Kurz nach Beginn des Krieges in der Ukraine erreichten Anfang März die ersten Geflüchteten den Landkreis Würzburg. Oberstes Ziel war es, so schnell wie möglich Notunterkünfte zu etablieren. Welche Probleme es dabei gab, wie die Flüchtlinge empfangen wurden und wie es nun weitergeht: Im Gespräch mit der Redaktion schildern drei Mitglieder der am Landratsamt eingerichteten Führungsgruppe Katastrophenschutz Ukraine, Nina Opfermann (Leiterin des Geschäftsbereiches Gesundheit und Verbraucherschutz), Sarah Eitelwein (Personalentwicklung und Compliance) und Paul Justice (Geschäftsführer Zweckverband für Rettungswesen und Feuerwehralarmierung) wie die vergangenen Wochen gelaufen sind. Eine Chronik.
1. Wann der Startschuss zum Aufbau von Notunterkünften fiel
Wie stellen wir uns auf? Das war die Frage, die in den ersten Kriegstagen Landrat Thomas Eberth und die Mitarbeiter am Landratsamt beschäftigte, wie Nina Opfermann schildert. "Es wurde eine Lenkungsgruppe einberufen, kurze Zeit später nahm eine erweiterte Führungsgruppe Katastrophenschutz die Arbeit auf."
Damit habe man gut auf Entwicklungen reagieren können. "Zumal wir auf die Erfahrungen aus der Flüchtlingskrise 2015 zurückgreifen konnten" , so Opfermann. So seien Notunterkünfte im Jugendhaus Leinach und in der Schulturnhalle in Ochsenfurt schnell aufgebaut gewesen. Es folgten - durch die Unterstützung des Modeunternehmens s.Oliver - Räumlichkeiten in Rottendorf, Räume in den Senioreneinrichtungen Kist und Röttingen, zum Schluss Unterkünfte in Zell und Gaubüttelbrunn.
2. Wie die Notunterkünfte ausgewählt werden
Viele Liegenschaften seien bereits bekannt gewesen, berichtet Paul Justice. Ob eine Notunterkunft geeignet ist und welche als erste an den Start geht - das werde nach verschiedenen Kriterien festgelegt, so anhand der Fragen "Sind Betten da?, "Funktioniert die Heizung" und "Kann vor Ort für die Verpflegung gesorgt werden?"
Bezüglich Brandschutz seien die Räumlichkeiten von Kreisbrandrat Michael Reitzenstein begutachtet worden, der Fachdienst "Betreuung" des Roten Kreuzes ist laut Justice dafür verantwortlich, "die Unterkunft zu strukturieren". Außerdem sei wichtig, dass die Menschen selbst in einer Turnhalle ein Stück Privatsphäre haben - beispielsweise durch Schallschutz und Trennwände.
3. Was passiert, wenn sich ein Bus mit Geflüchteten ankündigt
Kommt der Bus aus Moldawien oder aus Polen? Kommen die Menschen direkt aus dem Kriegsgebiet? Haben sie Angehörige verloren? "Wir sind jedes Mal aufgeregt, wenn sich ein Bus mit Flüchtlingen ankündigt, da wir nicht wissen, was die Menschen erlebt haben", so Paul Justice. In der Regel werde der Bus telefonisch angekündigt - entweder von den Ankerzentren, von Agenturen wie beispielsweise der Berliner Agentur "Be an angel" oder aber von Privatinstitutionen.
"So wissen wir in etwa, wie viele Personen kommen, ob kleine Kinder dabei sind und Haustiere mit an Bord." Aber, so Justice, kaum ein Bus sei bisher pünktlich gewesen, die meisten sogar zu früh, "was uns manchmal in Hektik gebracht hat". So kam es einmal vor, dass ein Bus aus Moldawien statt wie angekündigt um 15 Uhr schon um 7.36 Uhr in Zell eintraf.
4. Was vor Ankunft des Busses vorbereitet sein muss
Die Notunterkünfte seien jederzeit aufnahmebereit, erklärt Sarah Eitelwein. Kündige sich ein Bus an, stecke eine ungeheure Logistik dahinter. Räumlichkeiten müssten vorbereitet werden, eventuell zusätzliche Schlafplätze geschaffen und Babybetten organisiert werden. Auch, ob Hunde oder Katzen mit auf die Flucht gegangen sind, sei wichtig, "nicht in jeder Unterkunft sind Tiere erlaubt". Erst kürzlich sei ein Hamster mit angereist. Wichtig auch zu wissen, ob Menschen erkrankt sind, um eine ärztliche Versorgung sicherzustellen. "Ich danke hierbei den Hilfskräften von BRK und DLRG, die uns zu jeder Tages- und Nachtzeit unterstützen und maximal flexibel sind", so Eitelwein. Dank gehe auch an die Bürgermeister und die vielen Ehrenamtlichen.
5. Wie die Ankunft in der Notunterkunft vonstatten geht
Als erstes würden die Geflüchteten wegen Corona mit Masken ausgestattet, "oft gab es an Bord keine", so Sarah Eitelwein. Von Mitarbeitern des Landratsamtes und den Übersetzern, die über die Servicestelle Ehrenamt organisiert wurden, würden die Geflüchteten herzlich in Empfang genommen.
Nach langen Busfahrten sei eine Erstversorgung mit Essen nötig. "Das ist meist schon vorher organisiert worden." So kamen beispielsweise in Leinach die Lunchpakete vom Jugendhaus, in Rottendorf hat die Kantine von s.Oliver unterstützt. Hygienepakete mit Zahnbürsten und Duschgel wurden oftmals zuvor von den Hilfsorganisationen gepackt. Und: "Wenn mal was nicht klappte, ist immer jemand eingesprungen."
6. Wie zwei Krisen - Pandemie und Flucht - aufeinander treffen
Es sei eine besondere Herausforderung, die Flüchtlingskrise in der Coronazeit zu bewältigen, so Sarah Eitelwein. Wenn im Ankerzentrum noch keine Testungen durchgeführt wurden, machten das die Hilfsorganisationen vor Ort, zunächst Schnelltests, "wenn jemand Corona-positiv ist, wird PCR-getestet". In den Unterkünften, in denen es eigene Räume gibt, sei eine Isolation möglich. "Den Fall hatten wir in Rottendorf, da gab es einen größeren Ausbruch." Schwieriger sei es in den Massenunterkünften, "da besteht hohes Gefährdungspotenzial".
7. Was nach der Ankunft in der Notunterkunft wichtig ist
"Nach der Datenaufnahme machen wir uns ein Bild von der Lage, versuchen Familienverbünde zu erkennen und auf vulnerable Personen zu achten", so Sarah Eitelwein. Auch werde versucht, Mütter mit Babys und alte Menschen nicht lange in einer Sammelunterkunft zu lassen. Kranke Menschen habe man im Blick. Oft, erzählt Eitelwein, würden Medikamente benötigt oder ärztliche Checkups. Über die Verwaltungsstelle im Landratsamt würden Krankenbehandlungsscheine ausgestellt. Um die Rezepte und das Zustellen der Medikamente kümmerten sich die Objektbetreuer.
8. Warum der Auftrag des Landratsamtes nicht beendet ist
Erst nach der melderechtlichen Erfassung in den Gemeinden könnten die Geflüchteten eine Aufenthaltserlaubnis und Leistungszahlungen beantragen, erklärt Nina Opfermann. Solange verfügten viele über kein eigenes Geld. Klar sei: "Unser Auftrag ist nicht beendet, wenn die Menschen aus dem Bus steigen und ein Zimmer haben. Sie sollen die Chance haben, sich hier etwas aufzubauen."
Deswegen sei der Austausch zwischen den verschiedenen Stellen unerlässlich. In täglichen Lagebesprechungen würden auch Auffälligkeiten besprochen. "Vor Kurzem hatten wir einen Mann, der ein schweres Kriegstrauma erlitten hat", erzählt Sarah Eitelwein. Für ihn sei psychiatrische Hilfe organisiert worden.
9. Wie die Geflüchteten in privaten Wohnraum kommen
"Unser Ziel ist es", so Paul Justice, "die Geflüchteten schnell in privaten Wohnraum zu bringen." Zur Sichtung der Zimmer oder Wohnungen, die viele Landkreisbürger anboten, sei im Landratsamt ein Team zusammengestellt worden. "Wir versuchen Wohnungsanbieter- und Suchende so gut es geht zu matchen", sagt Eitelwein. Bisher konnten 150 Leute in privaten Wohnraum vermittelt werden. "Das ist auch der Grund, warum die Notunterkünfte derzeit nur zu einem Drittel belegt sind, von 340 Plätzen momentan 130." Gleichzeitig spüre man, dass viele Geflüchtete als Lebensort in Richtung Stadt tendierten.
10. Warum Notunterkünfte geschlossen werden
Seit über einer Woche ist kein Bus mit Geflüchteten mehr im Landkreis angekommen, die Notunterkünfte sind nur zu einem Drittel belegt. Laut Nina Opfermann ist das der Grund, warum die Erstanlaufstellen in Zell am Main und Ochsenfurt zeitnah geschlossen werden. Über die weitere Strategie der insgesamt fünf Notunterkünfte werde täglich neu beraten. „Der Krieg ist leider nicht vorbei, keiner weiß, was noch kommt." Man könne jederzeit wieder Kapazitäten hochfahren. Dennoch stehen weitere Herausforderungen an, so Opfermann. Sei es die Beschulung von ukrainischen Kindern, Sprachkurse für die Geflüchteten, die Verbesserung der Impfquoten - sowohl Corona als auch Masern - und die Integration der Geflüchteten in den Arbeitsmarkt.
Noch viel derber: Das Landratsamt empfiehlt den Kommunen Abschlags- und Auszahlungen an Geflüchtete Ukrainer mittels Barschecks durchzuführen. Die Sparkasse Mainfranken, bei der die überwiegende Mehrheit der Kriegsflüchtlinge Konten eröffnen, empfiehlt bis auf Weiteres keine Barschecks an ukrainische Empfänger auszugeben.
Sehr geehrte Frau Landrätin Bischoff (Kitzingen): Wie wär's wenn Sie Ihr Verwaltungsratsvorsitzmandat mal ernst nehmen würden?