Gemunkelt wurde hin und wieder in der Familie. Es hieß, der Opa soll in "irgendetwas mit Juden" verwickelt gewesen sein. Der Enkel fragte nicht nach. Dabei war er oft beim Großvater im beschaulich-schönen Creglingen im lieblichen Taubertal. "Ich hatte eine starke emotionale Bindung zu ihm", erzählt Horst F. Rupp, emeritierter Professor für Evangelische Theologie an der Universität Würzburg.
Erst viele Jahre später fängt er an Fragen zu stellen. Da ist der Großvater schon lange tot. Bei einem Besuch der Eltern in Rothenburg ob der Tauber, "bin ich zufällig darauf gestoßen", sagt Rupp. Ganz hinten im Wohnzimmerschrank. "Dort habe ich ein Konvolut entdeckt mit Briefen, Zeugenaussagen, Gerichtsurteil." Der Enkel hatte die Akte über das nach 1945 gegen Karl Stahl geführte Gerichtsverfahren in der Hand.
Rupp wusste nichts von diesen Unterlagen, will mehr von seiner Mutter wissen. Sie wehrt ab: "Ach, das alte Zeug, lass es ruhen."
Rupp ließ nichts ruhen. Nun wusste er: Sein "geliebter Opa" war am 25. März 1933 in Creglingen, im heutigen Main-Tauber-Kreis, am mutmaßlich ersten systematischen Gewaltexzess gegen Juden nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten beteiligt.
Für ihn, den Enkel, brach die heile Welt seiner Kindheit und Jugend in sich zusammen. "Opa war ein Nazi." Ein Täter! Vielleicht sogar ein Mörder?
Rupp stockt die Stimme, während er sich erinnert. Er atmet durch. Noch heute wühlt den 72-Jährigen dieser Teil der Familiengeschichte auf. Der Theologe ist der Einzige in der Familie, der sich damit intensiv auseinandersetzt. Seine Geschwister, sagt er, "konnten und wollten es nicht.
Was war an diesem 25. März vor über 89 Jahren geschehen? Wenige Wochen nach der sogenannten Machtergreifung der Nazis und einen Tag nach Inkrafttreten des Ermächtigungsgesetzes.
Der Ablauf des Creglinger Pogroms lässt sich recht genau rekonstruieren aufgrund der Unterlagen im Wohnzimmerschrank und weiterer Dokumente wie das polizeiliche Vernehmungsprotokoll im Staatsarchiv Ludwigsburg. Rupp hat die Ereignisse zusammen mit dem Lokalhistoriker Hartwig Behr, einst Lehrer am Deutschordensgymnasium in Bad Mergentheim, erforscht. Die Ergebnisse stehen im Buch "Vom Leben und Sterben. Juden in Creglingen" (Könighausen & Neumann, Würzburg, antiquarisch).
Einer der Hauptakteure der "Aktion" vom 25. März 1933 war den Recherchen zufolge Fritz Klein. Er leitete eine Standarte der Sturmabteilung (SA) in Heilbronn und begleitete Polizeikräfte an diesem Tag nach Creglingen. Am frühen Morgen machten sich die Männer auf den Weg. Der Trupp suchte nach versteckten Waffen – ausschließlich in jüdischen Haushalten.
Der 25. März 1933 war ein Samstag. Sabbat. Jüdischer Ruhetag. Karl Stahl, seit Anfang der 1930er Jahren der NS-Ortsgruppenleiter von Creglingen, empfing die Heilbronner. Mit ihnen holte er 16 jüdische Männer aus ihren Wohnungen und aus der Synagoge. Frauen und Kinder mussten in den Häusern bleiben.
Andere Creglinger standen am Straßenrand, beobachten die Szenerie. Die SA-Leute und die Polizisten trieben die Juden zum Rathaus. Es gab Zustimmung. "Da habt ihr den Richtigen!" oder "Schlagt ihn tot!" und "Hängt ihn auf!" - solche und andere Rufe will SA-Mann Klein laut Vernehmungsprotokoll gehört haben.
Gewaltexzess gegen jüdische Creglinger im Creglinger Rathaus
Im Rathaus mussten sich die Juden mit dem Gesicht zur Wand aufstellen. Einzeln wurden sie ins Notariatszimmer geholt. Mit der Pistole an der Schläfe bedroht. Gedemütigt. Sie mussten sich über einen Stuhl legen, wurden an den Füßen und am Kopf festgehalten, mit Polizeigerten beziehungsweise Stahlruten geschlagen. Wenn die gepeinigten Männer vor Schmerz bewusstlos wurden, gossen ihnen die Schergen einen Eimer kaltes Wasser über den Kopf. Damit ihre Schreie nicht zu laut waren, steckte ihnen der Foltertrupp ein Handtuch als Knebel in den Mund.
Karl Stahl stand nicht abseits. "Er hat die auswärtigen Schläger informiert, wer am meisten Prügel verdient hätte", sagt Rupp. Und auch er drohte, schrie, schlug wohl auch brutal zu. Hinterher soll sich Stahl im Ort gebrüstet haben: Er habe einem der Juden, Hermann Stern, mit dem Stiefel heftig "in den Ranzen" gestoßen.
Stern überlebte diese grausame Tortur nicht. Er starb am frühen Abend des 25. März 1933. Wenige Tage später, am 2. April, erlag Arnold Rosenfeld in Würzburg im Krankenhaus den schweren Verletzungen.
Für Horst F. Rupp ist Hermann Stern das erste Todesopfer der systematischen Judenverfolgung zur Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland. Ein anderes frühes Mordopfer der Nazis war Otto Selz, geboren im unterfränkischen Thüngen. Er wurde am 15. März 1933 in seiner niederbayerischen Wahlheimat Straubing misshandelt und ermordet. Der US-Historiker Timothy Ryback sieht den Mord an Arthur Kahn aus Gemünden, der am 12. April 1933 im KZ Dachau erschossen wurde, als Beginn des Holocaust. Die Beispiele zeigen: Die Gewalt der Nazis gegen Juden war von Anfang an massiv. Unmenschlich und tödlich.
Für die Täter hatte es zunächst keine Folgen. Es wurden zwar Ermittlungsverfahren eingeleitet, weil der Creglinger Bürgermeister Willy Liebert am Abend des 25. März dem Amtsgericht in Bad Mergentheim einen "nicht natürlichen Tod" anzeigen musste – von Amts wegen.
"Zu Beginn des Nazi-Regimes funktionierten rechtsstaatliche Grundsätze noch halbwegs", erklärt sich Rupp die Aufklärungsbemühungen. Jedoch schlug der in Stuttgart zum "Reichsstatthalter von Württemberg" aufgestiegene Antisemit Wilhelm Murr das Verfahren Ende 1934 "im Wege der Gnade" nieder.
Rupp ließ und lässt die Geschichte seines Großvaters nicht los. Erstmals öffentlich stellte er sich ihr am 25. März 1998 in Creglingen – am 65. Jahrestag. Bei dieser Gedenkfeier sprach er in seiner Rede "die Unbegreiflichkeit dieser Tat" an, die noch eine weitere Dimension gewinne, "wenn man sich wie ich klar machen muss, dass einer der Haupttäter bei diesem Pogrom der eigene Großvater war". Rupp gestand seine Scham, bat die Nachkommen der Opfer, von denen einige anwesend waren, um Vergebung.
Und wieder stockt an dieser Stelle die Erzählung. Horst F. Rupp schluckt. "Ich habe in meinem Leben keine zweite Situation erlebt, die für mich so emotional war."
Es sollte weitere für ihn bewegende Begegnungen mit Angehörigen der Creglinger Opfer geben. Etwa in Brasilien mit Marina Lemle, der Urenkelin von Arnold Rosenfeld. Sie hatte den Würzburger Theologen 2006 zum Vortrag ins jüdische Gemeindezentrum von Rio de Janeiro eingeladen.
Enkel hat auch schöne Erinnerungen an den Großvater
Der 72-Jährige hat auch schöne, warme Erinnerungen an seinen Großvater. An die Ausflüge, die er als Jugendlicher nach Creglingen unternahm. Rund 20 Kilometer mit dem Fahrrad. "Geh, hol a paar Kipfle und aan Ring Fleischwurst", habe ihn der Opa oft begrüßt. "Dann haben wir in seinem Haus gevespert." Über die Vergangenheit wurde nicht gesprochen. Hätte der Großvater überhaupt geantwortet? Rupp weiß es nicht.
Seine Erklärung für dessen Verhalten: Karl Stahl hatte wenig Schulbildung, war Tagelöhner, sozialisiert durch den Ersten Weltkrieg, durch ihn wohl innerlich verroht - und von strammer brauner Gesinnung. "Seine Streitigkeiten mit Juden sind seit Beginn der 1930er Jahre belegt", sagt Rupp. Den Eintritt in die NSDAP habe sein Opa wohl als Chance gesehen "Karriere" zu machen, Macht zu haben. "Davor war er sozial marginalisiert" - einer am Rande der Gesellschaft.
Karl Stahl war selbst den Nazis "zu schlimm" und wird als Ortsgruppenleiter abgesetzt
Karl Stahl lebte bis zu seinem Tod 1967 in Creglingen. "Er wurde im Ort nicht angefeindet", hat Rupp herausgefunden. Und dies, obwohl er selbst "den Nazis zu schlimm war".
1938 wurde Stahl aufgrund seines rabiaten Verhaltens als Ortsgruppenleiter abgesetzt. Sein Nachfolger war der Lehrer Erich Schweikhardt, bei der SS für weltanschauliche NS-Schulungen verantwortlich. "Mit einer kurzen Unterbrechung durfte dieser ab den 1950er Jahren wieder unterrichten, Creglinger Schüler", sagt Rupp. Schweikhardt war zudem Stadtarchivar, schrieb eine Stadtchronik. "Natürlich mit großen Auslassungen, was die NS-Zeit anbelangt", so Rupp.
Großvater Stahl wurde erst im Spruchkammerverfahren 1946/47 für seine Tat schuldig gesprochen und war einige Jahre interniert. Seine Mutter habe ihn öfter besucht, sagt der Theologe: "Aber mit dem Grund seines Gefängnisaufenthalts hat sie sich nicht auseinandergesetzt."
Dafür umso mehr später Horst F. Rupp selbst: "Mein Großvater war eine wichtige Person in meiner Genese." Wichtig war und ist ihm auch die Weitergabe des Wissens um diese Ereignisse an die nächsten Generationen. "Dazu habe ich an der immer wieder Uni Seminare dazu durchgeführt und Publikationen veröffentlicht." Etwa das Lernprogramm "Christen begegnen Juden".
Rupp hat selbst Enkel. "Sie kommen auf einen zu, strahlen einen an, so war es damals auch bei mir und meinem Großvater." Aber er habe sich klarmachen müssen, "welches zweite Gesicht" der Großvater hatte. "Diesen schmerzhaften Prozess, den ich durchgemacht habe, den wünsche ich niemandem."