
Mit Beginn der Corona-Pandemie in Deutschland tauchten sie auf: seltsame Verschwörungstheorien, beunruhigende Falschmeldungen, zweifelhafte Gesundheits- und Heilungsangebote. Dr. Matthias Pöhlmann, Beauftragter der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern für Sekten- und Weltanschauungsfragen, und seine Kollegen haben Hunderte Anfragen von verunsicherten Angehörigen von Verschwörungsgläubigen bekommen."Abstandsregeln, ob physisch oder geistig, sind dringend zu empfehlen", sagt Pöhlmann. Man müsse aber auch "Geduld haben" und "Türen offen halten." Ein Gespräch über Querdenker - und was es mit dem "Q" auf sich hat.
Matthias Pöhlmann: Es handelt sich um Menschen, die sich abgehängt fühlen von den politischen Entscheidungsprozessen. Sie sehen sich jedoch als Teil einer aufgewachten wissenden Gemeinschaft. Das ist das verbindende Element bei QAnon-Anhängern, aber auch bei der Querdenken-Bewegung in Deutschland. Die Szene hat sich jedoch radikalisiert. Zudem gibt es offensichtliche Verbindungen.
Pöhlmann: Bereits vor Monaten tauchte bei den Kundgebungen, an denen ich als Beobachter immer dabei bin, das "Q" als Symbol auf. Zuerst fiel mir das bei der "Hygiene-Demonstration" im Mai 2020 in München auf. Dort wurden Transparente mit dem Buchstaben "Q" und mit dem Kürzel "WWG1WGA" hochgehalten. Es steht für "Where We Go One We Go All", sinngemäß "Einer für alle, alle für einen". Das ist der Slogan von QAnon. Und das "Q" ist eine Art Signet, ein Erkennungszeichen. QAnon ist also kein US-amerikanisches Phänomen. In einschlägigen Internet-Messenger-Diensten wie Telegram findet ein reger Austausch statt. Der deutschsprachige Kanal Qlobal-Change hat bereits 162 000 Nutzer.

Pöhlmann: Auf den ersten Blick findet keine Abgrenzung statt. Aber der Ursprung der Verschwörungstheorie ist anders. Die Kernerzählung bei QAnon, die seit 2017 im Umlauf ist, dreht sich darum, dass es ein Netzwerk aus pädophilen Prominenten, Politikern, speziell Demokraten, und Finanzeliten geben soll, das Kinder entführt, foltert und tötet. Dabei werde ihnen ein Verjüngungselixier, das Adrenochrom, entnommen. Donald Trump gilt als Erlöser. Er würde den Krieg gegen den "tiefen Staat" führen. Demonstranten hierzulande wehrten sich gegen die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie. Dann aber mischten sich unter die Demonstrationen auch Verschwörungsgläubige, Esoteriker und Extremisten aus der rechten Ecke. Das Gemeinsame zwischen QAnon und etlichen Querdenkern ist der Glaube an geheime Mächte, gegen die man sich mit zunehmenden Hass verbündet.
Pöhlmann: Schon vor der Corona-Pandemie gab es in der Bevölkerung eine große Bereitschaft für die Akzeptanz von Verschwörungstheorien. Die kürzlich veröffentlichte „Mitte“-Studie der Universität Leipzig zu autoritären und rechtsextremen Einstellungen in Deutschland stellte fest: Die Hälfte der Befragten vertritt eine wissenschaftsskeptische oder sogar wissenschaftsfeindliche Haltung. Fast ebenso viele gaben an, dass es geheime Organisationen gibt, die großen Einfluss auf politische Entscheidungen hätten.

Pöhlmann: Ja, etwa von der Universität Erfurt: Jeweils 17 Prozent der Befragten glauben, Corona sei menschengemacht im Sinne von "böser Absicht" beziehungsweise ein Schwindel. Laut dieser Studie geht es den Befragten eher um die Ablehnung einer offiziellen Sichtweise.
Pöhlmann: Verschwörungserzählungen können eine ersatzreligiöse Funktion haben. Sie werden zu einem Verschwörungsglauben. Das entspringt einer tiefen Sehnsucht nach einfachen Antworten angesichts einer komplexen Wirklichkeit. Hinzu kommt die Pandemieerfahrung, die zu einem Kontrollverlust führt, zu dem Gefühl der Ohnmacht. Solche Krisenerfahrungen verlangen nach Deutung. Verschwörungserzähler wollen dieses Bedürfnis nach Erklärung bieten - und bringen damit auch bestimmte Feindbilder beziehungsweise eine Sündenbock-Theorie in Umlauf.

Pöhlmann: Es gibt eine verschwörungsgläubige Karriere: Menschen lesen zunächst etwas. Manche steigen dann mehr ein und informieren sich vor allem über alternative Medienkanäle. Öffentlich-rechtliche Medien werden nicht mehr beachtet. Man bewegt sich nur noch in "digitalen Echokammern" im Internet, weil man dort eine Bestätigung der eigenen Auffassung erlebt. Sie sind der Motor für Verschwörungstheorien. Man avanciert zu einem Experten im Unterschied zu den "Schlafschafen", zählt sich zu den "Erwachten", den "Erleuchteten".

Pöhlmann: Die Radikalisierung ist das große Problem. Wenn Verschwörungsgläubige meinen, dass die Feinde übermächtig sind, sehen sie Gewalt als legitimes Mittel an – wie in den USA.
Pöhlmann: Ursachenforschung ist eine politische und auch eine weltanschauliche Herausforderung im Blick auf Sinnstiftung und Sinnorientierung von Menschen in demokratischen Gesellschaften. Querdenken ist zunächst eine offene initiative Bewegung. Sie erweist sich aber anschlussfähig an ganz unterschiedliche Protestgruppen. Auf den Demos fallen neben ganz normalen besorgten Menschen eben auch Rechtsextreme auf, die die Gunst der Stunde für eigene Zwecke nutzen. Wobei die Initiatoren und Akteure dieser Querdenken-Demos deutliche Vernetzungen bis in die rechte Esoterik hinein haben.
Pöhlmann: Das bekannteste Gesicht ist Michael Ballweg, der Initiator von "Querdenken 711". Ballweg hält mit Erich Hambach enge Kontakte, der sich als Querdenker, Wahrheitsforscher und Aufklärer bezeichnet und den "Friedensweg" ins Leben gerufen hat. Hambach hat bereits eine neue Initiative ins Leben gerufen: "Menschen machen Mut".

Pöhlmann: Generell sollte man diesen Menschen auf Augenhöhe begegnen. Aber Abstandsregeln, ob physisch oder geistig, sind dringend zu empfehlen. Bei Gesprächen im familiären Umfeld helfen Erkenntnisse aus der Sektenberatung. Wir Weltanschauungsbeauftragte empfehlen: Versuchen Sie möglichst Kontakt zu halten. Versuchen Sie die Motivation, das Lebensthema zu erspüren. Was sind die Ängste? Spielen Sorgen um die Gesundheit eine Rolle? Man sollte als Angehöriger aber auch den Mut haben, rote Linien zu markieren, wenn es um menschenverachtende oder antisemitische Aussagen geht.
Pöhlmann: Wichtig ist, eine emotionale Nähe herzustellen, dass man auch auf Themen zu sprechen kommt, was einen miteinander verbindet. Und das Signal: Die Türe ist und bleibt offen.
Pöhlmann: Nein! Das kann lange dauern. Und es hängt immer auch von der persönlichen Disposition und von der Dauer der Beschäftigung mit Verschwörungserzählungen ab. Wenn jemand noch nicht so lange dabei ist und noch Fragen hat, dann ist die Chance größer. Aber wenn jemand schon Monate oder Jahre abgetaucht ist, dann ist es erfahrungsgemäß sehr schwer, ihn wieder herauszuholen.
Pöhlmann: Querdenker stellen eine Art alternative Wissensgemeinschaft dar. Das unterscheidet sie von früheren sozialen Bewegungen, etwa der Anti-Atomkraft-Bewegung. Das waren sehr kritische Menschen. Sie haben aber sich mit wissenschaftlichen Erkenntnissen beschäftigt, wenn auch andere Schlüsse daraus gezogen. Es gab eine Basis, über die man streiten konnte. Mit Querdenkern gibt es diese Basis nicht.
Pöhlmann: Die Entwicklung ist unklar. Sie hängt auch vom weiteren Verlauf der Pandemie ab. Das Thema Impfkritik gewinnt gerade an Dynamik. Ivo Sasek, ein radikaler Schweizer Sektengründer, entwirft auf seinem Medium Klagemauer-TV bereits ein Horror-Szenario: "Das Impftöten hat begonnen."
Pöhlmann: Sicher nicht. Das Thema entwickelt eine ungeahnte Wucht. Wir Weltanschauungsbeauftragte brauchen Geduld – und einen christlichen Glauben!
Pöhlmann: Viele denken, Religion braucht es nicht. Aber Menschen suchen trotzdem nach Sinn. Mein Anliegen ist es, dass die beiden christlichen Kirchen den Verschwörungserzählern nicht das Feld überlassen. Sondern dass sie Mut machen, dass diese Krise auch wieder vorbei sein wird und wir die guten Kräfte in unserer Demokratie unterstützen müssen. Sodass am Ende nach der Wüste wieder grüne Täler zu erwandern sind.
Pöhlmann: Es ist eine Aufgabe für den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhalt. Wichtig wird eine Kultur der Rücksichtnahme gegenüber anderen sein. Und die Frage, wie es gelingt, Menschen, die so radikal ablehnend sind, auch wieder in den demokratischen Prozess miteinzubeziehen.