„Um die Sammlung geht es heute nicht.“ Hertha und Hermann Gerlinger wollen noch nicht über ihre weltberühmten Brücke-Bilder sprechen, die in einigen Monaten die Moritzburg in Halle verlassen werden. Hier waren sie seit 2001 ausgestellt.
40 Gedichte, 40 Aquarelle
Das Treffen mit dem Würzburger Sammler-Ehepaar findet statt, weil Hertha Gerlinger ein neues Buch veröffentlicht hat. „Heute geht es ja um mich“, sagt sie mit einem charmanten Lächeln.
Vor einigen Wochen ist sie 97 Jahre alt geworden und ihr Blick ist so klar und deutlich, dass man weiß, weitere Nachfragen lohnen nicht (Zum Beispiel: Gibt es eine Chance, dass die expressionistische Kunstsammlung von Weltrang vielleicht doch noch nach Würzburg kommt?)
„Ich denke halt“, beschreibt Hertha Gerlinger das Entstehen ihrer Texte. „Und solange ich denke, kommt auch etwas heraus.“ Heraus gekommen sind im neuen Buch „Spätlese“ 40 Gedichte über Erlebtes, Durchdachtes und Gefühltes.
Manche schildern den Wandel der Natur, andere den des Menschen. Mal heiter, mal melancholisch, hoffnungsvoll oder zweifelnd sind die Verse, die zum Nachdenken anregen.
Hermann Gerlinger serviert den Tee
Am kleinen Tisch im Wohnzimmer blättern wir durch das Buch und sprechen über das Leben. Hermann Gerlinger sitzt währenddessen auf einem Stuhl im Hintergrund und hört zu. Ab und an tritt er leise an den Tisch und schenkt etwas Tee nach.
Mit klarer Sprache, deutlichen Worten arbeitet die Dichterin. In den Zeilen „Ein Gedicht“ beschreibt sie, worum es ihr geht. Nicht um kunstvoll zusammengefundene Verse, sondern um Botschaften, die sie mitteilen will.
Die 97-Jährige trägt mit fester Stimme vor, lächelt dabei und freut sich, wenn das der Zuhörer tut. Illustriert sind ihre Texte eigenen Aquarellen, die noch nie vorher gezeigt wurden.
Gefühlvolle Landschaftsbilder, die bei zahlreichen Wanderungen entstanden sind, manche im Fränkischen. Denn durch die Natur zu streifen, war ihre große Leidenschaft.
Seit sie vor vier Jahren das Wandern aufgeben musste, ist der große Garten hinter dem Haus in Würzburg ihr Fenster zur Natur geworden.
1000 bis 2000 Schritte geht sie das ganze Jahr und bei jeder Witterung täglich.
Jetzt sitzt sie im Sessel am Fenster, an der Wand hängt ein Portrait, das der Würzburger Maler Curd Lessig in den 70er Jahren von ihr gemalt hat. Es zeigt eine schöne, selbstbewusste junge Frau. „Dem habe ich gefallen“, erinnert sie sich und lacht. „Er wollte mich malen.“
Als Frauen noch nicht an die Kunstakademie durften
Hertha Gerlinger entstammt einer schlesischen Künstlerfamilie in der Sprache und Literatur und bildende Kunst geschätzt wurden. „Mein Vater war Jurist und auch Vorstand des deutschen Sprachvereins.“
Sie entstammt einer Zeit in der Frauen – wie zum Beispiel ihrer Großtante – noch der Zugang zu Kunstakademien verwehrt war.
Und erlebte es noch in den 70er Jahren, dass Frauen selbstverständlich ein tägliches Mittagessen auf den Tisch zu stellen hatten und ihren Ehemann fragen mussten, wenn sie einen ganztägigen Wanderausflug machen wollten.
Aber aus der jung verwitweten und bis zu ihrer zweiten Heirat alleinerziehenden Mutter ist ein freier und unabhängiger Geist geworden.
Der Freigeist ist ihr geblieben. Auch wenn sie für längere Strecken einen Stock braucht, auch wenn sie schnell gesprochene Sätze nicht beim ersten Zuhören versteht: In ihren braunen Augen leuchtet Neugierde und Lust aufs Leben.
Die bei über 90-Jährigen übliche Frage nach dem Rezept ihrer geistigen und körperliche Frische traut man sich dieser beeindruckenden Frau eigentlich nicht zu stellen. Anderseits erwartet man von ihr eine originelle Antwort...
Das Rezept für geistige und körperliche Frische
Und Hertha Gerlinger enttäuscht nicht: „Ach, ganz einfach“, antwortet sie. „Nach der Meinung eines alten Freundes sollte eine Frau immer einen jüngeren Mann heiraten.“ Denn das Alter eines Ehepartners würde sich aus der Quersumme beider berechnen. Danach ist sie ja „nur“ 91 Jahre alt.
Entsprechend viel hat sie noch vor: „Mein nächstes Buch habe ich schon im Kopf.“ Denn solange es irgendwie geht, „darf man die Dinge, die man liebt, nicht aufgeben“.
Hier ein Gedicht von Hertha Gerlinger - es trägt auch den titel "Ein Gedicht":
Aus Gedanken werden Worte
Und aus Worten werden Sätze
Sätze suchen guten Klang
Nennen wir es mal Gedicht.
Aber Lyrik ist es nicht.
Rankenwerk sucht man vergebens.
Eher könnte man es nennen:
Fazit eines langen Lebens.
Viel gesehen, viel gedacht,
Daraus ein Gedicht gemacht.
Denn was man in Reime bindet,
man im Kopf leicht wieder findet.
Das Buch „Spätlese“ Gedanken, Gedichte, Aquarelle ist im Spurbuchverlag erschienen ISBN 978-3-88778-501-7