Die Würzburger Erinnerungskultur ist breit aufgestellt. Seit fast 30 Jahren erinnern die Stolpersteine an individuelle Verfolgungsschicksale. Die Orte und Wege des Deportationsgeschehens sind kenntlich gemacht und miteinander verknüpft: die Schrannenhalle, der Platz'sche Garten, der Güterbahnhof in der Aumühle und der Hauptbahnhof mit dem DenkOrt Deportationen. Der Erinnerungsweg auf der Deportationsstrecke erläutert auf seinen Stelen und in einer WebApp das historische Geschehen. Neben den Würzburger Opfern werden auch die Menschen aus ganz Unterfranken in das Gedenken einbezogen, die von hier deportiert wurden.
Nur ein Ort bleibt bei alldem seltsam blass: das Sammel- und Zwangsquartier in der Bibrastraße 6, wo die letzte größere Deportation am 17. Juni 1943 startete. Nichts weist außen vor oder am Haus auf seine Geschichte hin, nichts auf den schicksalhaften Weg von dort zum Hauptbahnhof.
Seit 1883 befand sich das große Gebäude im Besitz der Israelitischen Lehrerbildungsanstalt. Ihr Gründer Seligmann Bär Bamberger (1807 – 1878) gehörte der traditionellen, gesetzestreuen Richtung des Judentums an, die in den ländlichen jüdischen Gemeinden in Unterfranken vorherrschte. Und es war ihm ein großes Anliegen, die Orthodoxie durch gute Bildungseinrichtungen mit passend ausgebildeten Lehrern zu fördern und zu stärken. Mit staatlicher Erlaubnis und auf eigene Kosten gründete er 1864 die Israelitische Lehrerbildungsanstalt (ILBA). Daran erinnert eine Tafel am heutigen Gebäude.
Brutaler Überfall beim Novemberpogrom 1938
Ein erstes und zweites Gebäude für die Bildungsanstalt waren schnell zu klein geworden, weshalb 1883 das neue Domizil in der Bibrastraße erworben wurde. Es diente über viele Jahrzehnte für Unterricht und Unterbringung der Studenten. Nach dem Umzug der ILBA in die Sandbergerstraße im Jahr 1931 wurde das Haus in der Bibrastraße weiter als Internatsgebäude genutzt – bis 1938. Im Novemberpogrom brutal überfallen, musste die ILBA wenig später schließen. Die Jüdische Gemeinde wurde gezwungen, das Gebäude in der Bibrastraße 6 umzubauen, so dass die NS-Behörden dort Menschen einquartieren konnten, die sie aus ihren Wohnorten und/oder Wohnungen hinausgeworfen hatten. Seit Anfang 1939 diente es als Sammel- und Zwangsquartier – bis zum Juni 1943.
Für mehrere hundert Menschen war die Bibrastraße 6 die letzte Wohnstätte vor ihrer Deportation. So wie später auch das Jüdische Krankenhaus und die jüdischen Altersheime in der Dürerstraße 20 und der Konradstraße 3. In drangvoller Enge und ohne Privatsphäre mussten Männer, Frauen und Kinder dort ihre letzten Wochen, Monate oder sogar Jahre verbringen. Zu ihnen gehörten auch die Menschen, die bis zum Schluss die Gemeinde leiteten.
Neben seiner Funktion als großes Wohngebäude richteten die Bewohner in der Bibrastraße 6 ein neues Gemeindezentrum ein. Denn die Hauptsynagoge in der Domerschulstraße und die jüdische Schule im Gemeindehaus dahinter waren verwüstet und beschlagnahmt worden. Doch nur wenige Zeugnisse von Überlebenden geben uns einen Einblick in das Leben der Menschen in dem Haus, darunter vor allem die Aussagen von Max Mordechai Ansbacher (1927 – 2021): "Das Gemeindeleben ging in Würzburg weiter, da es sehr starke kulturelle und spirituelle Kräfte besitzt, vor allem die Studenten des Seminars, von denen einige in Würzburg als Lehrer blieben."
Bewohner mussten Versorgungsinfrastruktur erst aufbauen
Im Januar 1939 nahm die jüdische Volksschule ihren Betrieb in der Bibrastraße wieder auf, eine dreiklassige Berufsschule war dort bereits 1936 eingerichtet worden. Ansbacher äußerte sich in seinen Zeugenaussagen von 1961 zu dieser Schule: "Als ich im Januar 1941 aus Belgien zurückkam, ging ich zur Schule. 'Schule' – vielleicht wäre es eine Übertreibung, sie so zu nennen. Die Schule war in ebendiesem Gebäude in der Bibrastraße, und dieses hatte einen Raum, in dem sich mehrere Klassen gemeinsam befanden." Im Sommer 1942 mussten alle jüdischen Schulen den Unterricht endgültig einstellen.
Anders als im jüdischen Krankenhaus und in den Altersheimen, wo ja bereits eine Versorgungsinfrastruktur bestand, musste diese von den Bewohnerinnen und Bewohnern der Bibrastraße 6 mit Unterstützung der Gemeindeverwaltung erst aufgebaut werden. Dazu noch einmal Ansbacher, dessen Eltern bereits seit März 1939 in dem Gebäude untergebracht waren: "Sie wohnten in einem der Gebäude, in dem Juden gesammelt wurden, das 'Wohnheim Bibrastraße' genannt wurde. Sie verwalteten dieses Haus gemeinsam – es gab eine Zentralküche, und alle wirtschaftlichen Angelegenheiten wurden gemeinsam entschieden. Jeder hatte dort eine bestimmte Aufgabe, jeder arbeitete. Die Jüngeren gingen draußen arbeiten; sie mussten sich am Morgen melden, um Arbeitsaufträge zu erhalten, und die Älteren, so auch mein Vater, hatten Pflichten im Haus. Er kümmerte sich um die religiösen Angelegenheiten der Gemeinschaft. Er bekam die Aufgabe, Gebete durchzuführen, und er gab auch Unterricht in traditionellen religiösen Schriften."
Von den letzten 64 Deportierten überlebte nur eine Frau
Ruth Weinberger, die mit ihren zwei jüngeren Kindern seit 1942 in der Bibrastraße wohnte, schrieb Ende Mai 1943 eine wohl zweckoptimistische Rot-Kreuz-Nachricht an eine Nichte in den USA: "Herzliche Grüße! Gesund und Kinder sehr vergnügt. Lies (Elisabeth – d. Red.) sehr gewachsen, liest eifrig, rechnet fleissig. Michel ebenso, nachmittags Gartenarbeit. Johanna schrieb zufrieden. Grüsse von allen!" Die Nachrichten in solchen Briefen mussten telegrammartig kurz sein, die Zensur las mit. Man kann den Text wohl so verstehen, dass die Mutter ihre beiden Kinder unterrichtete, denn eine Schule gab es ja nicht mehr. Und die Familie baute im Hof oder Garten Gemüse an, um die Ernährungssituation der Hausgemeinschaft zu verbessern. Knapp drei Wochen später wurde die Familie mit 61 weiteren Personen vom Hauptbahnhof aus deportiert.
Von den Deportierten hatten zuletzt 59 in der Bibrastraße 6 gewohnt und die ganze Gruppe wurde in dem Gebäude vor dem Gang zum Hauptbahnhof kontrolliert und abgefertigt. 57 Personen wurden nach Auschwitz deportiert und dort sofort ermordet, sieben Menschen nach Theresienstadt transportiert, wo nur eine Frau überlebte.
Damit gehört die Bibrastraße 6 zu den Orten in Würzburg, die eng mit dem Deportationsgeschehen verbunden sind. Zugleich ist sie bis heute ein blinder Fleck in der Würzburger Erinnerungskultur. Eine Tafel oder Stele mit Informationen am Haus oder davor könnte dem abhelfen.
Dr. Rotraud Ries ist Historikerin und Expertin für deutsch-jüdische Geschichte. Von 2009 bis 2022 wirkte sie in Würzburg und hatte maßgeblichen Anteil am Projekt "DenkOrt Deportationen".
Info-Box: Weitere Informationen zu den Orten und Wegen des Deportationsgeschehens und zum Ablauf aus Sicht der Betroffenen gibt es unter www.denkort-deportationen.de/stationen/.