Um 8.30 Uhr am Morgen empfand der 16-jährige Rainer Spitznagel oft Mitleid mit seinem Chef. Dabei war dieser Chef – abgesehen von den amerikanischen Besatzern – im Jahr 1945 der mächtigste Mann in Würzburg. Doch wenn Oberbürgermeister Gustav Pinkenburg zum Leiter der für Würzburg zuständigen Militärregierung gehen musste, kehrte er meist mit hochrotem Kopf zurück. Das Gespräch hatte wieder einmal einen angenehmen Verlauf genommen, ahnte Spitznagel. Dabei, das wussten alle, bemühte sich Pinkenburg nach Kräften, es den Besatzern Recht zu machen.
Noch bevor die Amerikaner nach dreitägigem erbittertem Kampf am 6. April 1945 ganz Würzburg erobert hatten, ernannten sie den 58-jährigen Gustav Pinkenburg am 4. oder 5. April zum neuen Oberbürgermeister. Sein Vorgänger, der NSDAP-Mann Theo Memmel hatte die Stadt fluchtartig verlassen; die Besatzer machten sich nicht einmal die Mühe, ihn förmlich abzusetzen. Oberstleutnant Maurice E. Henderson, der erste Direktor der Militärregierung in Würzburg, wählte Pinkenburg, der vor dem Dritten Reich SPD-Mitglied gewesen war, aus einer Gruppe von etwa 25 Personen aus, die im Studentenhaus am Sanderrasen versammelt waren und die allesamt als Nazigegner galten.
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Von der Leitung einer Stadtverwaltung hatte Pinkenburg keinerlei Ahnung
Der 1886 in Niedersachsen geborene Pinkenburg hatte in Würzburg vor dem Ersten Weltkrieg als Soldat gedient und von 1914 bis 1918 an den Kämpfen als Feldwebel teilgenommen. Danach arbeitete er für die Reichsbahn, bevor er 1924 mit seiner Frau Berta ein Verkehrsbüro am Bahnhofsplatz eröffnete. Anschließend sattelte er zum Versicherungsvertreter um. Von der Leitung einer Stadtverwaltung hatte Pinkenburg somit keinerlei Ahnung. Freilich gefiel die stramme Haltung des ehemaligen Soldaten dem Besatzungsoffizier Henderson. Pinkenburg hatte beim Militär gelernt, Befehle auszuführen und besaß keine Nazi-Vergangenheit. Das musste genügen.
Auch der 16-jährige Rainer Spitznagel stammte aus einer Familie von Nazi-Gegnern, weshalb er trotz seines jugendlichen Alters 1945 und 1946 ins Vorzimmer von OB Pinkenburg im Studentenhaus berufen wurde. Dort saßen Teile der Stadtverwaltung und der Militärregierung; bei Letzterer musste der Oberbürgermeister regelmäßig zum Rapport und Befehlsempfang antreten. Dass es dabei manchmal heiß herging, schloss Spitznagel aus Pinkenburgs rotem Kopf nach den Audienzen. Der Oberbürgermeister besaß erhebliche Vollmachten. Die amerikanischen Besatzer legten, wenn sie eine Stadt oder ein Dorf erobert hatten, die ganze Verantwortung zunächst am liebsten in die Hand einer einzelnen Person. Diese Machtfülle nutzte Pinkenburg weidlich aus, was ihm gelegentlich den Vorwurf einbrachte, er handle diktatorisch.
Auch seine langjährige Tätigkeit als Versicherungsvertreter wirkte sich aus, wie der 2019 gestorbene Rainer Spitznagel schrieb: "Die knallharten Bandagen, mit denen im Versicherungsgewerbe gearbeitet wird, konnte er in seinem Arbeitsstil nicht leugnen."
Als Bürgermeister barsch und oft überheblich
Pinkenburg reagierte barsch und wirkte oft überheblich, erinnerte sich Spitznagel. Manchmal agierte er so, als sei das Dritte Reich noch nicht vorbei. Das zeigte sich zum Beispiel, wenn er sich in einem von den Amerikanern zur Verfügung gestellten BMW durch die Stadt kutschieren ließ und per Lautsprecher Befehle erteilte. Spitznagel: "Wiederholt wurde mein Chef, worüber bei uns hinter vorgehaltener Hand geredet wurde, beobachtet, wie er im Cabrio im Beifahrersitz stehend, gleich den Größen im Dritten Reich, durch die zerbombten Straßen fuhr und in rüdem Ton Anweisungen gab."
Gleich zu Beginn seiner Amtszeit rief Pinkenburg zu Spenden für das "Ehrenbuch der Stadt Würzburg" auf – einer Initiative zum Wiederaufbau der Stadt. Pinkenburg war der Überzeugung, dass er als von der Militärregierung eingesetzter OB allein über die Verteilung des Geldes bestimmen könne. Dies brachte ihm im März 1946, als er dem Würzburger Bischof 100 000 Reichsmark für den Aufbau des Domes spendete, herbe Kritik von Seiten der KPD und der SPD ein.
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1946 folgte der Rücktritt Pinkenburgs
Als Pinkenburg im Juni 1946 aus gesundheitlichen Gründen zurücktrat (er gehörte allerdings noch bis 1956 dem Stadtrat an), wurde für sieben Wochen der 41-jährige Michael Meisner sein Nachfolger. Eine Wahl durch die Bevölkerung gab es, wie bei Pinkenburg, nicht, doch war inzwischen zumindest der erste Nachkriegs-Stadtrat gewählt worden und dieser bestimmte am 6. Juni 1946 Meisner, einen angesehenen Juristen, der später Herausgeber der Main-Post wurde. Meisner nahm die Wahl unter der Bedingung an, Landrat bleiben zu dürfen. Als er nach 52 Tagen aufgrund einer neuen Bestimmung vor die Entscheidung gestellt wurde, einen der Posten aufzugeben, verzichtete er auf das Amt des Oberbürgermeisters.
Vom August 1946 an war der 74-jährige Hans Löffler, ein alter Hase der Würzburger Kommunalpolitik, nochmals Oberbürgermeister. Löffler hatte die Geschicke der Stadt bereits von 1921 bis zu seiner Absetzung durch die Nazis 1933 gelenkt. Wegen seines hohen Alters legte Löffler das Amt am 30. Juni 1948 nieder. Nach mehreren Monaten, in denen ein gewählter Nachfolger sein Amt gar nicht erst antrat und ein anderer nach wenigen Monaten zurücktrat, kehrte am 1. Juli 1949 nach der Wahl von Franz Stadelmayer endlich Ruhe an der Stadtspitze ein. Der 58-Jährige hatte bereits vor 1933 der Stadtverwaltung angehört und dann bis zum März 1934 als zweiter Bürgermeister amtiert, bevor er das Amt aus politischen Gründen niederlegen musste. Auf Bitten des Stadtrats kehrte er 1949 aus München zurück, wohin er gezogen war. Als die Würzburger Bürgerinnen und Bürger 1952 erstmals selbst den OB wählen durften, bestätigten sie Stadelmayer im Amt.