Die zwei Welten seiner Wohnung verraten auch etwas über das Wesen des Paul-Werner Scheele. Das Arbeitszimmer: Übersät mit Büchern. In Regalen. Auf Tischen. Selbst auf Stühlen. Auf dem Schreibtisch. Scheele, der Arbeitssüchtige. Das Wohnzimmer: Luftig. Fast leer. Ein Klavier. Scheele, der Musenfreund.
Der Blick aus dem Fenster geht weit in die Stadt, die Spitzen des Doms stechen wie Nadeln aus dem Ziegelmeer. Spontan setzt sich der emeritierte Bischof an sein geliebtes Instrument. Doch Scheele spielt nur wenige Minuten. Das Notenlesen ist schwierig geworden. „Die Augen machen nicht mehr so mit.“ Scheele bedauert dies. „Ich habe sonst jeden Tag gespielt.“
Erstmals als Soldat in Franken
Es scheint, dass feste Strukturen und Gewohnheiten Garanten für ein langes Leben sein können. Scheeles Geist ist jung, die Erinnerungen an die Jugendzeit sind präsent, und der westfälische Schalk blitzt immer wieder durch, wenn er redet. Und es gibt viel zu reden. An diesem Freitag feiert Paul-Werner Scheele seinen 90. Geburtstag. Dieses Gespräch ist auch eine Art Bilanz des Lebens. Ein Rückblick. Eine Mahnung. Eine Annäherung an die persönliche Endlichkeit.
Paul-Werner Scheele kam nicht als Priester, sondern als Soldat erstmals ins Frankenland. Unvergessen sei der erste Blick ins Maintal gewesen: „Frühling. Helles Grün. Die Dächer der Häuser im Maintal“ – all das habe sich eingebrannt. Es war Palmsonntag 1945. Scheele gehörte zu einer Spezialeinheit der Luftwaffe, die für Hochfrequenztechnik zuständig war. Auf der Anhöhe zwischen Schaippach und Gemünden blickte er hinterunter auf den Main: „Wenn man nicht weiß, ob man am nächsten Tag noch lebt, schaut man die Welt mit anderen Augen an.“
Flucht über die Rhön und Hessen
Am nächsten Morgen setzte sich Paul-Werner Scheele von seiner Einheit ab und machte sich auf den Heimweg nach Olpe. „Es war ein Abenteuer auf Leben und Tod“, erinnert er sich an die Flucht. „Dieses Erlebnis hat mich geprägt. Wenn sie mich erwischt hätten, wäre ich aufgehängt oder erschossen worden.“ Der damals 16-Jährige schlug sich durch über die Rhön und Hessen bis in seine Heimat. Kein fanatischer Nazi hielt ihn auf oder denunzierte ihn. Olpe brannte, das Nachbarhaus war zerstört, seine Familie hatte sich zu einem Vetter auf einem Bauernhof in Sicherheit gebracht. „Das sind Dinge, die man nie vergisst“, sagt Scheele, und es ist zu spüren, wie er da in seinem Sessel sitzt, dass ihn die Erinnerung an die schrecklichen Tage des Krieges auch nach über 70 Jahren berühren: „Wir waren doch erst 16 oder 17. Meine Güte, was hat man mit uns angestellt.“
Olpe sei sehr katholisch geprägt gewesen. „Die Nazis hatten es schwer hier“, sagt er. Sicher, er war auch in der Hitlerjugend. Aber als Schüler habe er das nicht weiter ernst genommen. Er habe als Knabe gar gegen die Nazis demonstriert, die ein Kloster der Pallottiner besetzen wollten. „Ich war ein kleiner Bursche und kein Held des Widerstands, aber es war ein gefährliches Abenteuer.“ Einer der Älteren sei gefangen worden und ins KZ gekommen.
Der Krieg hat Scheele früh erwachsen werden lassen
Für ihn hätten in der HJ die Freizeitaktivitäten im Vordergrund gestanden. „Wir haben Flieger-Modelle gebaut.“ Welche Verbrechen in der Zeit des Nationalsozialismus geschehen sind, sei ihm erst später bewusst geworden. „Die Geschichte wird nach vorne gelebt und rückwärts verstanden“, so Scheele.
Mit der Flucht auf den Bauernhof des Vetters war für Scheele der Krieg zu Ende. Die Erfahrungen haben ihn früh erwachsen werden lassen. „Heute können junge Menschen ins Ausland reisen. Für uns waren Engländer oder Franzosen Todfeinde“, sagt der 90-Jährige und gibt der Jugend mit auf den Weg: „Freut Euch, dass ihr in solchen Verhältnissen leben könnt, wie sie heute der Fall sind. Es ist ja Mode geworden, sich über alles zu beschweren.“ Aber die Lebensumstände in Deutschland seien „im Vergleich zu unserer Vergangenheit und zu den meisten Ländern der Erde doch ganz positiv“. Das dürfe nie aus dem Blick geraten. Er rät der Jugend: „Macht Euch Gedanken über die Welt und meldet Euch zu Wort. Ihr habt es in der Hand, was aus unserer Zeit wird.“
Scheele: „Es gab kein Bekehrungserlebnis“
Nach dem Krieg musste sich Scheele entscheiden. Er wollte das Abitur nachmachen – eigentlich im naturwissenschaftlichen Zweig. Doch der war bereits überfüllt. Und da er einer der Jüngsten war, gab er nach und ging in den sprachlichen Zweig. Ob er bei einer anderen Entscheidung auch Priester geworden wäre? „Ich hoffe es“, sagt Scheele und lächelt. Für seinen theologischen Werdegang gab „es kein Bekehrungserlebnis“, so der emeritierte Bischof. „Ich war lange auf der Suche. Es war ja gerade eine Welt zusammengebrochen und ich stellte mir die Fragen: Was ist wahr? Worauf kannst du dich verlassen?“ Scheele fand die Antworten in Gott.
Bereits mit 24 Jahren schrieb er sein erstes Buch. Zu dieser Zeit war er Kaplan an einer Berufsschule in Paderborn. Zehn Jahre hat er dort unterrichtet. Wie viele Werke bis heute aus seiner Feder sind, weiß er nicht mehr genau. „Über 50 dürften es sein.“ Aber dieses erste Buch über Glaube und Lebensfragen mit dem Titel „Licht, Leben, Liebe“ war mit vier Auflagen nicht nur sein erfolgreichstes, „es hat mich auch nach Würzburg gebracht“.
„Ich wollte ein normaler Pfarrer sein“
Der Verleger in Paderborn machte ihn auf einen „großen Theologen und Philosophen der Jahrhundertwende“ aufmerksam: auf Hermann Schell. Er starb 1906 in Würzburg. Und ein Würzburger Professor beschäftigte sich mit seinem Nachlass. Die Neugierde von Paul-Werner Scheele war geweckt. Schells Werke standen in den 1950er Jahren auf dem Index. Normalerweise bedeutete dies das Aus jeder katholischen Kirchenkarriere. Doch Scheele verfolgte hartnäckig seine Rehabilitation und erreichte, dass die Glaubenskongregation nachgab. „Sie hat sich über meine Publikation selbst korrigiert.“ Paul-Werner Scheele kam von Würzburg nicht mehr los und promovierte in der Domstadt, in der er 1979 zum Bischof geweiht wurde.
„Ich wollte ursprünglich ein normaler Pfarrer sein und nicht promovieren“, erinnert er sich, „das Leben ist doch auch so ganz schön“, fügt er in seinem eigenen trockenen Humor hinzu. Doch während einer Bergtour auf den 3900 Meter hohen Ortler ereilte ihn 1962 ein Telegramm und der Ruf ins Frankenland. Er sollte Assistent von Dogmatik-Professor Fritz Hofmann werden.
Ein Freund der Berge
Scheele liebt die Berge und „die Herausforderung und Gemeinschaft, die man erleben kann, wenn man einen Gipfel anzielt“. Jedes Jahr zog es den jungen Kaplan in die Bergwelt. In den Schulferien legte er sich nicht etwa auf die faule Haut, sondern fuhr mit Familien und Jugendlichen gen Süden.
Jetzt, wo die Endlichkeit am Horizont des Lebens deutlicher erkennbar wird, „macht man sich andere Gedanken als als junger Bursche“, sagt Scheele. Er hat keine Angst vor dem Tod. „Der Glaube ist die Hilfe, die einem das Ende mit Zuversicht sehen lässt. Wer glaubt, ist nicht alleine.“ An seinem 90. Geburtstag, sagt er, „verspüre ich vor allem eine große Dankbarkeit. Mir ist in meinem Leben so viel Positives geschenkt worden“. Den Festtag möchte Paul-Werner Scheele nicht groß feiern. Am Morgen um 9 Uhr feiert er eine Messe im Würzburger Dom, „damit hat sich das“. Eine Begegnung mit Gläubigen schließt sich an. Gibt es wenigstens ein besonderes Essen? Auch das nicht: „Ich esse, was auf den Tisch kommt.“
Wünsche an seinen Nach-Nachfolger
Seinem Nach-Nachfolger im Amt des Würzburger Bischofs, Franz Jung, wünscht Scheele „Gottes Segen und viel Zuversicht. Ich bin mir sicher, dass er das Amt sehr gut ausfüllen wird“.
Die Zeit im Arbeitszimmer ist verflogen. Es klopft leise. Schwester Regintrud streckt den Kopf durch den Türspalt. „Ehrwürdige Schwester, was können wir für Sie tun“, sagt Paul-Werner Scheele. „Es ist schon Viertel nach“, antwortet die Schwester. „Wir müssen gleich los.“ Sein Lächeln verfliegt. Bischof Paul-Werner Scheele schaut erschrocken zur Uhr. „Ich habe ja jetzt die Messe, du liebe Zeit.“
Messe bei den Erlöserschwestern
Gerne hätten wir noch gesprochen über seine Liebe zum Fußball und die WM 54, als er das Endspiel während einer Busfahrt durch die Lippische Diaspora erlebte und an jeder Haltestelle nach dem Ergebnis fragte. Oder die Ökumene. Die Gemeinschaft der Christen lag und liegt Scheele sehr am Herzen, und die schrecklichen Nachrichten aus Syrien und dem nahen Osten bedrücken ihn. Oder über Oberleinach, wo er als Professor die Pfarrei betreute und wo er diesen fränkischen Schlag von Menschen lieben gelernt hat, weil sie den Westfalen so ähnlich sind: zuverlässig, handfest. Oder seine Tante Paula, die ihn über viele Jahre begleitete und die mit 102 Jahren selbst auf dem Sterbensbett ihren westfälischen Humor nicht verloren hatte. Oder. Oder. Oder.
Paul-Werner Scheele ist ein wunderbarer Erzähler und ein ebensolcher Zuhörer. Aber die Zeit ist um. Die Messe in der Mutterkirche der Erlöserschwestern wartet. Der Bischof bindet sich die Schuhe und bittet nach draußen. „Priester“, sagt er noch zum Abschied, „ist man sein Leben lang“.