Der entscheidende Anruf erreichte Norman Jacob sen. am 16. Januar. Bei einem anderen Leberkranken hatte sich das Spenderorgan als ungeeignet herausgestellt, da wurde der Würzburger Rechtsanwalt ins Uni-Klinikum gerufen. In einer mehrstündigen Operation transplantierte Professor Ingo Klein dem heute 67-Jährigen eine Leber. Jacobs ursprüngliches Organ war aufgrund einer genetischen Erkrankung nicht mehr funktionsfähig. "Ich war ein Sterbender", beschreibt er seine damalige Gefühlslage, sieben Monate wartete er auf eine neue Leber. Heute stehe er wieder im Leben, wenngleich "mit einem ganz anderen Bewusstsein". Der unbekannte Organspender habe ihm eine zweite Chance ermöglicht.
Norman Jacob trägt selbst schon länger einen Organspendeausweis bei sich. Dass Bewegung in die gesellschaftliche und politischen Debatte gekommen ist, seit Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) die Widerspruchslösung als gesetzliche Grundlage für die Organspende ins Gespräch gebracht hat, begrüßt der 67-Jährige. Wobei es für ihn auch "völlig in Ordnung ist", wenn jemand nein zur Organspende sagt.
Wichtig sei, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen, überhaupt eine Entscheidung zu treffen, sagte Jacob beim "Würzburger Kellergespräch", das die Juristen-Alumni der Uni Würzburg gemeinsam mit dieser Redaktion zum dritten Mal veranstalteten. Pro und contra Widerspruchslösung diskutierten rund 100 Zuhörer mit Experten und Betroffenen. Redakteur Andreas Jungbauer moderierte.
In Umfragen gibt es viel Zustimmung zur Organspende
Zehntausend Menschen warten in Deutschland derzeit auf ein Spenderorgan. Bis der entscheidende Anruf kommt, dauert es oft Monate und Jahre. Längst nicht jedem Patienten kann geholfen werden. Laut einer Statistik der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO) gab es 2017 in Deutschland nur 797 sogenannte postmortale Organspender– der niedrigste Stand seit 20 Jahren.
Dabei sind die Deutschen durchaus bereit, ihre Organe zur Verfügung zu stellen. Ein gutes Drittel hat mittlerweile einen Organspendeausweis unterschrieben, 80 Prozent stehen in Umfragen der Organspende positiv gegenüber. Doch warum stirbt dann immer noch durchschnittlich alle acht Stunden ein Mensch auf der Warteliste, weil kein passendes Spenderorgan gefunden wird? Warum ist die Zahl der Spender vor allem auch im europäischen Vergleich gering?
Transplantationschirurg Ingo Klein sieht die Fehler im System. „Wir bekommen in den Kliniken die organisatorischen Herausforderungen häufig nicht gestemmt.“ Aufgrund von mangelnder Personalausstattung und wirtschaftlichen Zwängen würden potenzielle Spender vielerorts nicht als solche erkannt, sagt Klein. Die Bundesregierung hat das mittlerweile auch festgestellt. Laut einem Gesetzentwurf sollen Transplantionsbeauftragte in den Krankenhäusern mehr Zeit - unter anderem für Gespräche mit Angehörigen - zur Verfügung gestellt, ein Zugangsrecht zu den Intensivstationen und uneingeschränkten Einblick in Patientenakten bekommen. Außerdem sollen sogenannte „Entnahmekliniken“ finanziell besser unterstützt und ein flächendeckendes Berichtssystem zur Spendererkennung geschaffen werden.
Minister Spahn will die Widerspruchslösung
Spahn entfachte darüber hinaus eine kontroverse Debatte über die sogenannte doppelte Widerspruchslösung. Danach wäre jeder Mensch, bei dem der Hirntod zweifelsfrei festgestellt wurde, automatisch ein Organspender, falls er nicht selbst zu Lebzeiten einer Organentnahme schriftlich ausdrücklich widersprochen hat oder seine Angehörige der Transplantation die Zustimmung versagen. Für die Widerspruchslösung, wie sie in der großen Mehrzahl der europäischen Länder der Rechtslage entspricht, gibt es viel Zustimmung. Aber auch Kritiker melden sich zu Wort.
Heiner Röschert hat seine ganz eigene Perspektive. Vor sieben Jahren verlor er bei einem Unfall seine beiden Kinder. Am Weihnachtsabend, nachts um halb zwei, wurde ihnen ein entgegenkommender Raser zum Verhängnis. Mit 160 Stundenkilometern prallte der Mann mit seinem Wagen in Pia Röscherts Auto. Heiner Röscherts Tochter verstarb noch an der Unfallstelle. Nach 30 Stunden diagnostizierten die Ärzte bei seinem Sohn Felix den klinischen Hirntod und der Vater stand vor der Frage, die Organe seines Sohnes zu spenden.
Er zögerte nicht lange. Felix Röschert besaß einen Organspendeausweis und als Vater wusste er, dass dies der letzte Wille seines Sohnes gewesen wäre. „In dieser Situation war ich Vater und Mensch“, sagt er rückblickend. „Organspende ist ein Akt der Menschlichkeit – nicht der Juristen.“ Jedes Jahr wird er von der DSO benachrichtigt, wie es den Organempfängern geht. Vier Menschen hat Felix Röschert durch die Spende von Herz, Leber, beider Nieren und der Bauchspeicheldrüse das Leben gerettet und ihnen bis heute zusammen fast 30 Lebensjahre geschenkt.
Auch Brigitte Meister aus Rüdenhausen (Lkr. Kitzingen) wurde beschenkt. Kurz nachdem bei ihr eine irreversible Herzkrankheit diagnostiziert wurde, war sie an dem Punkt, ihr eigenes Testament zu verfassen. 2012 aber kam der entscheidende Anruf. Es sei ein passendes Spenderherz gefunden worden. Rückblickend sagt die 61-Jährige: „Ich habe gekämpft und bin am Leben geblieben.“ Seitdem engagiert sie sich für die Organspende. Gleiches gilt für Stefan Endrich aus Karbach (Lkr. Main-Spessart), ihm wurde 1989 und 2010 jeweils eine neue Niere transplantiert. "Ohne die Selbstlosigkeit von Organspendern hätten meine Kinder keinen Vater mehr, hätten meine Enkel ihren Opa niemals kennengelernt."
Warten auf eine Spenderniere für das Kind
Der 17 Monate alte Paul Panzer wartet noch. Er steht – wie viele andere – auf der Warteliste für ein Spenderorgan. Nach seiner Geburt diagnostizierten die Ärzte eine angeborene Nierenschädigung. Für die junge Familie ein Schicksalsschlag. Die Wartezeit liegt derzeit zwischen drei bis vier Jahren.
Es ist nicht sicher, ob der kleine Paul so lange gegen die Krankheit ankämpfen kann. Doch seine Eltern geben nicht auf. Vater Dominik Panzer ist mittlerweile an dem Punkt angekommen, auch eine Lebendspende in Betracht zu ziehen – ein durchaus riskanter Eingriff.
Bei der Frage der Widerspruchslösung sind sich die Transplantierten einig. Dies sei der richtige Weg, um die Zahl der potenziellen Spender zu erhöhen. Unter Juristen gibt es da Zweifel. Dass der Staat es als Zustimmung zur Organspende wertet, wenn sich Menschen zu Lebzeiten nicht entscheiden wollen und schweigen, sei seiner Meinung nach nicht mit unserer Rechtsordnung vereinbar, sagt der Würzburger Strafrechtsprofessor Eric Hilgendorf. Er kann sich vorstellen, die Zustimmung zur Organspende immer dann von den Bürgern abzufragen, wenn sie beispielsweise bei ihrer Kommune einen neuen Personalausweis beantragen.
Dem Einwand, eine solche Entscheidung sollte nicht zwischen Tür und Angel getroffen werden, könne man mit einer entsprechenden Informationskampagne begegnen. Wer den Ausweis beantragt, bekomme die Unterlagen zum Thema mit, und bringe sie - wie auch immer ausgefüllt - wieder zurück, wenn er den Ausweis abholt.
Rainer Beckmann, der Mitglied der Enquete-Kommission „Recht und Ethik der modernen Medizin“ im Deutschen Bundestag war und als Dozent für Medizinrecht tätig ist, sieht ebenfalls verfassungsrechtliche Fragen tangiert, wenn eine Zustimmung "ohne den ausdrücklichen Willen des Einzelnen“ einfach angenommen wird. Das sei ein tiefer Einschnitt in die "Selbstbestimmung des Einzelnen". Amtsrichter Beckmann fordert zudem eine Debatte, ob der Hirntod eines potenziellen Spenders wirklich ein "sicheres Todeszeichen" ist. Immerhin zeige der Körper häufig auch nach der Todesfeststellung noch Reflexe. Er, so Beckmann, spreche deshalb lieber von "sterbenden Menschen", denen Organe entnommen werden, als von Toten.
Mediziner haben klare Definition des Hirntods
„Der Hirntod ist ein Thema, das für die Allgemeinheit nur schwer zu begreifen ist“, erklärt Professor Ingo Klein. Tatsächlich habe es erst der intensiv-medizinische Fortschritt ermöglicht, Patienten maschinell am Leben zu erhalten, obwohl ihre Hirnfunktion längst ausgefallen ist. Dies mache man sich in der Transplantationsmedizin zunutze.
Die Definition des Hirntods sei in der Medizin unumstritten: Zwei Fachärzte, darunter mindestens ein Neurologe oder Neurochirurg, müssen unabhängig vom aktuell behandelnden Arzt den "irreversiblen Ausfall der Hirnfunktionen" des potenziellen Spenders feststellen. Immer mal wieder auftauchende Berichte, Menschen hätten trotz eines diagnostizierten Hirntods weitergelebt, hätten einer Überprüfung nicht standgehalten.
Einig sind sich Zuhörer und Experten beim Kellergespräch, dass es - egal aus welcher Richtung - mehr Diskussion zum Thema Organspende braucht. Nur dann könnten die Menschen auch, egal ob pro oder contra, kompetente Entscheidungen treffen. Die aktuelle politische Debatte zeigt jedenfalls Wirkung: Bei ihrem Jahrestreffen in Frankfurt gab die Deutsche Stiftung Organtransplantation jetzt bekannt, dass die Zahl der Organspender in Deutschland in diesem Jahr wieder leicht steigt. Nach 797 im Vorjahr wurden bis zum 18. November bereits 832 Organspender registriert.
Weiterhin wäre eine elektronische Erfassung des Spendewillens wichtig. Z.B auf der Gesundheitskarte. Damit wäre es eigentlich egal, ob wir eine Zustimmungslösung oder eine Widerspruchlösung haben und die Transplantationsmediziner hätten eine klare Willensbekundung des potentiellen Spenders.