Am kommenden Montag wird das Oberlandesgericht Naumburg in Magdeburg das Urteil im Prozess um den Anschlag auf die Synagoge von Halle verkünden. Am 9. Oktober 2019 hatte ein heute 28-jähriger Deutscher versucht, 51 Menschen zu töten, die in dem Gotteshaus den höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur feierten. Er scheiterte an der massiven Tür und erschoss daraufhin zwei Passanten, darunter den Gast eines Döner-Imbisses. Die Anklage spricht von einem der "widerwärtigsten antisemitischen Akte" seit dem Zweiten Weltkrieg. Josef Schuster, der Präsident des Zentralrats, erläutert, wie Jüdinnen und Juden in Deutschland den Prozess wahrgenommen haben - und was sie von dem Urteil erwarten.
Josef Schuster: Das Urteil ist wichtig und hat Signalwirkung. Mir geht es jedoch um den gesamten Prozess. Mein Eindruck ist, das Gericht mit der Vorsitzenden Richterin Ursula Mertens hat das Verfahren mit viel Feingefühl gegenüber den Opfern geführt. Straff zwar, aber eben auch so, dass alle Beteiligten das Gefühl haben konnten, gehört worden zu sein. Sowohl die Anwälte der Nebenkläger, als auch der Rechtsvertreter des Angeklagten haben von einer sehr fairen Verhandlung gesprochen.
Schuster: Ich denke, das Verhalten des Täters vor Gericht, seine zahlreichen Einlassungen, die abermals seinen Hass auf Juden und Muslime deutlich gemacht haben, - gerade auch beim letzten Wort – zeigen, dass er nichts bereut und jederzeit bereit wäre, so eine Tat erneut auszuführen. Da kann es in meinen Augen – es sind zwei Menschen ermordet worden – nur lebenslänglich geben. Außerdem gehe ich davon aus, dass das Gericht die besondere Schwere der Schuld feststellt, die anschließende Sicherheitsverwahrung anordnet und der Täter somit nicht nach 15 Jahren Gefängnis in Freiheit entlassen wird.
Schuster: Den Betroffenen war es wichtig, dieses schreckliche Attentat aus ihrer Sicht zu schildern, ihr Erleben in den Vordergrund zu stellen und dem Täter nicht die Deutungshoheit zu überlassen. Ich glaube, die Betroffenen wollten auch versuchen, die Tatmotive, und seien sie noch so krude, zu verstehen. Wie kommt es zu so einer antisemitischen, rassistischen und menschenfeindlichen Einstellung, wie zu einer solchen Tat?
Schuster: Ja, ich denke schon.
Schuster: Das Abgleiten des Täters in den Rechtsextremismus lässt sich nun besser nachvollziehen. Ich erinnere mich an Interviews im Vorfeld des Prozesses, in denen seine Mutter deutlich antijüdische Ressentiments zum Ausdruck brachte. Das zeigt, dass der Täter bereits im Elternhaus eindeutig geprägt wurde. Nach seinem Rückzug ins Internet hat der Mann sich die Webseiten und Foren herausgesucht, in denen sein angebahntes Weltbild passte. Nach und nach hat es sich verfestigt. Wenn der Täter dann mit seinen antisemitischen Einstellungen und den Überlegungen zu einem Anschlag auch noch in den entsprechenden Chatrooms bestätigt wird, dann ist das eine Gemengelage, die hochexplosiv ist.
Schuster: Ich sehe eine Art Dreiklang: Die Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke, die Bluttat von Halle und die Mordanschläge von Hanau geschahen innerhalb von nur wenigen Monaten. Das zeigt, dass das rechtsextreme Milieu zunehmend gewaltbereit ist. Der Täter von Halle mag alleine gehandelt haben, er ist jedoch von Gleichgesinnten im Internet sowie im Darknet in seinem Denken und in seinen Plänen bestärkt worden und hat sich radikalisiert. Diese Netzwerke müssen verstärkt beobachtet werden. Für mich sind die Attentate auch die negative Konsequenz daraus, wenn öffentlich Dinge gesagt werden, die man sich lange Zeit in Deutschland nicht getraut hat zu sagen.
Schuster: Wenn Politiker das Denkmal für die ermordeten Juden ein „Mahnmal der Schande“ nennen, wenn man eine Wende der Erinnerungspolitik um 180 Grad fordert, also wenn entsprechende Äußerungen von AfD-Funktionären salonfähig und in die Mitte der Gesellschaft getragen werden, dann ist das nichts anderes. In letzter Konsequenz folgen aus enthemmten Worten dann Taten. Das sehen wir in allen drei Fällen.
Schuster: Absolute Gewähr gibt es nicht, aber in dieser Form hätte ein solcher Anschlag in Würzburg nicht passieren können. Die Polizei ist hier dauerhaft und sichtbar präsent, vor allem an jüdischen Feiertagen wie Jom Kippur. In Halle war das nicht der Fall. Das ist auch der Grund, weshalb Bundesinnenminister Horst Seehofer unmittelbar nach dem Anschlag dafür gesorgt hat, dass die Einrichtungen aller jüdischen Gemeinden im Bundesgebiet auf ihre Sicherheit überprüft werden und dass der Schutz, wo nötig, verbessert wird.
Schuster: Definitiv ja. Und ich denke, das gilt auch für ihre Vorgänger. Bei den aktuellen Amtsträgern weiß ich aus persönlichen Gesprächen, dass ihnen das Wohlergehen der jüdischen Gemeinschaft, insbesondere in Deutschland, ein Herzensanliegen ist.
Schuster: In Dessau gab es Beschwerden, dass die Polizei zu lange brauche, bis sie bei Straftaten vor Ort ist. Zur Erklärung sagte Minister Stahlknecht, es fehle an Personal, weil die Polizei Dessau nunmehr den Schutz der jüdischen Gemeinde sicherzustellen habe. Das klingt als seien die Juden daran schuld, wenn die Polizei bei anderen Einsätzen zu spät kommt. Das ist in meinen Augen Antisemitismus.
Schuster: Ein Gespräch zwischen mir und Herrn Stahlknecht kam nicht zustande. Ministerpräsident Reiner Haseloff hat sich aber bei der Gedenkveranstaltung zum Jahrestag des Anschlags in Halle deutlich von Stahlknechts Worten distanziert. Kurz danach hat Haseloff dem Minister dann sein Vertrauen entzogen, weil dieser Überlegungen anstellte, eine Minderheitsregierung der CDU unter Duldung der AfD anzustreben. Auch das ist für mich inakzeptabel.
Schuster: Ich finde diesen Plan sehr gut. Der Zentralrat der Juden hat daran mitgearbeitet. Alle Punkte sind wichtig. Nur eins: Wir stehen am Ende der Legislaturperiode und müssen darauf achten, dass diese Liste mit 89 Maßnahmen nach der Wahl nicht in irgendeiner der vielen Schubladen in Berlin verschwindet. Ich werde ein Auge darauf haben.
Schuster: Jeder und jede kann im persönlichen Umfeld, im Kollegenkreis, in der Clique oder am Stammtisch eine ganze Menge tun. Denn da fallen immer wieder Bemerkungen, die Vorurteile transportieren und fördern. Dann sollte man fragen: Meinst Du das ernst, was Du gesagt hast, findest Du das wirklich gut? Dem anderen den Spiegel vors Gesicht zu halten, das fordert keine riesige Zivilcourage, aber es ist ein Anfang.
Schuster: Entscheidend bleibt Bildung. Trotz aller Corona-Beschränkungen dürfen wir an den Schulen beim Thema Antisemitismus und Rassismus nicht nachlassen. Hier kann und muss es noch eine ganze Menge mehr an Aufklärung geben. Und ich baue auf das Jahr 2021, wenn das Jubiläum „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ gefeiert wird. Dann sollte für jeden deutlich werden, dass dies mehr ist als die Schoa, nämlich seit Jahrhunderten ein fester Bestandteil unserer Gesellschaft. Ich würde mir wünschen, dass jüdisches Leben in Deutschland als selbstverständlich betrachtet wird.
Schuster: Juden können in Deutschland in meinen Augen sicher leben. Hundertprozentigen Schutz gibt es nirgendwo. Juden sind selbst in Israel von Terrorismus bedroht. Leider.
Schuster: Mut macht mir die klare Position der politisch Verantwortlichen, vor allem der Regierenden in Bund und Ländern. Mir macht auch Mut, dass wir in den Tagen und Wochen nach Halle eine sehr große Anzahl an Solidaritätsbekundungen aus der Bevölkerung erhalten haben.
Schuster: Viele Bürger, darunter sogar Schulklassen, haben uns geschrieben, sie haben ihrer Abscheu über dieses Attentat Ausdruck verliehen und sich klar für jüdisches Leben ausgesprochen. Das hatte ich so nicht erwartet, das ist wirklich ermutigend.
Wie können Sie in Deutschland lebende deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens für die Politik Israels verantwortlich machen?
Das ist absurd!
Wenn deutsche Muslime Anfeindungen erleben und das thematisieren und kritisieren und das würde dann damit abgetan, dass der Zentralrat der Muslime in Deutschland sich bspw. erstmal um den Kurdenkonflikt in der Türkei kümmern soll, dann hätte das mit Meinungsfreiheit nichts zu tun, sondern würde einen falschen Zusammenhang herstellen. Muslimische Deutsche hier auf Grund ihrer Religionszugehörigkeit verantwaortlich zu machen, wäre schlicht islamfeindlich.
Im Jahr 2006 war sicher noch jemand anders als Hr. Schuster Vorsitzender des Zentralrats.
Die mahnenden Worte des Hr. Schuster zum aktuellen Aufflammen des Antisemitismus in Deutschland sind ohne Zweifel berechtigt und ihn und dessen Organisation für die Politik des aktuellen höchst korrupten Ministerpräsidenten Israels verantwortlich zu machen ist einfach Unfug.
Die Politik in Israel, wo seit der Ermordung Rabins nur noch Hardliner die Regierung stellen, kann man sicher wirklich kritisieren und auch ich sehe die Entwicklung im Pulverfass Naher Osten mit Besorgnis.
Aber mir würde es nicht im Traum einfallen den Zentralrat der Juden in Deutschland für die Politik des korrupten israelischen Premierminister verantwortlich zu machen.
Sind für Sie auch wir Deutschen verantwortlich für alle Schandtaten die deutsche Auswanderer irgendwo in der Welt begehen, wie zum Beispiel die Colonia Dignidad des Hr. Schäfer in Chile?
Entschuldigung, da verstehen Sie mich falsch. Es geht nicht darum, eine bestimmte Bevölkerungsgruppe im Gesamten für Taten eines Staates oder einer Organisation verantwortlich zu machen, noch den Zentralrat für die Politik Israels verantwortlich zu machen - das wäre auch völlig idiotisch. Es ging vor dem Hintergrund des Kommentars von Marder16180912 rein darum, dass der Zentralrat durchaus ein Zeichen hinsichtlich des Konfliktes in Palästina setzen könnte, gerade weil er ja sich Israel besonders verbunden sieht und - wie etwa 2006 geschehen - hier ganz klar eine Position einnimmt hat, die nicht ganz unproblematisch ist. Der Zentralrat könnte also betonen, dass er die völkerrechtlich mindestens problematische Expansionspolitik Israels und die Zweiklassengesellschaft in Israel nicht gutheißt.
Vielleicht sollten die Vertreter des Judentums endlich mal aufhören, ständig mit dem Finger in der Wunde zu bohren oder die Tränendrüse zu drücken, dann bestünde wirklich die Chance, dass eine Art Normalität im Umgang miteinander eintreten könnte. Sicherlich darf Geschichte nicht vergessen werden....
Ich habe vor kurzem 2 Karikaturen in der Presse gesehen: auf der einen war ein Islamist, auf der anderen ein Jude zu sehen. Die Kommentare darunter: beim 1. stand „ Pressefreiheit „ beim anderen „Antisemitismus“...... das sagt vieles aus. Mir persönlich ist es wirklich sch.....egal, welcher Religion mein Gegenüber angehört, solange er sich als Mensch ordentlich benimmt. I.d.S. wünsche ich ALLEN eine gute Zeit!
Und Islamisten = Terroristen und Extremisten sollten mehr Schonung erfahren dadaurch, dass Meinungs- und Pressefreiheit enger gesteckt werden?
Ich bin mir weder sicher, ob Ihnen wirklich klar ist, was Sie da geschrieben haben, noch ob denen die "Gefällt mir" angeklickt haben, wissen, was sie da liken. Vor diesem Hintergrund ist allerdings sonnenklar, warum jüdische Deutsche im eigenen Land Angst um ihre Sicherheit haben und dass (nicht nur!) der Zentralrat gut daran tut, auf Antisemitismus hinzuweisen und zu seiner Bekämpfung aufzurufen.
Im übrigen Teile ich seine Ansicht nicht, dass heute vieles hoffähig geworden ist.
Was in den 60er und 70er Jahren an ekelhaften Judenwitzen ganz normal war, das spottet heute jeder Beschreibung.
Da ist also wirklich vieles eher besser als schlechter geworden. Das sollte Herr Schuster auch mal anerkennen und nicht immer nur rumjammern.
Wie die deutsche Justiz teilweise besetzt ist kann einen Demokraten manchmal schon erschüttern.
Noch vor einigen Jahren kam ein sächsischer Jurist mit Bezug zur rechten Szene in Oberfranken auf einen Richterstuhl.
Leider greift der Radikalenerlass, der verhindern sollte dass Demokratiefeinde in den Staatsdienst kommen, bei der rechten Szene gar nicht. Auch die einschlägigen Schlagzeilen über
Droh - E - Mails aus Polizeicomputern sprechen Bände.
Die Anmerkungen des Herrn Schuster sind durchaus berechtigt.
https://www.mainpost.de/ueberregional/politik/brennpunkte/verfassungsrichterin-mitglied-in-beobachteter-vereinigung-art-10448323
https://www.mainpost.de/ueberregional/politik/brennpunkte/kontroverse-um-linke-verfassungsrichterin-art-10448777
https://www.mainpost.de/ueberregional/politik/brennpunkte/linke-politikerin-an-verfassungsgericht-kritik-von-akk-art-10449322