Im Schimmer des Morgens bahnt sich die Sonne ihren Weg. Unermüdlich vertreibt sie den Schatten, der noch über dem kleinen Hügel im jüdischen Friedhof in Heidingsfeld liegt. Eine provisorische Steintreppe erscheint im Licht. Sie führt nach oben zu den ältesten Gräbern. Sie sind steinerne Zeugnisse jüdischen Lebens in Heidingsfeld. Bis 1937 gehörte die jüdische Gemeinde neben Worms, Frankfurt am Main und Oettingen zu den ältesten in Deutschland.
Hinter den mächtigen Steinmauern in der Hofmannstraße riecht es noch nach frisch gemähten Gras. Die Stoppel kratzen an den Beinen. Neben dem kleinen Taharahaus, hier wurde die Leichenwaschung an den Verstorbenen vorgenommen, steht Roland Hubert und rückt seine Kippa zurecht. Ausnahmsweise akzeptiert er, dass die beiden Besucher keine Kopfbedeckung tragen. Normalerweise legt er Wert darauf, denn aus Respekt und Ehrerbietung den Toten gegenüber sollten Männer ihr Haupt bedecken.
Heute aber zählt für ihn etwas anderes. Meterhoch stand das Gras im Friedhof, die Grabsteine waren kaum noch zu sehen. Über die Jahre ist alles zugewachsen. "13 Jahre lag der Friedhof im Dornröschenschlaf. Er wurde vergessen", sagt Roland Hubert und blickt die kleine Anhöhe hinauf, wo ein Stein sich an den anderen reiht. Es ist ein Blick in die Vergangenheit einer ehemals blühenden jüdischen Gemeinde, die im Juni 1937 mit der Israelitischen Kultusgemeinde Würzburg zusammengeführt wurde.
Wie das Sterberegister hilft, den jüdischen Friedhof in Heidingsfeld zu entschlüsseln
Vom jüdischen Friedhof in Heidingsfeld ist kaum etwas bekannt. Es gibt kein Bestattungsregister und einige der geschätzt wohl etwa 1000 Grabsteine sind schon in der Erde versunken. "940 stehen noch", sagt Hubert, der im Jüdischen Museum Shalom Europa ehrenamtlich mitarbeitet. Doch ihre Inschriften sind abgeblättert, Steine bröckeln, verwittern, sind von Flechten überzogen. Zusammen mit anderen Ehrenamtlichen durchforstet Hubert nun das Sterberegister und sucht nach Hinweisen auf die Verstorbenen. Mit dem Mädchen Mindle, der Tochter von Salman, Sohn von S., beginnen die Aufzeichnungen.
Das Grab von Mindle ist im oberen, dem ältesten Teil des Friedhofs. Die Fläche grenzt an die Bahngleise. Die Grabsteine zeigen nach Südwesten, jüngere in den Reihen dahinter sind nach Nordosten ausgerichtet. Aber keiner zeigt in Richtung Jerusalem. Roland Hubert kommentiert das humorvoll: "Das macht auch nichts. Denn, wenn die ersten am jüngsten Tag von den Toten auferstehen und nach Osten laufen, folgen ihnen die anderen schon hinterher."
Überhaupt redet Hubert unentwegt. So viel weiß er über den Friedhof zu erzählen. Er führt zur Mauer an den Rand. Unter Gebüsch versteckt stehen hier Grabsteine, deren Schrift kaum noch zu lesen ist. "Wahrscheinlich kommen sie von einem anderen Friedhof, der verwüstet worden ist", vermutet er. Doch, woher? Das weiß Roland Hubert ausnahmsweise nicht.
Im Jahr 1698 hat es in Heidingsfeld den ersten Versuch gegeben, einen jüdischen Friedhof anzulegen, 1788 den zweiten. "Entweder war der Grund zu teuer oder zu schlecht", sagt der Mitarbeiter der jüdischen Gemeinde. "1810 war es vollbracht. Letztendlich war diese Fläche dann beides - sehr teuer und sehr schlecht." Deswegen gibt es im Friedhof auch keine Wege. "Dafür ist der Platz zu kostbar", erklärt Hubert.
Was eine abgebrochene Säule auf dem Friedhof zu bedeuten hat
Der Mitarbeiter im Museum Shalom Europa spricht kein Hebräisch, er kann auch die Schrift nicht lesen. Dennoch weiß er viel über Begräbniskultur, weil er ehrenamtlich auch als Bestatter hilft und wie seine Kolleginnen und Kollegen von der jüdischen Gemeinde das Judentum studiert hat. Und, weil der Zeitgeist aus den Grabsteinen spricht. Da gibt es einen pyramidenförmigen Obelisken aus schwedischem Granit, der auffällt. "Hier ist jemand beigesetzt, der wohlhabend war", meint der Friedhofsführer.
Dann zeigt Roland Hubert auf eine abgebrochene Säule. Hier ist entweder ein Kind begraben oder jemand, dessen Leben im Alter zwischen 40 oder 50 Jahren endete. Es kann auch sein, dass der Verstorbene keine Nachkommen hatte. Ein Doppelgrabstein deutet ein paar Reihen weiter auf verstorbene Zwillinge hin.
Was Symbole auf den Grabsteinen über Verstorbene erzählen
Eine Levitenkanne ziert einen anderen Stein. Das heißt, dass hier ein Tempeldiener begraben ist. Woanders ist die Kanne zusammen mit einer Krone zu finden. Hubert erklärt, dass diese Symbole darauf deuten lassen, dass der Verstorbene besonders religiös gelebt und sozial eingestellt war. "Besser geht es nicht. Der ging im Himmel direkt durch", fügt er mit geistreichem Witz hinzu und erklärt sofort das nächste Symbol - auf einem Stein ist ein Chanuka-Leuchter zu sehen. Ein Hinweis, dass der Verstorbene wohl in der Synagoge die Kerzen angezündet hat.
Weil mit der Zeit immer mehr Zeugnisse jüdischen Lebens verloren gehen, soll nun ein Vermessungsplan für den Friedhof in Heidingsfeld erstellt, die Grabsteine fotografiert, ihre Inschriften übersetzt und die Daten in eine Belegungsliste aufgenommen werden. "Das kostet Geld", sagt Hubert und hofft auf Spenden für das Projekt.
Genauso wie er darauf baut, dass das städtische Gartenamt weiterhin die jüdischen Friedhöfe pflegt, damit sie ganz im Sinne des Judentums ihren lebensbejahenden Charakter als Beit HaChayim (Haus des Lebens) behalten.
Hubert ist dankbar und zuversichtlich, dass dies bis in alle Ewigkeit gelingen wird. Denn die Unterstützung geht auf einen mündlichen Vertrag mit David Schuster, dem damaligen Vorsitzenden der Israelitischen Kultusgemeinde und Vater von Josef Schuster, zurück. 1978 sollte Schuster eine Ehrung bekommen, er verzichtete für die Zusage, dass die Stadt unbegrenzt bei der Pflege der jüdischen Friedhöfe in Lengfeld und Heidingsfeld unterstützt.
Roland Hubert und seine Kolleginnen und Kollegen vom Jüdischen Museum Shalom Europa führen öffentlich aber auch für Gruppen über die jüdischen Friedhöfe in Würzburg-Lengfeld und Heidingsfeld, Telefon (0931) 4041441.