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Würzburg
Gewalt und Sanftmut: Was ehemalige Heimkinder in der "Wickenmayer" erlebten
Weitere ehemalige Heimkinder erzählen von ihren Erfahrungen vor rund 60 Jahren in der Wickenmayerschen Kinderpflege in Würzburg. Ein pensionierter Polizist wundert sich.
Weitere ehemalige Heimkinder erzählen von ihren Erfahrungen in der Wickenmayerschen Kinderpflege in Würzburg. Die Jungen berichten von Schlägen, Mädchen von Sanftmut.
Foto: Thomas Obermeier | Weitere ehemalige Heimkinder erzählen von ihren Erfahrungen in der Wickenmayerschen Kinderpflege in Würzburg. Die Jungen berichten von Schlägen, Mädchen von Sanftmut.
Christine Jeske
 |  aktualisiert: 09.02.2024 12:24 Uhr

Für Roland Fischer ist es eine "gute Nachricht". Im August trifft sich der 68-Jährige mit der Generaloberin der Erlöserschwestern Monika Edinger in Würzburg. Fischer, ein ehemaliges Heimkind, hatte dieser Redaktion von seinen schlimmen Gewalterfahrungen in der Wickenmayerschen Kinderpflege in Würzburg berichtet. Kurz darauf erreichte ihn Edingers Anruf.

Bis 1996 betreuten die Erlöserschwestern in der städtischen Einrichtung Kinder ab der Geburt. Einigen Schwestern wird körperliche Gewalt und sexueller Missbrauch vorgeworfen; auch zu ritueller Gewalt soll es gekommen sein. Die Erlöserschwestern setzen laut Edinger alles daran, "einen Aufarbeitungsprozess zu initiieren" und gehen davon aus, "dass dadurch Klarheit in die bisherigen Vorwürfe und Spekulationen kommen wird".

Roland Fischers Geschichte, ebenso die Schilderungen von Rita Rossa, wecken auch bei anderen ehemaligen Heimkindern Erinnerungen. Rossa hat ihre gesamte Kindheit und Jugend in der Wickenmayerschen Kinderpflege verbracht. Die Kinder, die übers Jugendamt dort eingewiesen wurden, hätten im Heim Struktur erlebt, berichtete sie dieser Redaktion.

Helene H. sagt, sie hat im Heim Zuverlässigkeit und Disziplin gelernt

Die ehemalige Heimbewohnerin Helene H., die in den 1960er und 70er Jahren von ihrem zweiten bis 17. Lebensjahr in der "Wickenmayer" war, bestätigt in einem Schreiben, das dieser Redaktion vorliegt, die strenge Erziehung . "Ich habe dadurch Zuverlässigkeit und Disziplin gelernt, was mir in meiner späteren Berufstätigkeit nützlich war", so Helene H., die heute "im Ausland" lebt und dort als Krankenschwester tätig ist. Kein einziges Mal sei sie geschlagen oder mit Abwertung behandelt oder "in irgendeiner Weise" missbraucht worden. Rituellen Missbrauch in der Kapelle hält sie für "unmöglich".

Helene H. schreibt weiter, dass die Schwester, die damals die Mädchengruppe leitete, "die Sanftmut selbst" gewesen sei. "Der Alltag mit 15 Schulkindern im Alter von sechs bis 15 Jahren war wirklich eine Herausforderung, aber ich habe sie nie böse oder wütend gesehen." Die heute 60-Jährige habe mit der Schwester auch nach ihrer Heimzeit Kontakt gehalten. Dabei hätte diese ihr erzählt, dass die Kinder nach dem Wochenende bei Eltern und Familie aggressiv zurückgekehrt seien. Es habe eine ganze Woche gebraucht, "sie wieder zu beruhigen und in einen stabilen Alltag zurückzubringen".

Robert Meissner meldete sich ebenfalls bei dieser Redaktion - schildert jedoch andere Eindrücke. Der Würzburger, der heute in Kehl in Baden-Württemberg lebt, kam 1961 als Säugling in die Wickenmayersche Kinderpflege. Die leibliche Mutter hatte ihn zur Adoption freigegeben. Doch erst im Alter von fünf Jahren konnte er das Heim verlassen. Er habe Glück gehabt: Eine Frau, die ehrenamtlich im Heim tätig war, habe ihn in ihr Herz geschlossen, erzählt der heute 59-Jährige. "Frau Meissner wurde meine neue Mutter." Das habe ihn wohl vor körperlicher Gewalt bewahrt, mutmaßt er - nicht aber davor, dass er zuschauen musste, wenn andere Kinder geschlagen wurden.

"Es war alles so, wie es Herr Fischer berichtet hat", sagt Meissner und bezieht sich auf dessen Schilderungen brutaler Gewalt. Roland Fischer kam 1957 im Alter von vier Jahren in die "Wickenmayer". Eigenen Angaben zufolge habe er dort hilflos mitverfolgen müssen, wie sein älterer Bruder von einer Erlöserschwester "halbtot geprügelt" wurde.

"Ich habe mir das Weinen verkniffen und mich ruhig verhalten."
Robert Meissner, ehemaliges Heimkind

Meissner erzählt wie Fischer, dass sich alle im Kreis aufstellen mussten, wenn ein Kind bestraft wurde. Auch nachts. "Wir wurden alle aus den Betten geholt." Ausnahmen habe es nur für die unter Dreijährigen gegeben. "Sie wurden in ein anderes Zimmer gebracht", so Meissner. Aber das Weinen der Kinder und die Schmerzensschreie hätten alle gehört. Auch er.

Als er älter war, habe er selbst in der Runde stehen und zuschauen müssen - "als Abschreckung", berichtet Meissner. Die Schwestern hätten mit einem Stock oder Gürtel zugeschlagen. "Das war schlimm und lässt einen nicht los." Seine Strategie, um selbst möglichen Strafen zu entgehen: "Ich habe mir das Weinen verkniffen und mich ruhig verhalten." So habe er versucht, nicht die Aufmerksamkeit der Schwestern auf sich zu lenken. Meissner erinnert sich: "Wenn Außenstehende im Haus waren, etwa Helfer, dann gab es keine Bestrafung, dann war Ruhe."

"Das schlimmste Vergehen war, wenn jemand das Morgengebet der Schwestern in der Kapelle gestört hat."
Robert Meissner, ehemaliges Heimkind

Bettnässer "hatten es sehr schwer im Heim." Wer den Tagesablauf störte, etwa nicht pünktlich zum Essen kam, bekam laut Meissner ebenfalls Schläge. "Das schlimmste Vergehen war, wenn jemand das Morgengebet der Schwestern in der Kapelle gestört hat." Seine frühkindlichen Erfahrungen in der Wickenmayerschen Kinderpflege hätten ihn und auch spätere Beziehungen "arg belastet", sagt Meissner. "Man wird sehr sensibel und misstrauisch, kann nur schwer Vertrauen zu anderen Menschen aufbauen."

Ehemaliger Würzburger Polizist ist verwundert über die Vorwürfe

Verwundert über die Vorkommnisse in der Wickenmayerschen Kinderpflege zeigt sich ein ehemaliger Würzburger Polizeivollzugsbeamter. "Ich war von 1958 bis 1964 in der damaligen Polizeiwache Grombühl, Ecke Matterstock-Brückenstraße als Diensthundeführer zugeordnet", schreibt Wolfgang Meyer an diese Redaktion. Tag und Nacht hätten die Beamten zu Fuß das Gebiet überwacht. Zu keiner Zeit seien in der Wache Anzeigen eingegangen. Eltern hätten doch dort vorsprechen und über die Geschehnisse im Kinderheim berichten können, so Meyer.

 
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  • A. O.
    "Zu keiner Zeit seien in der Wache Anzeigen eingegangen. Eltern hätten doch dort vorsprechen und über die Geschehnisse im Kinderheim berichten können, so Meyer."

    Allen, die sich darüber informieren wollen, warum besonders in den 60er- und 70er-Jahren so wenig Sexualstraftaten gegen Kinder/Jugendliche angezeigt wurden, nicht nur im institutionellen, sondern auch im familiären Kontext, können sich darüber auf der Homepage des UBSKM (Bundesbeauftragter für Fragen des sex. Kindesmissbrauchs) und der UKASK (Unabhängige Aufarbeitungskommission) ein Bild verschaffen.
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  • C. W.
    Als 10 jähriger Ministrant in den 60ern bekam ich vom Pfarrer in der Kirche bei zwei nichtigen Ereignissen jeweils heftige Backpfeifen. Die waren so heftig, dass selbst die Sakristeischwester zu meinen Eltern gegangen ist und hat sie zu einer Anzeige animieren wollen. Jedoch meine Eltern haben es nicht getan, weil man einen Pfarrer nicht anzeigt.

    Dies nur zum Wundern des Polizisten.
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  • P. Q.
    Wer sollte sich bei der Polzei beschweren? Die Kinder wurden abgegeben u. verwahrt und nur die Schwestern konnten darüber verfügen.Kinder hatten keinen Ansprechpartner u. sahen die Erziehung als normal an. In den 50 Jahren schlugen uns auch die Lehrer mit dem Stock, weil die Hausaufgabe vergessen wurde. Das war normal. Wer hat das seinen Eltern gebeichtet? Keiner...wenn ja, hätte es zuhause eine Ohrfeige gegeben. So ändern sich die Zeiten.
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  • A. N.
    Es ist nie auszuschließen, dass Außenstehende nichts mitbekommen. Natürlich versucht jeder Täter, seine Taten im Dunkeln zu halten. Hätte der Herr Logopäde nicht gefilmt und diese Filme wären von Ermittlern entdeckt worden, dann würden wahrscheinlich immer noch alle in seinem Umfeld keine Ahnung haben und die Eltern der Betroffenen für hysterisch halten. Soviel zur Aussage des Polizisten.
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  • A. O.
    Die Neigung von MissbrauchstäterInnen ihre Sexualstraftaten an Kindern und Jugendlichen zu fotografieren oder zu filmen, hat zum Boom von Kinder- und Jugendpornografie im Netz beigetragen, erleichtert aber, sofern eine Anzeige gestellt wird, diese Kriminellen vor Gericht zu bringen und kann dazu beitragen, Opfer sehr belastende Situationen in Gerichtsverfahren zu ersparen.

    Missbrauchende Priester gehörten zu den ersten Tätern, die schon vor dem WK II begannen, ihre Verbrechen an ihren Opfern zu fotografieren, später zu filmen. In den Archiven der Bistümer, der Orden und des Vatikan lagern vermutlich sehr viele solcher Beweismittel. Die Sonderrechte der Kath. Kirche erlauben es deren FunktionärInnen, bei Ermittlungen solche Beweise Richtung nächste Päpstliche Nuntiatur zu schieben und so dem Zugriff der Staatsanwaltschaft zuvor zu kommen.
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  • A. B.
    "Vermutlich" ... das scheint mir das zentrale Wörtchen in ihrem Post zu sein. Es zeigt dass sie einem Phantasiegebilde hinterherhinken - weit entfernt von aller Realität.
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  • H. M.
    glauben Sie wirklich, dass Eltern sich damals getraut hätten zur Polizei zu gehen, um etwas gegen ein Heim zu unternehmen, in dem Schwestern tätig waren ?
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  • A. B.
    Natürlich hätten sich Eltern getraut .... nur: Wickenmayer war kein Internat, sondern ein Kinderheim für Kinder, deren Eltern schon mit ihren Kindern überfordert waren. Nachfrage: Die Angaben widersprechen sich oder ergänzen sich gegenseitig. Irgendeinen roten Faden herauslesen zu wollen ist unmöglich. Ich selbst war in einem Gymnasium, dem ein staatliches Gymnasium angegliedert war. Unsere Lehrkräfte waren zT auch Erzieher in diesem Internat. Die Behandlung der Internatsmitglieder in der Schule war schon zweitklassig. Was darüber hinaus erzählt wurde über psychische und körperliche Gewalt und Strenge lies mich damals schon zweifeln ob das so stimmt. Aus der Sicht heute könnte es stimmen. Nur: sich an Spekulationen zu beteiligen hilft in keiner Weise.
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