Ständig unter Strom zu stehen, einen Rummelplatz im Kopf zu haben, sich in Raum und Zeit zu verlieren – Erwachsenen fällt es einfacher, zu beschreiben, wie es sich anfühlt, unter dem Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) zu leiden. Kinder dagegen wissen oft nicht, was mit ihnen los ist. Sie können sich einfach nicht konzentrieren, nicht still sitzen oder rasten urplötzlich aus. Darunter leiden sie selbst am meisten, oft aber auch ihr ganzes Umfeld, vor allem ihre Eltern.
"Die Wutanfälle, die hatte sie eigentlich schon immer, da haben wir uns noch nicht viel gedacht", erzählt Kathrin M. Die Marktheidenfelderin ist an diesem Tag in die Redaktion gekommen, um zu erzählen, wie sie nach und nach gemerkt hat, dass ihre Tochter ADS hat. Sie erzählt, wie sie damit umgegangen ist und vor allem, dass da der große Wunsch ist, sich mit anderen betroffenen Eltern auszutauschen. Um ihre Tochter und sich selbst zu schützen, möchte Kathrin M. anonym bleiben.
Psychologischer Test bestätigt Vermutung der Mutter
"Wir haben erst in der Grundschule gemerkt, dass etwas überhaupt nicht stimmt", erzählt sie weiter. Ihre Tochter ist nicht so aufnahmefähig wie die anderen. Vor allem die Hausaufgaben werden zur Qual. Bis zu vier Stunden sitzen Mutter und Tochter daran. "Du denkst lange: Das ist alles normal", beschreibt sie. Doch irgendwann ist der Leidensdruck zu hoch: Sie gehen zum Kinderarzt, der schickt sie zum psychologischen Test. Dieser bestätigt, was Kathrin M. schon vermutet hat: Ihre Tochter leidet unter einer Kombination von ADHS und ADS, dem Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom ohne Hyperaktivität. Im Gegensatz zu Betroffenen mit ADHS, die schnell in Wut geraten, sind diese Kinder eher verträumt, ruhig, können dem Unterricht schwerer folgen, bekommen Schulunlust, Albträume, Versagensängste und Selbstwertprobleme.
"Die nächste Frage war: Wie können wir unserer Tochter helfen?", erläutert Kathrin M. Medikamente schloss sie zunächst aus, ein Platz in einer Gruppentherapie war kaum zu bekommen. "Ich habe dann mit Einzel-Elterntraining begonnen", erzählt sie. Hier lernt sie zum Beispiel besser auf Wutanfälle zu reagieren oder mehr Verständnis für die "Denke" ihrer Tochter zu entwickeln.
Auch sucht sie den Austausch mit anderen im Bekanntenkreis, denn sie merkt, wie sehr das Familienleben und auch die Beziehung belastet ist. Die Reaktionen aber sind oft frustrierend und gehen meist nicht über "Bei uns läuft alles top" oder "Versuchs doch mal mit 'Hintern versohlen'" hinaus.
BRK und Familienstützpunkt greifen die Idee der Mutter auf
"Ich wäre gerne in eine Selbsthilfegruppe gegangen, aber die nächste fand ich in Würzburg, das war mir einfach zu weit". Letztlich reifte die Idee, selbst eine AD(H)S-Selbsthilfegruppe für Eltern in Main-Spessart anzustoßen. Sie bespricht den Wunsch mit Tanja Welzenbach vom Familienstützpunkt in Marktheidenfeld, diese holt das BRK-Selbsthilfebüro Main-Spessart mit Koordinatorin Simone Hoffmann ins Boot. Derzeit gibt es in Main-Spessart nur eine Selbsthilfegruppe für AD(H)S-Betroffene im Erwachsenenalter. "Von denen weiß ich, dass hier einige sagen: Es wäre gut gewesen, wenn meine Eltern mal in so eine Gruppe gegangen wären", erzählt Simone Hoffmann. Insofern nimmt die Koordinatorin die Initiative von Kathrin M. gerne an. Nun steht am 8. November im Jugendzentrum MainHaus in Marktheidenfeld ein erstes Info-Treffen an.
Dafür haben sich schon einige Interessierte bei Simone Hoffmann gemeldet. Am ersten Termin soll es erst einmal darum gehen, sich kennenzulernen. Später dann, so die Idee, könnte man auch mal Experten einladen, die einen Vortrag halten oder eine Austauschbörse für Bücher machen. Wer zu dem Treffen kommen möchte, muss sich nicht anmelden. "Das Angebot soll so niedrigschwellig wie möglich sein", so Hoffmann. Zudem hat sie die Erfahrung gemacht, dass sich die Menschen seit Corona sehr viel kurzfristiger und spontaner entscheiden, ob sie eine Veranstaltung besuchen – oder nicht. Die Koordinatorin wird auch bei dem ersten Termin dabei sein. Wichtig ist ihr, klarzustellen: "Wie viel einem so eine Gruppe bringt, liegt immer an einem selbst und wie man sich einbringt", erklärt sie. Eine Gruppe funktioniere immer so gut, wie die Teilnehmer das wollten.
Dabei will Kathrin M. bei den Treffen keine Vorturnerin sein: "Ich wünsche mir einen Austausch auf Augenhöhe, bei dem jeder ohne Scheu und Scham von sich erzählen oder auch nur zuhören kann, je nachdem, wie es ihm gerade geht." Und in denen sich die Eltern auch gegenseitig aufbauen, denn neben den Problemen, die rund um das Verhalten der Kinder entstehen und die belasten, wird das Potenzial der Kinder oft verkannt. "Eltern werden meist nur auf die negativen Eigenschaften angesprochen", so Kathrin M. Dabei sind die Betroffenen meist sehr kreativ, begeisterungsfähig, hilfsbereit und feinfühlig. "Viele Künstler, Kabarettisten oder Komiker haben ADHS. Bei denen wird es gesellschaftlich akzeptiert", so Hoffmann. Selbst der bekannte Arzt, Autor und Kabarettist Eckart von Hirschhausen bekannte sich in einem offenen Schreiben dazu, eine milde Form von ADHS zu haben. Und bestätigt: "Ohne meine sprunghafte Aufmerksamkeit wäre ich nie Komiker geworden."
Das Infotreffen findet am Dienstag, 8. November, um 19.30 Uhr im Jugendzentrum (JuZ) MainHaus in der Lengfurter Straße 26 in Marktheidenfeld statt. Eine Anmeldung ist nicht erforderlich. Mehr Informationen gibt es im Selbsthilfebüro Main-Spessart, E-Mail: selbsthilfe@kvmain-spessart.brk.de, Tel.: (09351) 5081270.