"Das eindrücklichste Gewalterlebnis war, als plötzlich ein Mann mit Waffe bei uns auf der Intensivstation stand. Ich habe ihn auf dem Gang gesehen. Wir sind in ein Zimmer geflüchtet und haben uns zu dritt unter dem Tisch versteckt. Natürlich überlegt man sich da, was macht man, wenn er rumgeht und die Menschen erschießt? Man ist völlig hilflos. Ich weiß heute nicht mehr, wie lange wir da unten saßen. Aber es war heftig, mir ist nicht einmal die Notrufnummer eingefallen. Im Nachhinein hat sich herausgestellt, dass es keine echte Waffe war, aber das wussten wir nicht. Man hat einfach Angst in dem Moment." Intensivkrankenschwester aus Würzburg
"Ich habe früher in der Jugendhilfe in Norddeutschland gearbeitet und dort in einer Wohngruppe Jugendliche betreut. An einem Abend habe ich mit einer drogenabhängigen jungen Frau zusammen ferngesehen. Danach sind wir nach oben gegangen, auf der Treppe habe ich ihr irgendetwas verweigert – und auf einmal hat sie mit den Handkanten von hinten auf mich eingeschlagen. Seitlich, auf die Schultern und den Kopf. Immer wieder. Damit habe ich überhaupt nicht gerechnet. Ich war fix und fertig, bin nach Hause und habe nur noch geweint." Sozialpädagogin und Physiotherapeutin aus Unterfranken
"Wir sind mit dem Rettungswagen zu einem hilflosen, alkoholisierten Mann gerufen worden und sollten ihn ins Krankenhaus bringen. In der Notaufnahme haben wir die Trage abgelassen und die Gurte gelöst – und plötzlich hat er gegrinst, ausgeholt und mir mit der Faust auf die Nase geschlagen. Unvermittelt, ohne Vorwarnung. Die Schwestern, die Ärzte und meine Kollegen waren in Schockstarre. Ich bin zurückgewichen. Der Mann ist aufgesprungen, hat mich ein paar Mal um die Trage gejagt und mir eine Ohrfeige verpasst. Erst als er gestolpert ist, konnten wir ihn festhalten und die Polizei rufen. Das ist Jahre her, aber das vergisst man nicht." Notfallsanitäter aus Schweinfurt
Das sind drei Beispiele. Drei extreme Gewalterfahrungen von Menschen in Gesundheitsberufen. Drei Fälle, die stellvertretend stehen für viele, bundesweit wie auch in Unterfranken.
Zahlreiche Pflege- und Betreuungskräfte erleben bei ihrer Arbeit Gewalt, bestätigt Claudia Vaupel, Traumapsychologin und Referentin bei der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW). In einer 2018 von der BGW mit veröffentlichten Studie gaben knapp 80 Prozent der Befragten aus Altenpflege, Krankenhäusern und Behindertenhilfe an, in den zurückliegenden zwölf Monaten Gewalt am Arbeitsplatz erfahren zu haben.
Die große Mehrheit der Beschäftigten erlebt verbale und auch körperliche Gewalt
Dabei geht es nicht nur um den brutalen Schlag ins Gesicht. Sondern auch um Aggressionen oder sexuelle Übergriffe, nonverbale Drohungen etwa durch Gesten oder Beleidigungen. Ein Patient, der seine Behandler beißt und kratzt. Ein Kranker, der schimpft und spuckt. Ein Hochbetagter, der der Pflegerin an den Po grapscht.
Was aber, wenn der Betreute dement ist? Wenn der Kranke Angst hat? Wenn Menschen gewalttätig sind – ihr Verhalten aber nicht steuern können aufgrund von kognitiven oder emotionalen Einschränkungen? Müssen solche Aggressionen in Gesundheitsberufen hingenommen werden? Nein, heißt es von der BGW: "Alle Beschäftigten haben Anspruch auf sichere und gesunde Arbeitsbedingungen."
So einfach, so klar. Die Realität jedoch sieht oft anders aus.
"Patienten, die treten, zwicken, uns den Daumen umdrehen oder laut schimpfen, habe ich schon erlebt. Es ist nicht okay, aber es kommt häufiger vor. Man überlegt sich da immer, ist das krankheitsbedingt und ist der Mensch überhaupt zurechnungsfähig? Schlimm war ein Patient, der vor einigen Jahren während einer Nachtschicht wirklich ausgerastet ist. Er hat mich und meine Kolleginnen angeschrien und regelrecht in seinem Bett getobt. Da kriege ich noch immer Herzklopfen, wenn ich daran denke." Intensivkrankenschwester aus Würzburg
"Es kommt vor, dass alkoholisierte Personen im Rettungswagen randalieren, Scheiben zerschlagen oder gegen die Wand treten. Dann hat Selbstschutz Priorität und ich gehe auf Abstand. Die Polizei ist in solchen Fällen meist schnell da und hilft. Und auch, dass Patienten oder Angehörige ausrasten und uns anschreien, das hat man immer wieder." Notfallsanitäter aus Schweinfurt
In der BGW-Studie berichteten 94 Prozent der Befragten über verbale und 70 Prozent über körperliche Gewalterlebnisse. Besonders häufig betroffen sind laut Psychologin Claudia Vaupel Beschäftigte in Notaufnahmen oder psychiatrischen Einrichtungen.
Die Dunkelziffer dürfte bei Gewaltvorfällen im Gesundheitswesen hoch sein
Wenn Gewalt am Arbeitsplatz einen körperlichen Schaden oder eine psychische Beeinträchtigung verursacht, handelt es sich versicherungsrechtlich um einen Arbeitsunfall, sagt Vaupel. In der amtlichen Statistik würden aber nur Fälle erfasst, bei denen eine Arbeitsunfähigkeit von mehr als drei Tagen vorliege. Zudem sei die Beschreibung des Unfallhergangs nicht immer eindeutig, sagt die Referentin der Berufsgenossenschaft. Was Gewaltvorfälle betrifft, dürfte die Dunkelziffer somit hoch sein, die Grauzone auch.
"Ich habe mich nach dem Vorfall mit der Waffe nicht krankgemeldet. Natürlich denkt man abends noch daran, aber ich hatte keine größeren Probleme. Ich habe lange mit Kolleginnen und Kollegen darüber gesprochen. Im Team wird bei uns viel aufgefangen. Und in der Regel nehme ich Übergriffe der Patientinnen und Patienten nicht persönlich. Generell ist die Intensivstation ein geschützterer Bereich, die meisten Menschen sind hier schwer krank und dankbar, dass ihnen geholfen wird." Intensivkrankenschwester aus Würzburg
"Der BG-Arzt hat mich nach dem Angriff der Jugendlichen ein paar Tage krankgeschrieben, danach sollte ich wieder arbeiten und bei Problemen die Polizei anrufen, diese sei informiert, hieß es. Tatsächlich tauchte die junge Frau trotz Hausverbots wieder auf und ich rief die Polizei, aber sie wussten von nichts und konnten nicht kommen. Also flüchtete ich zu Nachbarn und rief von dort nochmals die Polizei. Nach dieser Eskalation habe ich noch einige Zeit versucht, weiterzumachen. Aber ich hatte Angst und war verstört, es ging nicht mehr. Ich bekam Depressionen, hatte lange psychische Probleme. In der Jugendhilfe konnte ich nie wieder Fuß fassen. Es fühlt sich bis heute so an, als hätte ich in meinem studierten Beruf versagt." Sozialpädagogin und Physiotherapeutin aus Unterfranken
"Ich bin seit 1980 im Rettungsdienst und so ein Vorfall wie der Faustschlag ins Gesicht, das ist mir nur einmal passiert. Ich wurde danach im Krankenhaus geröntgt und habe bei der Polizei meine Aussage gemacht. Dann war die Sache für mich erledigt, ich habe weitergearbeitet. Kollegiale Ansprechpartner oder ähnliche Hilfen gab es damals noch nicht." Notfallsanitäter aus Schweinfurt
"Sowohl Betroffene als auch Betriebe tun sich zum Teil schwer, mit dem Thema offen umzugehen", sagt BGW-Referentin Vaupel. Gerade im Gesundheits- und Sozialbereich würden Gewalterfahrungen manchmal als persönliches Versagen wahrgenommen. Betroffene "schweigen aus Scham- oder Schuldgefühlen".
Gewalt sei "immer noch eher ein Tabuthema", kritisiert Dr. Herbert Deppisch, langjähriger ehemaliger Vorsitzender der Mitarbeitervertretung der Diakonie Würzburg und Mitglied der Gewerkschaft ver.di. Weil sonst "Dinge ans Licht kommen, die eigentlich gar nicht vorkommen dürfen", sagt Deppisch. Dinge, die "die heile Betriebswelt zerstören" würden.
Umgang mit dem Tabuthema Gewalt in Gesundheitseinrichtungen verändert sich
Der Umgang mit Gewaltvorfällen sei deshalb häufig hilflos, in den meisten Einrichtungen gebe es kein geregeltes Verfahren, um Betroffene zu unterstützen, sagt Deppisch. Und: "Es ist auch deswegen ein Tabuthema, weil es noch viele Führungskräfte gibt, die der Meinung sind, dass Gewalt im Sozialbereich einfach dazu gehört." Er selbst habe schon Sätze gehört wie: "Jetzt haben Sie sich nicht so, so ein bisschen Gewalt gehört doch zu Ihrem Berufsbild dazu."
Die Gefahr: Gewaltereignisse können Folgen haben, nicht nur körperlich, sondern auch psychisch. So gab in der Erhebung der Berufsgenossenschaft rund ein Drittel der Befragten an, durch die erlebte Gewalt stark belastet zu sein.
Auch am Uniklinikum Würzburg mit mehr als 7300 Mitarbeitenden kommt es "leider zu unterschiedlichen Formen von Gewalt gegen Beschäftigte", wie Sprecher Stefan Dreising auf Anfrage sagt. Für die Betroffenen sei das eine enorme Belastung. "Dieser andauernde Trend ist leider bundesweit an Kliniken und auch bei Rettungsdiensten zu beobachten", sagt Dreising. Die Uniklinik habe deshalb eine eigene Beratungsstelle eingerichtet, zur Prävention fänden spezielle Deeskalationstrainings statt und es gebe einen Sicherheitsdienst.
"Im Normalfall bekommt man Unterstützung. Den Vorfall mit der Waffe etwa sollten wir bei der Berufsgenossenschaft melden, um posttraumatischen Belastungsstörungen vorzubeugen. Es ist nichts unter den Tisch gekehrt worden. Es gab auch nochmal eine Schulung mit der Polizei und das Angebot, sich psychologisch helfen zu lassen. Aber ich habe es nicht in Anspruch genommen. Ich bin ein guter Verdränger." Intensivkrankenschwester aus Würzburg
"Nachdem ich in der Jugendhilfe nicht mehr klargekommen bin, habe ich eine Ausbildung zur Physiotherapeutin gemacht. Seit einigen Jahren arbeite ich nun in einer Schule für Menschen mit Behinderung. Dort ist das Thema Gewalt für alle Mitarbeitenden Pflicht und die Kollegen gehen untereinander gut damit um." Sozialpädagogin und Physiotherapeutin aus Unterfranken
Gewalt am Arbeitsplatz ist ein Arbeitsschutzthema, sagt BGW-Expertin Vaupel. Das sei vielen früher nicht bewusst gewesen. Der Umgang mit dem Thema in den Einrichtungen habe sich aber verändert und verbessert. Heute gebe es Hilfs- und Präventionsangebote, vom einfachen Flyer mit Tipps für Arbeitgeber und Betroffene über Schulungen und Deeskalationstrainings bis hin zu telefonisch-psychologischen Beratungen. Reicht das?
Aus Sicht von Herbert Deppisch nicht. In der Betreuungsarbeit von ver.di in Würzburg nehme das Thema Gewalt "eindeutig zu". Vor wenigen Wochen organisierte die Gewerkschaft einen Infoabend, um Beschäftigte und Arbeitgeber aufzurütteln. Wenn man die Ergebnisse von Studien mit der Realität vergleiche, dann frage man sich, warum in vielen Einrichtungen das Thema Gewalt so gut wie gar nicht vorkommt, sagt Deppisch: "Entlang dem Sprichwort, dass nicht sein kann, was nicht sein darf."
"Es hat sich schon etwas getan, das Thema Gewalt ist präsenter. Aus meiner Sicht kommt das aber 25 Jahre zu spät. Da ist in den 1980er und 1990er Jahren viel versäumt worden. Und noch immer gibt es diesen Satz: 'Das musst du aushalten'. Aber ich sehe das anders. Ja, ich fahre mit Blaulicht durch die Stadt und komme zu Unzeiten in fremde Wohnungen, weil es einem Menschen sehr schlecht geht und ich Hilfe leiste. Aber dass deshalb andere das Recht haben, mich anzupöbeln oder handgreiflich zu werden – das gehört nicht zum Job dazu." Notfallsanitäter aus Schweinfurt