Der September 1942 war in Würzburg der Monat der Deportationen. Gleich zwei Transporte führten am 10. und am 23. des Monats in das Ghetto und Durchgangslager Theresienstadt nördlich von Prag.
Im Zuge der ersten drei Deportationen – der zweite Transport startete in Kitzingen – war zuvor der Teil der jüdischen Bevölkerung abtransportiert worden, den der NS-Staat als arbeitsfähig eingestuft hatte, also Menschen unter 65 Jahren und ihre Familien. Übrig geblieben waren vor allem ältere Menschen, von denen bereits viele in Sammelquartieren in größeren Städten oder in den jüdischen Altersheimen in Würzburg konzentriert worden waren. Mit perfider Konsequenz organisierten die Nationalsozialisten so den Abtransport und die Ermordung aller jüdischen Menschen.
Die älteren Menschen aus ganz Unterfranken mussten im September 1942 am Güterbahnhof Aumühle die Züge besteigen, 740 Personen. Selbst die Patienten aus dem Jüdischen Krankenhaus verschonte man nicht. Um keine Empörung in der Bevölkerung auszulösen, wurden die meisten Personen mit Bussen zur Aumühle transportiert und mussten nicht dorthin laufen. Jüngere, wenige auch mit Kindern, begleiteten die Transporte als Betreuer, Ärzte und Krankenschwestern. Nach diesen Deportationen blieb nur noch ein kleiner Teil der jüdischen Bevölkerung Unterfrankens zurück und wurde in der Folge in Würzburg konzentriert, bis auch sie im Juni 1943 deportiert wurden.
Das Alter und der Gesundheitszustand der Menschen, fehlende medizinische Versorgung, Hunger und die unsäglichen Lebensumstände ließen viele der Deportierten bereits in den ersten Wochen sterben. Viele weitere folgten bis zur Befreiung des Lagers im Mai 1945, insgesamt 525 Personen. Andere wurden von Theresienstadt in die Vernichtungslager Auschwitz und Treblinka deportiert und dort in den Gaskammern ermordet. Nur 44 Personen konnten überleben, von denen 21 am 10. Juli 1945 nach Würzburg zurückkehrten.
Friedhofsgärtner Bernhard Behrens schrieb neues Friedhofsregister
Zu ihnen gehörte der Gärtner Bernhard Behrens (1877–1965), der seit 1904 für die Jüdische Gemeinde als Friedhofsverwalter gearbeitet hatte. Er war zusammen mit seiner Frau Emma, geb. Strauss (1880–1943) am 23. September 1942 nach Theresienstadt deportiert worden, wo Emma 1943 starb. Das Paar hatte drei Kinder, die in dem Haus auf dem Friedhof aufgewachsen waren. Zwei von ihnen wurden mit Partner und Partnerin ebenfalls deportiert: Der jüngste Sohn Henry (1908–1989) mit seiner Frau Lilo (1915–1945) im November 1941 in das Lager Jungfernhof bei Riga, seine ältere Schwester Alice (1906–1942/45) mit ihrem Mann Josef Leopold Strauss (1899–1942/45) 1942 aus Frankreich nach Auschwitz. Von ihnen überlebte nur Henry. Die beiden Kinder von Alice und Josef wurden in Frankreich versteckt und gerettet. Henrys Bruder Curt (1907–1991) war 1939 die Emigration in die USA gelungen.
Mit seinem Sohn Henry, ebenfalls Gärtner, stellte Bernhard Behrens die heruntergekommenen und zum Teil verwüsteten jüdischen Friedhöfe in Würzburg, Heidingsfeld und Höchberg wieder her. Und noch mehr: Sie schrieben ein neues Friedhofsregister für das Totengedenken in der Gemeinde in Würzburg. Denn das bisherige war mit dem Archiv der Jüdischen Gemeinde 1938 von der Gestapo beschlagnahmt worden. Es gelangte auf unbekanntem Weg in das Archiv des Landesverbands Israelitischer Kultusgemeinden in Bayern in München, wo es sich noch heute befindet.
Das von den Behrens erstellte Register ist in der Jüdischen Gemeinde Würzburg Unterfranken erhalten, eine schwarze Kladde mit festem Einband, in Leder und Leinen gebunden. Nach Buchstabengruppen und geordnet nach Abteilungen, Reihen und Grabnummern sind alle Namen der auf dem Friedhof beerdigten Menschen eingetragen. Reihe für Reihe hatten Vater und Sohn Behrens wohl den Friedhof abgeschritten und die Informationen von den Grabsteinen abgeschrieben. Dann hatte Bernhard Behrens sie von Hand in die vorher bereits für andere Zwecke genutzte Kladde eingetragen.
Das Etikett auf der Vorderseite der Kladde ist heute kaum noch zu lesen, das Buch macht einen sichtlich strapazierten Eindruck. Es wurde bis 1977 weiter für die Eintragung von Beerdigungen genutzt. Dann ersetzte eine Abschrift in einem neuen Heft im Büro der Jüdischen Gemeinde die alte Kladde, bevor die Einträge schließlich mit dem Computer abgeschrieben wurden. Die Kladde geriet in Vergessenheit, blieb jedoch im Tahara-Haus auf dem Friedhof liegen. Dort fand sie jedenfalls kurz nach seinem Dienstantritt 2001 Rabbiner Yacov Ebert. Er nahm sie mit in sein Büro und nutzte sie für die nächsten zwanzig Jahre, um Gräber zu lokalisieren.
Notizen ermöglichen das Gedenken an die Ermordeten
Das Besondere an dem Register ist, dass es noch weitere Einträge enthält. Denn neben den Menschen, die in Würzburg bestattet worden waren, sind bei jeder Buchstabengruppe auf eigenen Seiten diejenigen aufgeführt, die von dort nach Theresienstadt deportiert wurden und im Lager starben – mehr als 500 Personen. Neben den Namen werden die Geburts- und die Sterbedaten angegeben. Bernhard Behrens hatte im Ghetto Theresienstadt offensichtlich Zugang zu den Daten der dort Verstorbenen, vielleicht, weil er in der jüdischen Selbstverwaltung arbeitete und für ihre Registrierung zuständig war. So könnte er sich systematisch Notizen zu den aus Würzburg und Unterfranken stammenden Menschen gemacht haben, um auf seine Art die Verbrechen der Nationalsozialisten zu dokumentieren und das Gedenken an die Ermordeten zu ermöglichen. Die Notizen hat er nach der Befreiung mit nach Würzburg gebracht.
Als Friedhofsverwalter war es Bernhard Behrens ein Anliegen, die Zerstörung zu überwinden und wieder ein geregeltes Beerdigungswesen zu ermöglichen. Dies verband er jedoch mit einem Akt des Gedenkens an all die Menschen, die wie seine Frau ihr Leben in Theresienstadt hatten lassen müssen. Damit stand er nicht allein: Denn die jüdische Gemeinde hatte bereits kurz nach der Rückkehr der Überlebenden die Setzung eines monumentalen Gedenksteins auf dem jüdischen Friedhof veranlasst. Er wurde am 11. November 1945 im Rahmen einer Gedenkfeier eingeweiht. Auch hieran dürften Bernhard und Henry Behrens als Friedhofsverwalter maßgeblich beteiligt gewesen sein. Denn Erinnerung war und ist ein wichtiger Teil jüdischer Kultur.
Dr. Rotraud Ries ist Historikerin und Expertin für deutsch-jüdische Geschichte. Sie leitete von 2009 bis 2022 das Johanna-Stahl-Zentrum für jüdische Geschichte und Kultur in Unterfranken.
Nähere Informationen zu den jüdischen Gemeinden und ihren Shoa-Opfern, an die erinnert wird, gibt es auf der Seite www.juf-gedenken.de.