Unruhig klopft Martin Dorn mit seinen bunt lackierten Fingernägeln auf den Tresen. Die Ringe an seinen Fingern klirren über die Theke, während er auf die Rechnung wartet. Noch ein paar Minuten, dann beginnt im Würzburger Theater und Kulturclub Chambinzky die Late Night Karaokeshow. "Karaoke habe ich schon immer geliebt", sagt der 34-Jährige. "Laut singen – egal ob schräg oder schön." Performen, in eine andere Rolle schlüpfen, für einen Moment Rockstar sein und dazugehören.
Martin Dorn: Bart, schwarze Jeans, Dr. Martens-Stiefel, warme Stimme, freches Lächeln. Ein normaler 34-Jähriger. Doch innerlich fühlte sich Martin Dorn die meiste Zeit seines Lebens überhaupt nicht normal. Seit seiner Kindheit eckt er bei seinen Mitmenschen an, er hatte Schwierigkeiten in der Schule, Selbstzweifel und depressive Phasen bis ins Erwachsenenalter hinein. Als Achtjähriger erhielt er die Diagnose Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, kurz: ADHS.
Menschen mit ADHS können Reize nicht gut filtern
ADHS ist eine psychische Erkrankung, genauer eine funktionelle Störung, bei der die Signalübertragung zwischen Nervenzellen im Gehirn verändert ist. "Verschiedene Gehirnteile kommunizieren weniger gut miteinander", erklärt Julia Geissler, Psychologin am Universitätsklinikum Würzburg. Die Störung führe dazu, dass Menschen mit ADHS zum Beispiel Reize nicht so gut filtern können und leichter abgelenkt werden.
ADHS gehöre bei Kindern und Jugendlichen zu den häufigsten psychischen Erkrankungen, sagt Geissler. Aus dem ADHS-Report der World Federation of ADHS, geht hervor, dass rund sechs Prozent aller Jugendlichen und drei Prozent der Erwachsenen weltweit unter ADHS leiden. Die Erkrankung tritt bei Männern häufiger auf als bei Frauen.
"Du leidest darunter, die einfachsten Dinge nicht machen zu können", sagt Dorn. Das beginnt bei ihm schon am Morgen beim Verlassen der Wohnung, wenn der Schlüssel mal wieder nicht dort liegt, wo er eigentlich liegen sollte. Dann falle es ihm schwer, sein Verhalten zu steuern. "Ich hasse mich in solchen Momenten und bin dann auch so impulsiv, dass ich immer noch rumschreie", erzählt Martin Dorn.
Aus medizinischer Sicht sei ADHS eine gut untersuchte und belegte psychische Erkrankung, sagt Julia Geissler. Verursacht vor allem durch genetische Faktoren, aber auch durch äußere Einflüsse. "ADHS ist im Wesentlichen genetisch bedingt, wohingegen die umweltbedingten Faktoren einen eher geringen Einfluss haben und wenn, dann schon sehr früh in der Schwangerschaft oder bei der Geburt auftreten müssen." Dazu gehören laut Geissler etwa Komplikationen bei Schwangerschaft und Geburt, bestimmte Infektionen oder Alkohol- und Nikotinkonsum während der Schwangerschaft. "Niemand bekommt ADHS durch zu viel Fernschauen, falsche Ernährung oder Bewegungsmangel", so die Psychologin.
ADHS wird meist mit Ritalin behandelt. Das Medikament helfe, die Symptome zu reduzieren, erklärt Geissler. Kernsymptome der ADHS sind neben der Aufmerksamkeitsstörung eine erhöhte Impulsivität und Hyperaktivität. Betroffene handeln oft sprunghaft, können Gefahren schwer einschätzen, sich schlecht konzentrieren oder handeln chaotisch und vergesslich.
Auch Martin Dorn nahm wegen seiner Hyperaktivität eine Zeit lang Ritalin ein. Er litt jedoch unter heftigen Nebenwirkungen. Tagsüber verbesserte sich seine Konzentrationsfähigkeit zwar, aber er bekam schwere Depressionen und Schlafstörungen. "Das ging sogar so weit, dass Martin sich selbst verletzt hat", erinnert sich seine Mutter Marietta Dorn.
Lehrerin: "Durch die Medikamente wichen seine Spontanität und sein Ideenreichtum"
Der 34-Jährige stammt aus Riedenberg, einem 1000-Seelen-Dorf im Landkreis Bad Kissingen. In Bad Brückenau besuchte er zunächst das Franz-Miltenberger-Gymnasium. In der achten Klasse wechselte er auf die Realschule. Dorns ehemalige Klassenlehrerin Margarete Weiss bemerkte damals eine Veränderung an ihrem Schüler. "Durch die Medikamente war er zwar ruhig gestellt, aber gleichzeitig wichen seine Spontanität und sein Ideenreichtum", sagt sie.
Martin Dorn machte noch etwas anderes zu schaffen: "Mir wurde gesagt, du hast ADHS und hier sind jetzt Tabletten, die sollen dir helfen." Er bekam das Gefühl, fehl am Platz zu sein. "Jedes Mal, wenn ich über ADHS sprechen musste, bin ich in Tränen ausgebrochen. Ich habe es als absoluten Minderwert empfunden und gedacht: Ich bin behindert und ich muss Tabletten nehmen, um so zu sein, wie die anderen."
Eine Bemerkung hat sich bei ihm während seiner Schulzeit tief ins Gedächtnis eingebrannt: Als er in der siebten Klasse einmal seine Medikamente nicht eingenommen hatte und im Unterricht auffiel, fragt ihn ein Lehrer, ob er vergessen habe, seine Pillen einzunehmen. "Das war für mich ein Schlag ins Gesicht."
Das Ritalin setzte er wegen der psychischen Belastung ab
Wenn er die Pillen einnahm, sei er nicht mehr er selbst gewesen. "Ich fühlte mich dann immer wie in einem Gefängnis. Mir wurde permanent von der Außenwelt gezeigt: So wie du bist, bist du nicht okay." Das Ritalin habe er wegen der psychischen Belastung unregelmäßig genommen und irgendwann ganz abgesetzt. "Ich wollte wieder ich selbst sein", sagt Dorn.
Nebenwirkungen seien aus medizinischer Sicht nichts Ungewöhnliches, erklärt die Psychologin Julia Geissler. Zu den häufigsten zählen Appetitlosigkeit und Schlafstörungen. Diese ließen sich mittlerweile jedoch gut in den Griff bekommen. In den vergangenen Jahren seien zwei neue Substanzen für die Behandlung von ADHS zugelassen worden, die besser und angepasster wirken würden.
Die Behandlung mit Medikamenten erhöhe die Lebensqualität bei Betroffenen nachweislich. "Manche Kinder vertragen das Medikament nicht gut, dann wechselt man auf eine alternative Medikation", so die Psychologin. Sie rät parallel zu den Medikamenten aber auch zu einer Verhaltenstherapie.
Mitten im Unterricht sprang er auf und stürmte aus dem Klassenzimmer
Ohne die Medikamente und mit Beginn der Pubertät kamen die Unruhe und Impulsivität bei Martin Dorn zurück. Trotz des Schulartwechsels fiel es ihm schwer, sich an Regeln zu halten. "Mitten im Englisch-Unterricht sprang Martin plötzlich auf und stürmte aus dem Klassenzimmer und rieb sich draußen mit Schnee ein", erinnert sich seine damalige Lehrerin Margarete Weiss. "Ich hielt und halte Martin heute immer noch für unglaublich intelligent und kreativ. Aus dem Umgang mit ihm habe ich mitgenommen, dass ich hier einen Schüler habe, den ich mir genauer anschauen muss, für den andere Regeln gelten, sogar gelten müssen, weil er es vielleicht nicht schafft, eine Dreiviertelstunde still auf einem Stuhl zu sitzen."
Einerseits habe er sich extrem unsicher gefühlt, andererseits habe er damals ein hohes Geltungsbedürfnis gehabt, erinnert sich Dorn an seine Schulzeit. "Man braucht einfach extrem viel Aufmerksamkeit und wenn man die nicht bekommt, fordert man sie irgendwie ein." Viel Aufmerksamkeit bekam er weder in einer Klasse mit 29 Mitschülerinnen und Mitschülern noch zu Hause in der sechsköpfigen Familie in Riedenberg.
Mutter Marietta Dorn: ADHS wurde als Modekrankheit verharmlost
"Wir konnten von unserer Familienstruktur her nicht in dem Maße auf Martin eingehen, wie wir es bei ihm vielleicht hätten tun sollen", sagt seine Mutter Marietta Dorn. Sie habe in Martins Jugend viel Zeit bei verschiedenen Therapeuten verbracht und ihren Sohn oft einfach machen lassen. "Heute würde ich mit meiner Erfahrung genauer bei meinen Kindern hinschauen, was ihre Hobbys und Bedürfnisse angeht." In ihrem Umfeld sei die Familie damals zudem auf Unverständnis gestoßen und ADHS als Modekrankheit verharmlost worden.
Aber auch die Möglichkeiten, das Potenzial und die Interessen ihres Sohnes in dem kleinen Ort auszuschöpfen, seien begrenzt gewesen. "Außer dem örtlichen Fußballverein gab es hier nicht viel", sagt Marietta Dorn. Der Spielmannszug, bei dem ihr Sohn zunächst begeistert mitmachte, löste sich nach wenigen Jahren auf. In der Schule habe er sich deshalb immer kreative Bereiche gesucht, erzählt Martin Dorn. "Das hat mir den Arsch gerettet, weil ich hier sehr viel Energie und Herzblut hereinstecken konnte." Glücklicherweise habe es damals eine Schulband an der Realschule gegeben. "Dort war ich dann genau an der Position, wo ich die ganze Energie, die im Klassenzimmer fehl am Platz ist, herauslassen konnte."
Als Erwachsener verdrängte Martin Dorn, dass er ADHS hat
Nach seinem Realschulabschluss habe er das ADHS komplett ausgeblendet. "Seitdem ich 20 bin, bin ich alle zwei Jahre irgendwo umgezogen, war in einer anderen Stadt, anderer Job, andere Umgebung, wieder neue Leute kennenlernen", erzählt er. Zunächst absolvierte er eine Ausbildung beim Radio in Schweinfurt. Wenige Jahre später leitete er bei einem Privatsender in Halle an der Saale eine eigene Sendung. "Aber dort hat mir die Sinnhaftigkeit gefehlt. Ich habe mich gefühlt wie der letzte Idiot, hatte Kontakt mit Drogen und bin dann geflohen."
Im September 2014 kommt Dorn mit 26 Jahren in Würzburg an. Ohne Arbeit, ohne Geld, ohne Ziel. "Ich habe mich gefühlt wie der letzte Versager", sagt er. "Das war eine krass depressive Phase." Als er auf einer Feier mit einer Psychologin über seine Beschwerden spricht, weist sie auf die Folgen einer ADHS-Erkrankung im Erwachsenenalter hin. "Ich hatte das komplett verdrängt", sagt Dorn. "Die Stimmungsschwankungen, die unbändige Impulsivität." Plötzlich habe alles wieder Sinn ergeben.
Danach beschloss Martin Dorn zunächst ein Coaching zu absolvieren und Soziale Arbeit zu studieren. "Ich dachte mir, wenn ich lerne, mit anderen umzugehen, muss ich mich zwangsläufig mit mir selbst auseinandersetzen. Rückblickend war das eine der besten Ideen, die ich jemals hatte", erzählt Dorn. Nebenbei gründete er mit Freunden eine Band und schrieb ein Lied, in dem er seine Erkrankung verarbeitet. "Der Song ist im Prinzip das runtergekocht, was ich die letzten 30 Jahre durchlebt habe."
Wie Martin Dorn heute mit ADHS klarkommt
"Man ist als ADHSler auf extremem Kriegsfuß mit sich", sagt Dorn. Mit der Band und der Musik habe er jedoch ein Element gefunden, das seine Energie und seine negativen Gedanken miteinander verbindet. "Dieses pausenlose Denken hat mich oft an den Rand meines Willens zu leben gebracht." In solchen Situationen nehme er sich deshalb selbst in den Arm, hole tief Luft und setze sich erst einmal hin.
Solche konkreten Verhaltensweisen helfen ihm heute seinen Alltag besser zu bewältigen. Auch seine Hündin Leiyla sorge dafür, dass er Struktur in seinem Leben habe. "Das ist ein krass ermächtigender Moment, wenn du merkst. 'Boah, ich kann das ja auch.'" Als ausgebildeter Sozialpädagoge habe er sich deshalb vorgenommen, Menschen in ähnlichen Situationen künftig als Coach helfen zu wollen.
Zwar sei seine Ungeduld geblieben, aber er habe gelernt, sie auszuhalten. "Nach Würzburg zu ziehen, das Studium abzuschließen und die Band zu gründen, hat mich dazu gezwungen, an einer Sache dranzubleiben, egal was kommt."
"Niemand bekommt ADHS durch zuviel Fernschauen... " so die Psychologin.
Raten Sie Übergewichtigen dann auch zu FdH als Behandlung einer Schilddrüsen-Fehlfunktion oder Diabetes?
Mannomann...
Sie können doch nicht von Ihren zwei Neffen auf die Allgemeinheit schließen.
Guter Artikel und ich würde mich freuen, wenn hier niemand unreflektiert etwas wie „früher gab es das nicht bla bla bla“ schreibt, denn das ist absoluter Unsinn. Früher gab es das auch. Man dachte nur, dass es ein reines Verhaltensproblem sei und hat die Kinder dann entsprechend versucht zu züchtigen. Pervers, wenn man sich das mal vor Augen führt und realisiert, dass ein Kind/Erwachsener nichts dafür kann. Insbesondere unter dem Gesichtspunkt, welchen Nachteil ADHS im Erwachsenenalter ggü. „Normalos“ darstellt und dass ein Leben mit ADHS als Kind/Erwachsener durchaus möglich ist, sofern es erkannt und behandelt wird.
Ich wünsche Ihnen, dass Sie niemals Kinder haben, die diese Krankheit haben. Sie wären sicherlich total überfordert - zumindest lässt Ihr Kommentar diese Vermutung zu.
Über ein Problem reden hilft übrigens auch sein Leben zu meistern. Darüber sollten Sie einmal nachdenken.