
Am Nachmittag des 25. Juni 2021 hatte der damals 31-Jährige in der Würzburger Innenstadt mit einem Messer drei Frauen im Alter von 24, 49 und 82 Jahren getötet. Weitere sechs Personen, darunter ein elfjähriges Mädchen, wurden schwer verletzt.
Hätte die Tat durch das Zentrum für seelische Gesundheit verhindert werden können? "Nein", sagt Bönsch. Seine Mitarbeiter und er würden sich mit dieser Frage seit einem Jahr "martern". Die rechtlichen Hürden für eine "zwangsmäßige Behandlung" eines Patienten seien aber "unglaublich hoch". Bei der Entlassung von Abdirahman J. seien sich die Mitarbeiter sicher gewesen, "dass es keine Anhaltspunkte für Selbst- und Fremdgefährdung gab". Der Somalier habe die Klinik entgegen dem ärztlichen Rat verlassen.
"Welche Möglichkeit hätten Sie in der Situation denn gehabt, den Patienten gegen seinen Willen festzuhalten?", fragt am Freitag einer der Richter. "Keine", antwortet Bönsch. Ob die psychiatrische Einrichtung dann nur eine Art "Feuerwehr in kritischen Situation" sei? Bönsch widersprach: Rund die Hälfte der Betroffenen werde in der akuten Situation von der Polizei gebracht. In rund zwei Dritteln der Fälle bräuchten Patienten mehrere Anläufe, um sich auf eine längerfristige Behandlung einzulassen.
"Die Patienten baden ein Dilemma aus", sagt Bönsch. In den vergangenen Jahren seien die Behandlungsmöglichkeiten für Psychiater zugunsten der Freiheitsrechte eingeschränkt worden. Gleichzeitig seien Betreuungsmöglichkeiten "nicht in ausreichendem Maße" ausgebaut worden.
Psychiater: Medikamente zeigten beim Beschuldigten Wirkung
Verteidiger Hanjo Schrepfer hakte in der Verhandlung hartnäckig nach: Schon im Januar 2021 hatte der Beschuldigte in seiner Unterkunft zwei Mitarbeiter mit einem Messer bedroht, Monate später war er einfach zu einem Fremden ins Auto gestiegen und hatte gefordert, ins ZSG gefahren zu werden. "Hätten Sie da nicht eine Unterbringung stärker prüfen müssen?", fragte Schrepfer. Bönsch wies darauf hin, dass der Beschuldigte auf die Medikamente schnell reagiert habe. "Wir hätten Hinweise auf eine akute Gefährdung gebraucht." Doch die habe es nicht gegeben.
Eindrucksvoll schilderte Dr. Markus Benz in welchem Zustand der Festgenommene nach seiner Bluttat war, als er von Würzburg in die psychiatrische Klinik nach Haar bei München verlegt wurde: überzeugt, dass ihn täglich ein großer schwarzer Vogel besuche und ihm Befehle erteile, überzeugt, von Agenten verfolgt zu werden, überzeugt, dass der deutsche Geheimdienst ihn zu einer Frau machen will.
Der Beschuldigte blieb, zeitweise streng isoliert, bis zum Prozessbeginn in diesem April in Haar untergebracht. Er habe fünf Mal am Tag gebetet und aggressiv reagiert, wenn er glaubte, in seinem vegetarischen Essen sei Schweinefleisch, schilderte Benz. Davon abgesehen sei der 32-Jährige friedlich und kommunikativ gewesen. Einmal habe er sich gezielt nach dem jüngsten Opfer erkundigt. Abdirahman J. habe genau wissen wollen, ob es noch Kind oder schon Frau war, erinnert sich der Arzt. Es sei das erste und einzige Mal gewesen, dass der Beschuldigte von sich aus eine Frage stellte.
Der Prozess wird am Montag, 27. Juni, um 10 Uhr in den Mainfrankensälen in Veitshöchheim (Lkr. Würzburg) fortgesetzt.
"Doch die habe es nicht gegeben."
Die Bedrohung mit einem Messer ist also kein Hinweis auf eine akute Gefährdung? Das soll verstehen wer will. Ich verstehe es jedenfalls nicht!
Die Medikamente hätten immer schnell gewirkt, ja. Aber in der Natur psychischer Erkrankungen liegt ja meist eine fehlende Krankheitseinsicht. Das heißt, der Patient ist "wieder da", fühlt sich wieder wohl, und damit fällt seine Bereitschaft, weiter Medikamente zu nehmen. Warum auch, denkt er, ich hab doch nichts (mehr).
Also muss man ihn entlassen (er ist ja "gut eingestellt" und daher keine Gefahr für sich und andere), kann sich aber an allen Fingern abzählen, dass er seine Medikamente nicht weiter nehmen wird (das überwacht ja nun niemand mehr), und das Ganze bald wieder von vorne losgehen wird.
Dafür gibt es wohl bis heute keine wirkliche Lösung, die mit einer Rechtsstaatlichkeit unter Berücksichtigung der Menschenrechte vereinbar ist.
Sehr problematisch.
Hier wird von einem Versagen abgelenkt! Also nix mit Feuerwehr