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Immer mehr verhaltensauffällige Kinder in Unterfrankens Grundschulen: Woran das liegt und was Lehrkräften helfen könnte
Sie stören, brauchen viel Aufmerksamkeit, sind gewalttätig: Verhaltensauffällige Kinder fordern Lehrkräfte bereits in den Grundschulen. Mögliche Erklärungen und Lösungsansätze.
Immer mehr verhaltensauffällige Kinder in den Grundschulen. Woher kommt das?
Foto: Illustration: Ivana Biscan | Immer mehr verhaltensauffällige Kinder in den Grundschulen. Woher kommt das?
Claudia Kneifel
 |  aktualisiert: 29.11.2024 02:37 Uhr

Die Zahlen sind alarmieren: An jeder zweiten Grundschule in Deutschland sind mittlerweile Kinder mit Beeinträchtigungen in der emotionalen und sozialen Entwicklung zu finden. "Zu den größten Herausforderungen, denen wir uns stellen müssen, gehört die wachsende Zahl verhaltensauffälliger Schüler, schon im ersten Schuljahr", sagt Simone Fleischmann, Präsidentin des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands (BLLV). 

Warum gibt es immer mehr verhaltensauffällige Kinder und was können Eltern und Schulen tun? Nachfrage bei der Schulpsychologin Silvia Glaser, dem Direktor der Würzburger Kinder- und Jugendpsychiatrie Marcel Romanos, der Leiterin der Erziehungsberatungsstelle beim Sozialdienst katholischer Frauen und Würzburg, Verena Delle Donne, und der BLLV-Präsidentin Simone Fleischmann.

Wie erkennt man, dass ein Kind verhaltensauffällig ist?

Man spricht von Verhaltensauffälligkeit, wenn sich das Kind dauerhaft anders verhält als seine Altersgenossen. Marcel Romanos, Leiter der Würzburger Kinder- und Jugendpsychiatrie, erklärt: "Wenn ein Kind oder seine Umgebung leidet, wenn das Verhalten über eine längere Zeit auffällig ist und deutlich von den Erwartungen für das Alter abweicht, könnte eine psychische Störung vorliegen."

Er betont jedoch, dass nicht jedes auffällige Verhalten eine Krankheit bedeutet. "Vielleicht gibt es auch pädagogische Probleme? Fehlen den Eltern Erziehungskompetenzen? Und manche Kinder haben einfach Schwierigkeiten, sich in offenen Lehrformen zu regulieren."

Marcel Romanos ist Klinikdirektor der Würzburger Kinder- und Jugendpsychiatrie. 
Foto: Johannes Kiefer | Marcel Romanos ist Klinikdirektor der Würzburger Kinder- und Jugendpsychiatrie. 

Wie viele Kinder haben psychische Probleme?

In Deutschland erkranken jährlich fast 20 Prozent der Kinder und Jugendlichen an einer psychischen Störung, so die Zahlen der Bundespsychotherapeutenkammer. Am häufigsten treten ADHS, Angststörungen, Depressionen und Verhaltensstörungen, also dauerhaft aufsässiges und aggressives Verhalten auf. Wer als Kind oder Jugendlicher psychisch erkrankt, bleibt auch als Erwachsener stärker gefährdet. Über die Hälfte aller psychischen Erkrankungen beginnt vor dem 19. Lebensjahr.

Wie erkennt man, dass ein Kind psychische Probleme hat?

Warnzeichen sind, wenn Kinder weniger sprechen, sich zurückziehen und Interessen aufgeben. Weitere Anzeichen sind schlechter Schlaf, starke Anhänglichkeit und fehlender Mut. "Manche Kinder reagieren genau gegenteilig, sie sind expansiv, aggressiv und gereizt. Solche emotionalen Beeinträchtigungen sind oft erste Zeichen für eine psychische Belastung", sagt Prof. Marcel Romanos.

Manchmal ist es für Eltern schwierig, die Verhaltensauffälligkeit als solche zu erkennen. Stressbedingte Überforderung tritt meist nicht zu Hause, sondern in der Kita oder Grundschule auf. 

Welche Arten von Verhaltensauffälligkeiten gibt es?

"Es gibt Kinder mit einer Angstproblematik, andere sind sehr zurückgezogen und leiden vielleicht an einer Depression und es gibt Kinder mit aggressivem Verhalten", sagt Silvia Glaser. Sie arbeitet im schulpsychologischen Dienst und betreut 2500 Schüler an Grund- und Mittelschulen in Stadt und Landkreis Schweinfurt. Im Zusammenhang mit Leistungsangst und Druck nehme auch die Anzahl der Kinder zu, die den Schulbesuch verweigern.

Die Schulpsychologin Silvia Glaser ist für 2500 Schülerinnen und Schüler zuständig.
Foto: Anand Anders | Die Schulpsychologin Silvia Glaser ist für 2500 Schülerinnen und Schüler zuständig.

Warum gibt es immer mehr verhaltensauffällige Kinder in der Schule?

Die Schulen seien heute der zentrale Lebensmittelpunkt der Kinder, sagt Marcel Romanos. Die meisten Schülerinnen und Schüler besuchen Ganztagsschulen und verbringen dort mehr Zeit als zu Hause. "Der Unterricht ist weniger streng und – zum Glück – frei von körperlichen Strafen. Kinder mit Verhaltensproblemen nutzen ihre Freiräume stärker und fallen dadurch mehr auf", sagt der Klinikleiter.

Auch die Familienstrukturen hätten sich verändert, sagt die Schulpsychologin Silvia Glaser. "Viele Kinder sind sehr viel allein. Andere Kinder haben ein Problem, weil ihnen noch nie Grenzen gesetzt wurden, das muss in der Schule dann gelernt werden", sagt Glaser. Aber auch der hohe Medienkonsum, unkontrolliertes Konsumieren von YouTube-Videos und Spielen von Videospielen führe manchmal in der Realität zu schwierigem Verhalten.

Wie kann Familien und Lehrkräften besser geholfen werden?

Wenn ein Kind aus dem Rahmen fällt, habe man als Lehrkraft laut BLLV-Präsidentin Fleischmann gleich mehrere Probleme: "Man hat ein trauriges Kind und viele andere Kinder, die dem Unterricht nicht folgen können." Das größte Problem sei aber, dass es in den Grundschulen viel zu wenig Lehrerinnen und Lehrer gebe. "Wir brauchen mehr Unterstützungspersonal und eine frühere Diagnostik bei Kindern. Oft werden Probleme erst in der Grundschule entdeckt, weil es in Kitas an Personal fehlt", sagt Fleischmann. 

"Insgesamt ist die Versorgungslandschaft für verhaltensauffällige Kinder sehr eng", bestätigt auch Verena Delle Donne, Leiterin der Erziehungs- und Familienberatung im Sozialdienst katholischer Frauen (SkF) in Würzburg. Es fehle eine schulvorbereitende Einrichtung für Kinder mit besonderem Förderbedarf. Viele Kinder hätten auch ein emotionales Thema. Auch sie sieht die Lösung in mehr Personal in Kitas und an Schulen. "Was wir brauchen, ist mehr Geld und damit mehr Fachkräfte, um die Familien zu unterstützen."

Eine weitere Schwierigkeit seien lange Wartezeiten bei Hilfsanfragen. Schulpsychologin Silvia Glaser sagt, dass sie bei Bedarf zum Beispiel an Therapeuten, Fachärzte oder Familienberatungsstellen verweise. Leider sei es allerdings sehr schwer für Kinder, solche Termine zeitnah zu bekommen.  "Wir müssen Wege finden, wie sich die Schule besser mit Hilfssystemen wie Therapie und Jugendhilfe vernetzen lässt", bestätigt auch Professor Romanos. Ebenso müsse man Präventionsstrategien entwickeln, um psychische Störungen zu reduzieren.

 
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  • Roland Rösch
    Zeig nur auf was diese Eltern verbockt haben und was dann überforderte Lehrer ausbaden sollen.
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  • Hans-Martin Hoffmann
    Nichts für ungut -

    aber ich glaube, in der Ganztagsschule aktueller Prägung wäre ich auch (noch) auffällig(er) geworden...

    Gibt es eigentlich Untersuchungen darüber, was passiert, wenn man Kindern, die z. B. zum Lesen ihre Ruhe haben wollen, dies immer verweigert und sie stattdessen einer permanenten Zwangsbeschäftigung in der Gruppe unterwirft?

    Irgendwas kann ja am Ansatz nicht stimmen, wenn die Ergebnisse (s. Pisa-Test) immer schlechter werden (da nützen vmtl. auch die beibehaltenen Religionsstunden nichts).

    Hm. Ob vielleicht Kinder auf diese Weise dagegen protestieren, alle über einen Kamm geschoren zu werden? Ernsthaft gefragt worden sind sie soviel ich weiß jedenfalls noch nie (und darauf gegeben hätten die "schlauen alten weißen Männer" im Ministerium wahrscheinlich eh nix).
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  • Ralf Eberhardt
    Was mir hier völlig fehlt: die Coronazeit. Im Februar 2023 wurde vom Bundesfamilienministerium eine Studie vorgestellt: "Analyse und Quantifizierung der gesellschaftlichen Kosten psychosozialer Belastungen von Kindern und Jugendlichen durch die COVID-19 Pandemie". Diese stellt in ihren Ergebnissen fast nur auf die Befunde Angst und Depression und deren langfristigen (auch finanziellen) Folgen ab, enthält aber für mich ebenfalls Gründe für die hier zitierten Veränderungen.
    Quelle: https://www.comcan.de/fileadmin/downloads/Abschlussbericht_CoV_Folgekosten_20230516final.pdf
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  • Katrin Weber
    Ich bin überzeugt, dass die zu frühe und uneingeschränkte Nutzung von sozialen Medien, insbesondere Tiktok, Instagram und unbegleitete Klassenchatgruppen auf WhatsApp, ein sehr großer Teil des Problems sind. Dort sehen die Kinder Dinge, die sie nicht verarbeiten können. Unmoderierte Klassenchatgruppen bieten viel Raum für Mobbing aller Art. Die Algorithmen der sozialen Medien spulen ebenfalls nach einmaligem Klicken auf Sensationsbilder immer weiter belastende Bilder und Videos von Kriegen, Untergangsfantasien und Gewalt hoch und ziehen die Kinder in einen nicht mehr zu stoppenden Strudel aus Belastung, Einsamkeit, Angst, Mobbing und Aggression.
    Die Australische Regierung hat vor Kurzem als Erste reagiert und ein Gesetz beschlossen, das die Nutzung von sozialen Medien unter 16 Jahren gegen Strafe verbietet.
    Das ist ein wichtiger und richtiger Ansatz und könnte nach einiger Zeit wieder etwas Ruhe in die Gesellschaft bringen.
    Soziale Medien müssen kontrolliert und geregelt werden.
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  • Simone Eckenroth
    Die Problematik der Eltern auf der Suche nach Unterstützung und/oder beginnt bei der Suche nach einem Kinderarzt: in ganz Würzburg werden nur noch Neugeborene aufgenommen. Wer zuzieht, hat keine Chance.
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  • Christa Bullmann
    Verhaltensauffällige Kinder oder überforderte Lehrer die nicht mehr wissen, wie sie die Kinder unterrichten sollen aufgrund von eigenen Defiziten?

    Ich kenne da selber Fälle, wo Grundschulen Kinder in die Förderschule abschieben, weil diese etwas aktiver waren. Wenn sich dann Eltern dagegen gesperrt haben, wird gedroht. Die Fälle, welche mir bekannt sind, sind mittlerweile sogar in höheren Schulen bereiten sich auf das Studium vor. Hier hat sich dann die Dickköpfigkeit der Eltern bezahlt gemacht.

    Meiner Meinung nach handelt es sich hier hauptsächlich um gefühlt, überforderte Frauen, die das Studium Lehramt gewählt haben. Vermutlich hat man sich das alles etwas einfacher vorgestellt und jetzt will man eben auf die Schiene Förderbedarf fahren, um die Kinder schnell in andere Schulen abzuschieben.

    Wie viele Kinder haben wohl eine verbaute Zukunft wegen einem überforderten Lehrer die dann eben in andere Einrichtungen abgeschoben wurden.

    Johannes Bullmann, MPA
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  • Ilse Ludwig
    Immer leicht die Verantwortung auf die Lehrer, in ihrem Fall Lehrerinnen, abzuschieben. Oft liegt es aber auch an überforderten oder zu ambitionierten Eltern...
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  • Emilie Krenner
    Es mag Lehrer geben, die erst nach dem Studium merken, was es heißt vor 30 Kindern zu stehen. Ich kann ihnen aber versichern, dass es (immer mehr) Kinder gibt, die gestandene Lehrkräfte mit 30 Jahren Berufserfahrung über ihre Grenzen bringen.
    Defizite in der Erziehung (siehe Grenzen aufzeigen) können nicht mal nebenbei nachgeholt werden.
    Ob es für das eine Kind besser ist als eine Förderschule- die wie der Name schon sagt- viel besser fördern kann, sei dahingestellt.
    Ganz sicher ist es schlechter für 29 andere Kinder. Die bleiben nicht nur im Lehrplan zurück und verzichten auf eigenen-viel geringerern Förderbedarf. Viele haben Angst vor dem agressiven Kind und verlieren jede Freude an der Schule.
    Die dickköpfigen Eltern sind weiter nicht bereit, selbst Erziehungsarbeit zu leisten. "Das Kind ist halt krank, da können wir nichts machen".
    Das ist dann verbaute Zukunft.
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  • Lothar Hohnheiser
    Ich lange in der Grundschule gearbeitet und muss diesem Kommentar alsolut widersprechen. Die Lehrerinnen an der Grundschule geben alles im Auffällige Kinder zu integrieren. Wenn das gar nicht klappt ist es wichtig solche Kinder Beratungslehrkräften. Schulberatungsstellen und Schulpsychologen zur Überprüfung vorzustellen , damit das Schlimmste verhütet wird. Dass es viel zu wenig Möglichkeiten gibt, liegt an der Politik. Manchmal ist es sogar so, dass Lehrerinnen zu lange warten bis sie weitere Schritte unternehmen, weil sie die Hoffnung nicht aufgeben wollen. Lehrerinnen hier die Schuld ist unverschämtes und unteflektiertes Lehrerinnenbashing. Weiter so und es geht mit unserem Schulsystem noch weiter bergab.
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  • Lothar Hohnheiser
    Schon der Begriff abschieben ist eine Frechheit. Auffällige Kinder werden getestet, die Eltern werden beraten und es wird gemeinsam nach besseren Förderorten gesucht. Wer das anders beschreibt hat keinerlei Ahnung von der pädagogischen Arbeit in der einer Grundschule.
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