"Mir fehlt die frische Luft. Und die Freiheit", sagt Uschi Lieb und fügt an: "Wir dürfen nicht mehr raus, nicht einmal mehr in den Garten, nur noch auf den Balkon." Die 67-Jährige wohnt im vierten Stock des Marie-Juchacz-Hauses, eines erst im Mai 2019 neu eröffneten Seniorenpflegeheims der Arbeiterwohlfahrt (AWO) in Würzburg. Es ist ein Haus, das wie 85 Prozent aller Altenpflegeeinrichtungen in Unterfranken bislang vom Coronavirus verschont geblieben ist. Und eines, das alles tut, damit dies auch so bleibt.
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Aus Sorge um die älteren Bewohner begann hier der Ausnahmezustand bereits Ende Februar: Noch bevor der erste Corona-Fall in Unterfranken bekannt wurde, sagte das Heim alle größeren Veranstaltungen, Gottesdienste und Schülerbesuche ab. Darauf, dass keine externen Besucher mehr hereingelassen werden, verständigte man sich schon eine Woche vor dem Beschluss der Bayerischen Staatsregierung.
Seit mehr als zwei Wochen dürfen die 103 Bewohner ihr jeweiliges Stockwerk nicht mehr verlassen. Auf jeder Etage werden stets die gleichen der 125 Mitarbeiter eingesetzt. Jede Wohngruppe aus rund einem Dutzend Personen gilt als Familiengemeinschaft: Sie darf zusammen Kaffee trinken, Bingo spielen oder backen. Der persönliche Kontakt zu Heimbewohnern aus anderen Wohngruppen, zu Angehörigen oder Freunden außerhalb aber ist verboten. "Ich telefoniere mit meinen Enkeln. Die gehen sehr auf mich ein", erzählt die 85-jährige Erna Hahn. "Telefon und Computer, das sind die einzigen Dinge, mit denen wir jetzt noch Kontakt nach draußen halten."
Bingo, Schafkopf und Skype
Seit die Schreckensnachrichten aus anderen Heimen nicht abreißen, geht auch Marie-Juchacz-Haus die Angst um: Davor, dass Mitarbeiter in Quarantäne geschickt werden, dass lieb gewonnene Zimmernachbarn sterben könnten.
Von 180 Altenpflegeheimen in Unterfranken waren - Stand Mitte vergangener Woche - knapp 15 Prozent vom Coronavirus betroffen. Von über 100 Menschen, die in Unterfranken an den Folgen des Virus gestorben sind, traf es mehr als 70 Bewohner aus Seniorenheimen, darunter über 40 allein im Stadtgebiet Würzburg. Trotzdem bleibt Raimund Binder, der Leiter der AWO-Einrichtung, optimistisch: "Seniorenheime sind gerade jetzt besonders schützenswerte Orte, aber kein Ort des Horrors."
Heimbewohnerin näht Mundschutzmasken
Binder weiß, wie schwer sich viele Bewohner, die fit und aktiv sind, mit den Einschränkungen tun. "Ich vermisse meine Stadtgänge. Und die Aktivitäten, bei denen man mal andere Menschen trifft, wie Gymnastik oder Gottesdienste", sagt die 86-jährige Hannelore Eichler. Liselotte Hofmann, 91 Jahre alt, stimmt ihr zu: "Ich war mit meiner Schwiegertochter regelmäßig einkaufen. Das fehlt mir. Wir dürfen nicht raus, die Schwiegertochter darf nicht rein. Jetzt geben wir unsere Einkaufsliste ab."
Doch die Seniorinnen versuchen, das Beste aus der Situation zu machen. "Wir sehen uns Gottesdienste im Fernsehen an, machen Bewegungsübungen - doch alles hier im vierten Stock, immer innerhalb unserer Wohngruppe", erzählt die 77-jährige Ingrid Göpfert. "Ich habe seit einigen Tagen einen tollen neuen Ausgleich. Man hat mir eine Nähmaschine besorgt", berichtet Marita Bartrow. Die 66-Jährige hat begonnen, Mundschutzmasken zu nähen.
Um den Bewohnern die Situation erträglicher zu machen, hat Raimund Binder zehn zusätzliche Mitarbeiter aus der ambulanten Hauswirtschaft der AWO abgezogen und ins Seniorenheim beordert. Sie sollen mit Spielen oder Gedächtnistraining für Abwechslung sorgen. Etwa 80 besorgte Angehörige werden zwei Mal pro Woche in einer E-Mail ausführlich über die Aktivitäten im Heim und den Gesundheitszustand aller unterrichtet. Bilder zeigen die Senioren bei einer hitzigen Schafkopfrunde oder die Mitarbeiter, wie sie mit einem Eiswagen durch die Gänge fahren. Ein neues Hobby haben viele 80 bis 90-Jährige nun auch: Skype und WhatsApp. Eva Bauer vom Sozialdienst macht´s möglich.
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Es gibt ehrenamtliche Konzerte einzelner Musiker im Hof, bei denen die Bewohner von ihren Fenstern aus zuhören: von Schlager, Blues und Country bis hin zu klassischer Musik. "Am schönsten finde ich die Lieder, bei denen man mitsingen kann", sagt Ingrid Göpfert. Irmgard Mensch fasst die Stimmung im vierten Stock zusammen: "Trotz allem haben wir eine gute Gemeinschaft. Wir verstehen uns gut und achten aufeinander." Trotzdem machten die Einschränkungen den meisten sehr zu schaffen: "Ich vermisse meinen Sohn. Er vermisst mich auch", fügt die 91-Jährige hinzu.
Frisör und Fußpflegerin: gesucht und gefunden
"Ich vermisse meinen Frisör", sagt Uschi Lieb schmunzelnd. "Die Fußpflegerin, die vermissen wir alle", ergänzt Hannelore Eichler. Alle am Tisch lachen. Doch auch für dieses Bedürfnis vieler Bewohner hat das Heim improvisiert und eine Lösung gefunden: Unter den Mitarbeitern fanden sich eine gelernte Fußpflegerin und sogar eine ehemalige Friseurmeisterin, die jetzt - streng getrennt und nacheinander - Haare und Füße der Senioren pflegen.