Andreas Hager scheint über den Reben zu schweben. Wären da nicht die grellen Lichter und das Dröhnen der 200 PS seines Vollernters, mit dem er rund um Thüngersheim die Lese einbringt. Es ist fünf Uhr früh in der Domina-Lage von Winzer Michael Gutbrod. Mit seinem knallroten Vollernter hat Hager bereits zwei Weinberge gelesen und den Winzern ihre Beeren, feinsäuberlich von den Stielen entrappt, in ihre Traubenwannen gekippt. Seit 4.30 Uhr ist er an diesem Morgen rund um den Winzerort im Landkreis Würzburg unterwegs. Gerade zu Beginn der diesjährigen Weinlese, sagt Hager, sei es auch schon mal um 1.30 Uhr losgegangen, damit die Beeren vor der großen Tageshitze in die Kelter kommen.
Jetzt, wo es tagsüber nicht mehr heiß wird und die ersten Spitzen abgearbeitet sind, können sich Hager und seine Kollegen etwas später mit ihren High-Tech-Maschinen vom Würzburger Stadtteil Heidingsfeld aus auf den Weg machen. Zehn Vollernter und drei spezielle Vollernter für die in Franken so typischen Steillagen besitzt die Florian Hofmann GmbH. Der Fuhrpark sei kontinuierlich gewachsen, sagt Geschäftsführer Florian Hoffmann. Weil es immer schwieriger werde, Erntehelfer zu bekommen, würden seine Kunden immer mehr Weinberge maschinell ernten lassen. Das sei auch viel günstiger, sagt Hofmann. Er schätze, dass die maschinelle Ernte etwa ein Drittel einer Handlese koste. Denn für eine Rebzeile, die der Vollernter in drei Minuten durchfährt und aberntet, würden zwei Erntehelfer per Hand eineinhalb Stunden benötigen.
Computergesteuerte Weinlese
Dafür steckt jede Menge Technik in den wuchtigen Maschinen, die sich zügig im Schritttempo durch die Weinberge bewegen, auf engstem Raum wenden können und ganz präzise die Rebstöcke in ihre Mitte nehmen. Darüber sitzt der Fahrer und bedient mit einem Joystick die digitalisierte Technik. Der Vollernter komme nicht nur mit unterschiedlichen Hangneigungen zurecht, er berücksichtige auch Größe und Beschaffenheit der Reben, um sie schadfrei von den Trauben zu trennen, erklärt Florian Hoffmann.
Und so funktioniert's: Der Vollernter übertunnelt die Rebstöcke. Zwei Sensorfühler rechts und links sorgen dafür, dass die Rebe genau in der Mitte ist, wenn von jeder Seite jeweils sechs Stangen, die sich wie Finger zweier Hände verschränken könnten, den Weinstock so schütteln, dass die Trauben durch ihr Eigengewicht abfallen. Durch den Glasboden in der Fahrerkabine kann der Fahrer sehen, wie die Rebstöcke geschüttelt werden.
Das gesamte Lesegut fällt auf ein Lamellensystem, das die Rebstöcke wandernd umgibt, die so genannte Schuppenbahn. Ein kräftiges Gebläse pustet abgefallene Blätter durch den Laubrechen zurück in den Weinberg. Ein Förderband transportiert das Lesegut nach oben und zur Reinigung an zwei weiteren Gebläsen vorbei. Anschließend trennen, wenn dies gewünscht wird, in der "Abbeer-Maschine" feine rotierende Kunststoffstifte in einer Edelstahltrommel die Beeren vom Stängel. Eine Förderschnecke transportiert anschließend das reine Lesegut in den Traubenbehälter, der bis zu 2000 Liter fasst.
Vollernter auch für Steillagen
Alle Vorgänge sind computergesteuert und können angepasst werden. Die Vorderräder des Vollernters können sich um 90 Grad drehen, der Ernter selbst lässt sich an allen vier Rädern hydraulisch etwas hoch oder runterfahren. So könne er sich jeder Hanglage anpassen, erklärt Andreas Hager. Steigungen von bis zu 40 Prozent seien möglich, allerdings nur, wenn es einigermaßen trocken ist. Sonst sei bei 30 Prozent Hangneigung Schluss, weil die Gefahr zu groß werde, ins Rutschen zu kommen.
Zehn solcher Vollernter hat Florian Hoffmann mittlerweile im Einsatz. Jeder koste je nach Ausstattung zwischen 300.000 und 350.000 Euro. Hinzu kommen drei spezielle Vollernter für die fränkischen Steillagen. Hier fährt ein kleines, sehr schmales Raupenfahrzeug neben dem eigentlichen Erntetunnel. So könnten Lagen mit bis zu 73 Prozent Hangneigung befahren und geerntet werden, sagt Hoffmann.
Rund um die Uhr im Einsatz
Aber auch der Vollernter brauche einigermaßen trockenes Wetter. Gerade in diesem Jahr, wo es nach extremer Trockenheit ausgerechnet zur Erntezeit viel regnete, habe sein Betrieb einige Aufträge witterungsbedingt gar nicht wie vorgesehen ausführen können. Viele seiner Kunden würden Jahr für Jahr mehr Weinberge automatisiert lesen lasse wollen, sagt Hoffmann. Es fehle einfach an Erntehelfern. Am 20. August habe er den ersten Einsatz gefahren, bis Mitte Oktober werde es noch gehen, schätzt er. Wegen des unsicheren Wetters seien Anfang September, an einigen der trockenen Tage, die Vollernter rund um die Uhr im Dreischichtbetrieb im Einsatz gewesen. Aktuell genüge die Frühschicht ab vier Uhr oder sechs Uhr früh bis Mittag.
Noch während Hager an diesem Morgen bei Winzer Michael Gutbrod die letzten Zeilen Domina liest, telefoniert er schon mit seinem nächsten Kunden: "Ihr könnt losfahren, ich bin in zehn Minuten vor Ort." Kurz darauf neigt sich im Tüngersheimer Weinberg fast schon grazil der Vollernter auf die Seite und gibt seine wertvolle Fracht – gut 800 Liter Domina-Beeren – in die Wanne.
Gutbrod ist zufrieden, seit über zehn Jahren lässt er mit dem Vollernter lesen. Es gebe einfach nicht mehr genügend Erntehelfer, sagt der Winzer. Nur eine Zeile müsse jetzt noch per Hand gelesen werden – weil sie zu nah an einem Wassergraben liegt. Alle anderen seien sauber bis auf die letzte Traube abgeerntet, so gut wie keine Beere ist auf dem Boden gelandet. Und während der Winzer seine Fracht zur Divino-Kelterhalle bringt, ist Hager bereits im nächsten Thüngersheimer Weinberg, vom Weingut Geiger und Söhne. Eine gute halbe Stunde später ist hier der Kerner gelesen.
Die Vorbehalte einer vollautomatisierten Lese würden abnehmen, sagt Weinbaupräsident Artur Steinmann. Der Vollernter helfe dem Winzer, die Spitzen zu nehmen. Gerade nach einem Sommer wie dieses Jahr müssten einige Rebsorten und Lagen oft schnell gelesen werden, bevor die Öchsle-Grade regelrecht explodieren.
Und was macht der Fahrer nach der Weinlese? "Es gibt immer genug zu tun", sagt der gelernte Agrartechniker Andreas Hager. Die Hoffmann-Gruppe bietet Winzern allen Service rund um den Weinberg, von der Rodung über Neuanpflanzung bis zum Rebschnitt. Außerdem übernehme man auch andere Dienstleistungen wie Baumfällarbeiten und Winterdienst.
An diesem Morgen aber wartet erst einmal der nächste Weinberg auf ihn – und den Vollernter.
Wein-Vollernter in Unterfranken
In einer früheren Version war die maximal zu befahrende Hangneigung der Vollernter in Grad angegeben. Das ist natürlich falsch und wurde in Prozent ausgebessert. Straßen- und Hangneigungen werden grundsätzlich in Prozent angegeben. Wären es tatsächlich Grad müsste der Steillagen-Vollernter eine Steigung von 327 Prozent überwinden. Das wären 327 Höhenmeer auf 100 Meter Strecke. So steil sind selbst die steilsten Steillagen in Franken nicht.