n besonderen Tagen, wenn plötzlicher Regen die flirrende Luft gewaschen hat, wirken die Strahlen der Sonne wie ein Fernglas. Als die Schwarzkiefern noch klein waren, droben auf dem Volkenberg bei Erlabrunn, ließ sich dann am nördlichen Horizont klar der Kreuzberg in der Rhön erkennen, mainaufwärts durchbrachen die Türme der Würzburger Marienburg die entfernten Hügel wie sprießender Spargel. Heute bildet der Wald eine spanische Wand aus verästelten Bäumen. Nur eine Schneise haben vor Jahren Arbeiter in das Holz geschlagen, und so wird der Blick des Wanderers hinunter geführt auf das Dörfchen mit seinen Fachwerkhäusern, die sich um die schlanke St.-Andreas-Kirche mit ihrem Echterturm ausbreiten wie die kleinen Wellen, die ein ins Wasser fallender Tropfen hinterlässt.
Nicht nur für Spaziergänger in dem 355 Meter hohen Naherholungsgebiet ist die Aussicht ein Genuss, auch drunten im Maintal bleiben die Menschen oft stehen und blicken hinauf, wo im Grün des Tanns ein weißes Kirchlein durchschimmert: das Erlabrunner Käppele. Vor 130 Jahren wurde es auf dem Thron des Volkenbergs errichtet und noch heute erinnert eine Steintafel im Innern an die Stifterin Katharina Küffner aus Oberleinach - verbunden mit einem gemeißelten Gebet:
Auf den Volksberg hohe Spitz
Hast du o Mutter deinen Sitz
Schau sanft und mild auf uns herab
Beschütz dein liebes Frankenland
Als der Turn- und Sportverein aus Erlabrunn im vergangenen Jahr sein 130-jähriges Bestehen feierte, herrschte im Dorf Gewusel wie in einem Ameisenhaufen. Die Blasmusik spielte, das Fassbier floss, der Fußball-Bundesligist 1. FC Nürnberg kam zu einem Gastspiel, und der Bürgermeister gratulierte. Heuer feiert niemand. Als vor 30 Jahren, im Spätsommer 1975, das 100. Jubiläum anstand, zelebrierte der Würzburger Weihbischof Alfons Kempf hoch über dem Maintal einen Festgottesdienst vor 2000 Gläubigen, so steht es in der Ortschronik von Karl Lott. Heute bleibt der Wald still wie die kleine Glocke im Zwiebeltürmchen.
Paul-Werner Scheele (77) findet das ein wenig schade, denn das Kirchlein und die Wanderwege auf dem Volkenberg sind dem Bischof von Würzburg, der das Bistum von 1979 bis 2003 geführt hat, fast so ans Herz gewachsen wie seine Dortmunder Borussia. Zu seiner Zeit als Professor in Würzburg hat er Ende der 60er Jahre eineinhalb Jahre in Oberleinach gelebt. Damals führte ihn der Weg oft über den Bergrücken ins Käppele, und auch während seiner Zeit als Bischof ist er ab und an der Hektik der Stadt für einen Spaziergang unterm Nadeldach der Schwarzkiefern entwischt. Die frische Luft beflügelte seine Gedanken, so manche Predigt ist hoch über Erlabrunn entstanden. "Wandern, bewusst atmen, die Natur, der Sinn der ganzen Schöpfung wird einem so bewusst vor Augen geführt", sagt Scheele.
"Das Käppele ist ein Ausdruck der Volksfrömmigkeit in Franken"
Altbischof Paul-Werner Scheele
Die kräftige Herbstsonne lässt die Farben der Pflanzenwelt leuchten wie das bunte Papier einer St.-Martins-Laterne. An den Hängen hier gedeihen Orchideen wie die Fliegen-Ragwurz, aber auch andere seltene Arten wie die Gewöhnliche Küchenschelle oder der Fransen-Enzian. Seine Schritte setzt Scheele bedachtsam wie seine Worte. Einen Nachmittag hat er sich entführen lassen auf den Volkenberg. Eine Reise in die Erinnerung. Früher saß er hier oft mit einem Buch, manchmal hat er an dem steinernen Altar auf dem Waldboden vor dem Käppele auch einen Gottesdienst zelebriert, "und die in der Natur versammelten Menschen waren stets ein eindrucksvolles Bild". Das Kleinod ist für Scheele ein "Ausdruck der tiefen katholischen Volksfrömmigkeit in Franken". Ein kleines Element zwar nur, "aber für die Einheit enorm wichtig".
K
urz nach seiner Fertigstellung Ende des 19. Jahrhunderts trutzte das Käppele einsam dem Wind, der über den Volkenberg strich. Es ragte aus einer Mondlandschaft aus Muschelkalkstein. Krater und Gräben zerfurchten den Boden wie die Jahre das Gesicht eines Greises. In den Jahren 1860 bis 1873 war ein erster Versuch der Aufforstung mit Fichten, Lärchen und Eichen gescheitert. Auf Initiative des Erlabrunner Hauptlehrers Heinrich Grob fand in den Jahren 1899 bis 1903 ein erneuter Anlauf statt. Diesmal mit der Schwarzkiefer "Austriaca", der Samen kam aus Innsbruck. 47 Hektar wurden auf Erlabrunner Gemarkung bepflanzt, insgesamt entstand mit 400 Hektar der größte zusammenhängende Schwarzkiefernbestand Deutschlands.
Auch wenn der Kiefernwald heute durch den Befall der afrikanischen Pilzart Diplodia akut gefährdet ist, er gehört zu Erlabrunn wie der Main und war für uns Kinder ein großer Abenteuerspielplatz. Am Rande des Zickzack-Weges, der in Serpentinen auf die Höhe führt, ließen sich Rehe beobachten, aus der Höll' führte die gefährlichste Schlittenbahn in den Ort, und beim jährlichen Bergfest unweit des Käppele kam es an einem Muschelkalkgraben stets zur legendären "Tannenzapfenschlacht" mit den Jungs von der anderen Seite des Berges - aus Leinach. Heute wissen wir, dass es "Schwarzkiefernzapfenschlacht" hätte heißen müssen.
Paul-Werner Scheele lacht. Er hat hier keine knorrigen Zapfen geworfen, für ihn war und ist der Volkenberg auch ein kleines Synonym für sein Leben. Laufen, Aufstieg, Ankommen, Einkehr. Körper und Geist bereichern. "Was einem hier in dieser Schönheit unbewusst geschenkt wird, kann der Schlüssel zum Sinn sein." Langsam betritt er den Innenraum des Käppele, kniet nieder vor der Marien-Figur. Pralle Blumenpracht umgibt die Mutter Gottes, fleißige Seelen drunten aus dem Ort sorgen sich darum. "Das zeigt, dass die Leute Interesse haben, dass Kirche auch ein Stück Lebensqualität bedeutet."
Der Berg des Lebens
Genau hat der Bischof im Unruhestand die Renaissance der Religion im Jahr 2005 beobachtet: Die Pop-Kultur um den alten und den neuen Papst, den ersten, wie er mit einem Schmunzeln erzählt, "den ich duzen darf". Die Rückkehr der Jugend unters Kreuz hält er für keine Modeerscheinung, "ich glaube, dass es tiefer geht". Aber er sieht auch die Gefahr des Wischi-Waschi-Glaubens: "Religion ist kein Selbstbedienungsladen, in dem sich jeder das nimmt, was ihm gefällt. Religion heißt auch Rückbindung. Die Verbindlichkeit gehört dazu."
Seinen Berg des Lebens hat Bischof Paul-Werner Scheele ein gutes Stück erklommen, doch ein wichtiger Abschnitt liegt noch vor ihm: "Die Förderung der Einheit der Christen liegt mir sehr am Herzen." Die Verschmelzung der Konfessionen wäre ihm ein Wunsch. Scheele leitet die Vatikanische Kommission, die den offiziellen Dialog mit den altorientalischen Kirchen führt. Bald wird er deshalb nach Armenien reisen, aus Kairo hat er ebenfalls eine Einladung. Dazu verfasst er Bücher wie das eben erschienene über den Chorraum im Würzburger Dom: "Leuchtende Zeichen der Liebe".
Wenn die mächtige Kirche in der Stadt so etwas wie das Wohnzimmer von Scheele war, dann war der Wald rund um das Käppele sein Garten. Er hat ihn wieder erkannt: "Aber es ist wie in der Religion. Jedes Mal entdeckt man etwas Neues."