
Haben sich in diese beiden schönen Gesichter addiert wirklich 205 Jahre eingraviert? Sie erzählen die Biografien zweier Frauen, deren Wege sich nie gekreuzt haben. Die aber nun durch einen Zufall der Statistik Protagonistinnen einer Geschichte sind. Dieser Geschichte.
Die beiden Würzburgerinnen sind zwei von 26.615 Menschen in Deutschland, davon 80 Prozent Frauen, die Ende 2023 im Alter von 100 Jahren oder älter lebten. Diese Zahlen hat die Online-Plattform Statista veröffentlicht – der bisher höchste erfasste Wert.
Das Statistische Bundesamt gab als Ergebnis des Zensus bekannt, dass am Stichtag 15. Mai 2022 in jeder dritten deutschen Stadt oder Gemeinde mindestens Hundertjährige lebten. Die kreisfreie Stadt mit den meisten von ihnen? Würzburg! Auf 10.000 Einwohnerinnen und Einwohner kamen 4,6 Menschen, die 100 oder älter waren. Ende September 2024 waren es laut Einwohnermeldeamt insgesamt 55.
Hertha Gerlinger – eine Frau mit Charisma und Humor
Längst nicht alle sind noch so gesund und lebhaft wie besagte beide Frauen. Was sie gemeinsam haben: wache Augen, einen klaren Verstand und immer noch eine gewisse Neugierde.
Hertha Gerlinger sitzt in einem Rollstuhl in ihrem Zimmer im Juliusspital. Sie ist 104 Jahre alt und eine Frau mit Charisma und Humor. Wie sie infolge der Corona-Pandemie im Seniorenstift gelandet ist, trägt sie in einem ihrer selbstverfassten Gedichte vor. Niedergeschrieben hat sie es nicht. "Es ist nur da drin", sagt die Dichterin und tippt sich mit dem Zeigefinger an den Kopf. Die ausgelöste Verblüffung bereitet ihr Vergnügen.
Hertha Gerlinger – dunkler Pagenkopf, schwarzes Oberteil mit Herbstblättern, schwarze Hose – ist durch die Kunstsammlung, die sie mit ihrem Mann Hermann Gerlinger hatte, bekannt in der Stadt. Es ist nicht ihr erstes Gespräch mit der Presse. "Die Gebrauchsanweisung: Sie müssen laut in mein linkes Ohr sprechen!"
Luise Förster – eine selbstbestimmte Frau
Luftlinie zwei Kilometer entfernt, im Marie-Juchacz-Haus, lebt seit April Luise Förster. Den Umzug hat sie eigenständig in die Wege geleitet. Sie sitzt in einem Sessel: weiße Haare, gelbe Bluse, blaue Hose, Goldrandbrille. "Ich musste 101 werden, um mein erstes Interview zu geben", scherzt sie. Ein Foto für die Zeitung? "Auf keinen Fall!" Auch in diesem Punkt bleibt sie selbstbestimmt. "Selbst ist die Frau" sei immer ihr Motto gewesen. "Darauf bin ich stolz."
Die Frage, die Anlass für diese Geschichte ist, vorneweg: Warum lässt es sich in Würzburg so gut so alt werden? "Warum nicht?", antwortet Luise Förster keck. Und erklärt: "Ich habe nichts extra dafür getan. Nie geraucht, so gut wie nie Alkohol getrunken."
Auch Hertha Gerlinger sagt, sie habe "mäßig Wein getrunken". Doch mache die "behagliche fränkische Lebensweise, am Nachmittag einen Schoppen zu trinken, ein angenehmes Leben hier möglich. In einer heiteren Landschaft mit lieblichen Hügeln".
Würzburg als Ort glücklicher Jahrzehnte
Die Biografien der beiden Frauen haben außer dem Verlust geliebter Menschen während des Zweiten Weltkriegs wenig gemein. Hertha Gerlinger wurde am 4. Januar 1920 in Breslau geboren. Nach glücklicher Kindheit in Schlesien endete eine dramatische Flucht 1945 mit ihrer Mutter und eineinhalbjährigen Tochter in Niederbayern. Sie arbeitete auf dem Feld, in einem Krankenhaus und als Übersetzerin. Das Leben habe sie gelehrt: "Es ist, wie es ist."
Nach Würzburg kam sie durch ihren zweiten, elf Jahre jüngeren Ehemann, den Unternehmer Hermann Gerlinger. Ihn lernte sie auf einem Maskenball in München kennen. Gleich bei ihrem ersten Tanz habe er sie gefragt, ob sie ihn heiraten wolle. Sie habe das für einen "Faschingsscherz" gehalten.

Jahre später, am 27. Januar 1959, heirateten die beiden tatsächlich, in einer verschneiten Waldkapelle in Oberbayern. "Ich war eine weiße Pelzbraut", erzählt Hertha Gerlinger. Danach zog sie mit ihrem Mann nach Würzburg. Die beiden bauten ein Haus im Leistengrund, im Garten und bei Wanderungen blühte sie auf. Die Liebe zur Kunst und zur Sprache prägten die Jahrzehnte in der Domstadt. Was ihr heute noch Freude bereitet? "Mein Mann und meine Tochter."
"Heimat kann ein anderer Ort nie werden", sagt die 104-Jährige. "Aber man kann sich dort gemütlich fühlen und zu Hause. Würzburg ist der Platz, an dem ich mit meinem wunderbaren, lieben Mann viele glückliche Jahre verbracht habe." Das sei "das Beste", das einem das Leben schenken könne: Jemanden zu finden, mit dem man es teilen könne.
Ein Berufsleben im Bayerischen Schokoladenhaus
Auch Luise Förster wurde dieses Geschenk zuteil – mit einem Flüchtling aus Schlesien. "Zusammen alt werden, ist ein Stückle Glück", sagt die 101-Jährige.
Sie wurde am 28. August 1923 in Rimpar geboren. Ihren Ehemann lernte sie mit Ende 30 "über eine Annonce in einem Bauernblättle" kennen. "Ein Spaß mit einer Freundin. Ich habe eigentlich keinen Mann gesucht." Auf die Annonce hin habe Bernhard aus Kulmbach geschrieben – "aber an meine Freundin. Na ja, wir sind uns einig geworden", erzählt Luise Förster und lacht.
Am 14. April 1963 heiratete sie Bernhard auf dem Käppele, zum Mittagessen ging's auf den Schützenhof. "48 glückliche Jahre" dauerte die kinderlose Ehe. Der Tod ihres Mannes, mit dem sie gerne auf dem alten Landesgartenschaugelände spazieren ging, treibt Luise Förster auch 13 Jahre danach noch die Tränen in die Augen.
Beruflich war die Rimparerin von der Ausbildung bis zur Rente als Verkäuferin beim Bayerischen Schokoladenhaus in Würzburg tätig. Das Familienunternehmen war 1920 in der Eichhornstraße gegründet worden. Nach dem Krieg leitete Luise Förster die Filiale, im Haushalt kümmerte sie sich nach dem frühen Tod der Mutter um den Vater.
Ist Schokolade das Geheimnis ihres langen Lebens? Sie winkt ab und zieht mit ihrer Hand eine imaginäre Linie vor ihrem Hals: "Süßigkeiten standen mir bis hier. Ich mochte lieber Fisch und Gurke." Ein Stück Edelherb bietet sie trotzdem an.
Gute Voraussetzungen für ein hohes Lebensalter
Hertha Gerlingers und Luise Försters Leben hätten vermutlich an jedem anderen Ort stattfinden können, um genauso lange zu dauern. "In der Altersforschung werden zwar immer wieder regionale Häufungen von Hochbetagten beobachtet", sagt Dr. Michael Schwab, Chefarzt der Geriatrie am Bürgerspital, doch seien diese bisher nicht ausreichend erforscht. "Beschrieben wurden manche dieser Regionen aber mit guter sozialer Versorgung und einer gewissen Genusstradition" – was auf Würzburg ja durchaus zuträfe.
Die wissenschaftlich gesicherten Faktoren, die neben guten Genen die durchschnittliche Wahrscheinlichkeit auf ein hohes Alter erhöhen, sind laut Schwab jedoch andere. Dazu gehören "ein gesunder, aktiver Lebensstil, gute Beziehungen, Bildung, Selbstbestimmung und Inhalte, die dem Leben einen Sinn geben". Voraussetzungen, die mutmaßlich auch den beiden Würzburgerinnen zugutekamen.
Luise Förster gibt als wertvolle Erfahrung an andere gerne weiter, "ehrlich durchs Leben zu gehen und einen Beruf zu erlernen, um auf eigenen Beinen zu stehen". Hertha Gerlinger rät allen, die auch alt werden möchten: "Dauernd bewegen, dauernd denken, dauernd lernen!"