
Was mag Maurice E. Henderson gedacht haben, als er am 5. April 1945, einem kühlen, regnerischen Donnerstag kurz nach Ostern, vom improvisierten amerikanischen Hauptquartier im Haus Ludwigkai 4 zum Dr.-Joseph-Goebbels-Haus am Sanderrasen gefahren wurde? Womöglich hatte der Oberstleutnant die Bilder aus befreiten Konzentrationslagern mit Bergen von Leichen im Kopf, womöglich dachte er an seinen älteren Bruder Walter, der im September 1918 kurz vor Ende des Ersten Weltkriegs in Frankreich von Deutschen getötet worden war.
Vor sich sah er das, was nach der Bombennacht des 16. März und dem seit 3. April tobenden erbitterten Kampf um Würzburg von der Stadt übriggeblieben war: Schutthaufen und ausgebrannte Ruinen. Der 50-Jährige hörte aus dem Bereich Grombühlbrücke und Rottendorfer Straße Kampflärm. Noch leisteten deutsche Verteidiger Widerstand. Henderson wusste, dass bereits mehrere Dutzend amerikanische Soldaten, Angehörige der 42. Infanteriedivision, der "Rainbow Division", gefallen waren und ahnte, dass das Sterben weitergehen würde. Noch war Würzburg nicht ganz erobert.

Erste und wichtigste Aufgabe Hendersons, des Chefs der amerikanischen Militärregierung für Unterfranken, war an jenem 5. April die Bestimmung eines neuen Oberbürgermeisters für Würzburg. Theo Memmel, der alte, war kurz zuvor geflohen. Er hatte mitgekämpft und bei der angesichts der amerikanischen Überlegenheit sinnlosen Verteidigung Würzburgs einen Sohn verloren.
Das am 16. März unbeschädigte Dr.-Joseph-Goebbels-Haus, das heutige Studentenhaus, stand im schon befreiten Teil Würzburgs. Dort wartete rund ein Dutzend unbelastete Männer auf Henderson; einer solle kommissarischer OB werden. Der Chef der Militärregierung entschied sich für den 58-jährigen Versicherungsmakler Gustav Pinkenburg. Dieser war vor 1933 SPD-Mitglied gewesen und als ehemaliger Soldat gewohnt, Befehle ohne Murren auszuführen. Beides sprach für ihn.

Am Vormittag des 6. April endete der Kampf um Würzburg, der 211 deutsche und 43 amerikanische Opfer gefordert hatte. Um 12 Uhr brachte an diesem Freitag Maurice E. Henderson den frischgekürten OB Gustav Pinkenburg zur Alten Mainbrücke, wo er die Stadt offiziell an den kommandieren General der Rainbow Division übergab. Der Krieg war für Würzburg zu Ende, doch auf den Straßen lagen noch Leichen und es gab zunächst weder fließendes Wasser noch Strom. Auch verwaltungstechnisch herrschte Chaos, denn die meisten Beamten, die der NSDAP treu gedient hatten, waren verschwunden.
Als ein weiteres Gebäude in der Nähe der Innenstadt hatte das ehemalige Haus der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV) am Ludwigkai 4 den Feuersturm überstanden, denn die Freiwillige Feuerwehr stand dort in Bereitschaft und löschte sofort. Hier, wo sich bereits das Hauptquartier eines US-Regiments befand, etablierte sich die von Henderson geführte Militärregierung noch vor dem Ende des Kampfs um Würzburg. Hier hatte sich Henderson am Mittwoch, 4. April, beim Regimentskommandeur gemeldet. Am 19. Mai 1945 schrieb Henderson seiner Familie, der Kommandeur habe ihn zum Bleiben aufgefordert und ergänzt: "Meine letzten Berichte besagen, dass die Front nur acht Häuserblocks von uns entfernt ist."
Nachfahren von Maurice E. Henderson haben neue Details mitgeteilt
Wer war dieser Maurice E. Henderson, der neue Herr über ganz Unterfranken und somit Nachfolger von Otto Hellmuth, der während des Dritten Reichs als Regierungspräsident und NSDAP-Gauleiter praktisch unbeschränkt geherrscht und sich schon am 2. April aus dem Staub gemacht hatte? Über Henderson, den Mann mit der markanten Nase und dem Schnurrbart, war bislang wenig bekannt; nun haben Nachfahren neue Details mitgeteilt und private Fotos zur Verfügung gestellt: seine Enkelinnen Joanne Conroy und Shelly Henderson sowie seine Urenkelinnen Nicola Wentholt und Christine Quinn.

Maurice E. Henderson wurde 1894 im US-Bundesstaat Minnesota geboren, ebenso wie seine Frau Grace, die er 1920 heiratete. Das Paar hatte zwei Kinder, die 1921 und 1923 zur Welt kamen. Maurice E. Henderson starb 1970, kurz nach der Goldenen Hochzeit, seine Frau 1992. Im Zweiten Weltkrieg wollte Henderson, Befehlshaber einer Einheit der Nationalgarde von Montana, unbedingt zur kämpfenden Truppe. "Wegen seines Alters durfte er aber nicht", sagt Shelly Henderson, "das bedeutete eine riesige Enttäuschung für ihn." Der Colonel war im Zivilberuf Leiter der Verwaltung der 9000-Einwohner-Stadt Bozeman im US-Bundesstaat Montana, was ihn 1945 für eine ähnliche Position in Unterfranken qualifizierte.
Henderson hatte, bevor er auf die rechtsmainische Seite kam, die Schlacht um Würzburg von der Festung aus verfolgt: "Ich sah, wie unsere Infanterie deutsche Soldaten aus den Ruinen holte und Verwundete nach hinten brachte", schrieb er im selben Brief. "Wo die Infanterie auf heftigen Widerstand traf, sorgten ihre Granatensalven dafür, dass ganze Häuserblocks in großen Wolken von Staub und Rauch und Schutt aufgingen."
Täglich musste der neue OB bei ihm erscheinen
Einer von Hendersons wichtigsten Aufgaben war der Kontakt mit Pinkenburg. Täglich um 8.30 Uhr musste der neue Oberbürgermeister bei ihm erscheinen und die Befehle entgegenzunehmen, die der OB den in der Stadt verbliebenen Menschen weiterzugeben hatte. Auch andere Spitzenpositionen im Bezirk Unterfranken wurden im Lauf der nächsten Wochen von der amerikanischen Militärregierung besetzt.
"Henderson war streng, aber gerecht", erinnert sich seine Enkelin Shelly. "Das hat ihm Respekt und die Zuneigung vieler Menschen eingebracht." Dass er in den ersten Wochen, als der Krieg noch nicht beendet war, den Deutschen zeigte, wer jetzt das Sagen hatte, kann freilich nicht überraschen. Der Fabrikant Otto Stein, einige Monate Stellvertreter Pinkenburgs, schrieb später über eine Besprechung kurz nach Hendersons Amtsantritt in dessen Büro: "Hinter einem mächtigen requirierten Schreibtisch thronte der Gouverneur, von zwei Offizieren und einem Dolmetscher flankiert, in den ersten Tagen noch Stahlhelm, Pistolengurt und Reitpeitsche griffbereit auf dem Tisch."
Die meisten Offiziere blieben nur wenige Monate in Würzburg
Aber schon nach kurzer Zeit gewannen die Amerikaner laut Stein, "den Eindruck, dass nicht alle Deutschen blutrünstige Barbaren sind und der Verkehrston wurde von Tag zu Tag freundlicher." Dann kam der Durchbruch, den Stein so beschrieb: "Als nach vielen Wochen erstmalig sogar 'shake hands' gegeben wurden, empfanden wir das fast als ein historisches Ereignis."
Die Mitglieder der Militärregierungen wechselten häufig. Nach einer Dienstvorschrift mussten sie mindestens einmal im Jahr versetzt werden oder sie wurden demobilisiert. Die meisten Offiziere blieben daher lediglich wenige Monate in Würzburg. Nur Henderson verbrachte zwei Jahre in der Stadt. Dieser Verlängerung stimmte er jedoch erst zu, als er die Gewissheit hatte, dass seine Frau zu ihm kommen durfte, was im Juni 1946 auch geschah.

So wurde Grace Henderson einer der ersten amerikanischen Zivilistinnen, die nach dem Krieg in Deutschland lebte. Während Henderson zuvor im Officers' Club in den Leighton Barracks gewohnt hatte, bezog das Ehepaar nun eine stattliche Villa im Judenbühlweg.
"Botschafter des guten Willens zwischen den Völkern"
Am 24. Juni 1947 verließen Maurice und Grace Henderson Würzburg. In Bozeman nahm der Oberstleutnant (Lieutenant Colonel), der im Juli zum Obersten (Colonel) befördert wurde, seine vorherige Position als Leiter der Verwaltung wieder auf. Die Main-Post schrieb damals, Henderson und seine Frau "fühlen sich durch sehr viele schöne Erinnerungen mit Würzburg und Unterfranken und seiner arbeitsamen Bevölkerung verbunden."
Oberbürgermeister Hans Löffler, von 1946 bis 1948 Nachfolger Pinkenburgs, schenkte Henderson zum Abschied einen Stich, der Alte Mainbrücke und Festung zeigte. Im Begleitschreiben dankte er dem Leiter der Militärregierung für dessen Freundlichkeit und für die Unterstützung bei der Wiedererrichtung von neuem Leben in der zerstörten Stadt.
Als er sich seinerseits für den Stich bedanke, betonte Henderson, dass es jetzt sein Bestreben sei, mehr Verständnis zwischen Deutschen und Amerikanern zu bewirken. Es gebe in den USA Menschen, die höchst neugierig seien, mehr von den Verhältnissen im Nachkriegsdeutschland zu hören. Seine Erfahrungen und die seiner Frau in Würzburg machten beide zu "Botschaftern des guten Willens zwischen den Völkern".
"Die Zeit in Würzburg veränderte ihr Leben", ist sich die Enkelin Joanne Conroy sicher. "Sie sprachen nur mit Zuneigung von ihren Erlebnissen." So verwundert es nicht, dass das Ehepaar seine Kinder und Enkelkinder bei Europareisen auch nach Würzburg brachte. Die Urenkelin Nicola Wentholt lebt sogar seit über 20 Jahren in Deutschland. Natürlich war auch sie mit Ehemann und Kindern bereits in Würzburg.

Am meisten faszinierte sie die Festung, die sie vom Stich kannte, den die Hendersons zum Abschied bekommen hatten und der jetzt bei ihrer Schwestern in Kalifornien hängt. "Als ich den Stich als Kind sah, dachte ich, dass das ein verzaubertes Schloss in einem Märchen ist. Und dann merkte ich, dass es tatsächlich existiert."
Mit der Ermordung des Präsidenten Kennedy und der Machtübernahme durch den nicht gewählten Präsident Lynden B Johnson und dem Angriffskrieg auf Vietnam 1964 zog diese industrielle , militärische Macht ins Weiße Haus und hat sie seit der Zeit auch nicht wieder hergegeben. ..