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Wenn die Pflege zur Qual wird
Pflegen ist nicht einfach. Die psychische Belastung kann manchmal so groß werden, dass sie zu Aggressionen führt.       -  Pflegen ist nicht einfach. Die psychische Belastung kann manchmal so groß werden, dass sie zu Aggressionen führt.
Foto: FOTO Susanne Wahler-Göbel | Pflegen ist nicht einfach. Die psychische Belastung kann manchmal so groß werden, dass sie zu Aggressionen führt.
Von unserer Mitarbeiterin Susanne Wahler-Göbel
 |  aktualisiert: 20.06.2007 03:06 Uhr

Manchmal schimpft Adelheid Hehn mit ihrem Mann. Dann, wenn die Nächte wegen seiner Schreie gar so unruhig sind. Selbst gesundheitlich enorm angeschlagen, pflegt Adelheid Hehn (Name geändert, die Red.) ihren schwer kranken Mann schon Jahre. Eigentlich kann die alte Frau aus Bad Kissingen längst nicht mehr. Aber in ein Pflegeheim geben will sie ihren Mann auch nicht.

So wie viele andere auch. Es gibt immer mehr Pflegefälle. Immer mehr Pflegende sind demnach auch mit der Situation überfordert, so wie es sich bei Adelheid Hehn andeutet. Und nicht selten führt diese Entwicklung zu Aggression und sogar zu Gewalt in Pflegebeziehungen. Dies zumindest ist die Erkenntnis von Ralph-Michael Karrasch. Der 45-jährige Psychiater aus Landsberg am Lech erhielt für sein Engagement in der Altersforschung im April dieses Jahres den mit 5000 Euro dotierten Kissinger Parkwohnstiftspreis (wir berichteten).

„Immer mehr ältere Menschen werden von ihren Ehepartnern gepflegt und betreut“, sagt Karrasch. Doch die häusliche Pflege eines Partners bringt in vielen Fällen Probleme aufgrund psychischer Überlastung mit sich. Wo es enden kann, umschreibt der Titel seiner Promotionsarbeit: „Gewalt im Rahmen der Pflege eines Partners im höheren Lebensalter“.

Davon betroffen sind meist beide, sagt Karrasch: die pflegende Person ebenso wie die zu pflegende Person. Denn auf Dauer ist es schwierig, den Bedürfnissen des anderen gerecht zu werden oder zu bleiben. Könne dies gar nicht mehr gewährleistet werden, sei der Schritt hin zu Aggression und Gewalt nicht mehr weit, so der promovierte Mediziner.

Tradition verpflichtet

In rund 20 Prozent der Fälle findet die Pflege im häuslichen Bereich statt. „Der Wunsch des Pflegebedürftigen, zu Hause bleiben zu wollen, steht im Vordergrund“, so der 45-Jährige. Zudem könne die finanzielle Situation der Betroffenen dazu führen, „dass die Pflege so lange wie möglich in der Familie stattfindet.“

Ein weiterer Faktor ist die gerade in ländlichen Gebieten verbreitete traditionelle Stellung der Familie. „Vor allem die Ehefrauen fühlen sich verpflichtet, ihren Mann zu betreuen“, weiß Klemens Beringer (Name geändert, die Redaktion). Der Altenpfleger versorgt und besucht seit 22 Jahren täglich Pflegebedürftige im Landkreis Bad Kissingen. „Da geht es um die Angst: Was sagen die Leute, was denken die Leute, wenn ich meinen Mann ins Pflegeheim gebe?“, so Beringer.

Adelheid Hehn aus Bad Kissingen ist so jemand. Seit einem schweren Hirnschlag ist ihr Mann Schwerstpflegefall. Die beiden sind seit 55 Jahren verheiratet. Die alte Frau sorgt Tag und Nacht für ihn. Doch für sich selbst findet sie kaum Zeit, zum Arzt zu gehen. Ihren richtigen Namen will sie nicht in der Zeitung lesen, auch ihr Alter sagt sie nicht. Zu groß ist die Angst, bei den Nachbarn ins Gerede zu kommen.

Die alte Frau fühlt sich sehr isoliert. „Das Leben ist nicht mehr schön.“ Obwohl sie selbst gesundheitlich sichtbar schwer angeschlagen ist, „fragen die Nachbarn nie nach mir oder meinem Mann“. Ihre einzige Erholung sei es, in ihren Garten zu gehen. Schlecht denken über ihren Mann, sagt Adelheid Hehn, das dürfe sie nicht. „Das fällt doch auf einen zurück.“

 

„Irgendwann ist der Leidensdruck so groß, dass die Hemmschwelle sinkt“

Ralph-Michael Karrasch über ein Tabu

Für den Gerontologen sind Fälle wie der von Adelheid Hehn täglich Brot. Der 45-Jährige braucht Zeit, Mut und Einfühlungsvermögen, um das Vertrauen der Betroffenen zu gewinnen. Das Thema hat etwas von einem Tabu. „Irgendwann ist der Leidensdruck aber so groß, dass die Hemmschwelle sinkt und die Leute froh sind, über ihre Situation sprechen zu können“, so die Erfahrung des Mediziners. „Sie brauchen ein Ventil.“

In Gesprächen mit Patienten stößt Karrasch auf eine Vielzahl von körperlichen und psychischen Gewalterscheinungen auf beiden Seiten. Die Betroffenen berichten unter anderem von Anschreien, Drohungen, Äußerungen von Schimpfworten bis hin zu Schlägen. Die Unzufriedenheit des Gepflegten und sein ständiges Fordern an die Pflegeperson gelten dabei als hauptsächliche Auslösefaktoren für das Eskalieren der Situation, so die Aussagen von Karrasch' Studien.

Altenpfleger Beringer erlebt bei seiner Arbeit Situationen, „in denen ich auf beiden Seiten subtile Aggressionen spüre“. Dies sei oft an Kleinigkeiten festzumachen, die für die Betroffenen allerdings große Bedeutung hätten. Der 49-Jährige nennt ein Beispiel: „Für mich entsteht ein Konflikt, wenn die Frau sagt, der Mann soll rasiert werden, etwa weil Besuch kommt – und ich gleichzeitig merke, dass der Kranke nicht will, sei es, weil er Schmerzen hat, sei es, weil er sich dagegen wehrt, dass einfach über ihn bestimmt wird“, erzählt Beringer. Seiner Erfahrung nach sind es oft die Pflegenden, „die einfach darüber entscheiden, was der Kranke bekommt oder nicht bekommt, erst recht, wenn sich derjenige nicht mehr verbal äußern kann.“

Im Fall der verlangten Rasur setzt Beringer oft auf psychologisches Einfühlungsvermögen. Er selbst habe ja auch gelegentlich einen Dreitagebart. „Manchmal frage ich die Angehörigen dann: Sehe ich denn so schlimm aus?“ Ihm sei durchaus bewusst, dass die Pflegenden oft sehr überfordert seien. „Eigentlich müssten wir uns genauso um die Betreuungsperson kümmern wie um den Pflegefall, wenn nicht sogar mehr.“

„Viele fühlen sich mit ihren Problemen allein“, sagt auch Karrasch. „Einerseits plagt die Pflegenden das moralische Gewissen, weil sie das Leid des Kranken sehen, andererseits wissen sie mit der Dauerbelastung nicht gut umzugehen.“ Nicht selten führe das langfristig dazu, dass auch die Pflegeperson erkrankt.

Gemeinsam ins Altenwohnheim

Auch Erika Stenzel (Name geändert, die Red.) ist seit 55 Jahren verheiratet und pflegt seit rund vier Jahren ihren 83-jährigen Ehemann. „Noch kann ich es machen“, sagt die 76-jährige Kissingerin. Ihren Mann kann sie wegen seiner Diabeteserkrankung, mehreren Herzinfarkten und einer überstandenen Lungenembolie nicht mehr allein lassen. Nach viel Überzeugungsarbeit habe sie allerdings durchgesetzt, „dass wir zusammen in ein Altenwohnheim gehen.“

Dennoch übernimmt Erika Stenzel auch dort die Hauptpflegearbeit. „Für Männer ist es schwerer, ständig auf Hilfe angewiesen zu sein“, meint sie. Manchmal müsse sie seine Launen eben aushalten, aber das sei menschlich. „Ich habe ja auch welche“, fügt sie an. So lange Zeit verheiratet zu sein, „das macht schon was aus, damit kommen wir klar.“

Für den Alterswissenschaftler Karrasch ist klar, „dass eine aus Liebe und Zuneigung übernommene Pflege im Gegensatz zu einer Pflegeübernahme aus moralischen Gründen“ Schutz vor Aggressionen und Gewalt bietet. In einer solchen Partnerschaft kämen trotz der beiderseitigen Belastung Aussagen wie „Du bist doch das Letzte!“ selten vor. Dennoch bräuchte es auch hier regelmäßig Entlastung auf beiden Seiten.

 

„Wenn der Pflegende in Urlaub fahren kann, läuft's danach wieder besser“

Klemens Beringer empfiehlt Erholung

Der Mediziner bezeichnet das als „Psychohygiene“. Es sei wichtig, „dass die Pflegepersonen immer wieder auch für sich selbst sorgen, um nicht zu hilflosen Helfern zu werden.“ Dies gelte gerade für Personen mit einem hohen moralischen Pflichtgefühl. Soziale Kontakte und der Austausch mit anderen Betroffenen könnten dabei unterstützend wirken.

Altenpfleger Beringer plädiert unbedingt dafür, das Angebot einer Kurzzeitpflege wahrzunehmen. Natürlich sei ihm klar, „dass das für manche dem Anrühren einer heiligen Kuh nahe kommt“. Aber deswegen liebe der Pflegende den Kranken ja nicht weniger, stellt der 49-Jährige fest. „Im Gegenteil, wenn man mal Abstand voneinander hat und der Pflegende möglichst ohne schlechtes Gewissen vielleicht in Urlaub fahren kann, läuft's danach wieder besser.“

Präventive Hausbesuche seitens eines Arztes oder einer Pflegekraft könnten nach Ansicht Karraschs helfen, „einen besseren Einblick in vorhandene Probleme zu gewinnen und mögliche aggressive Handlungen zwischen den Betroffenen zu verhindern oder zumindest früh zu erkennen“. Denn die Ursache eines Hämatoms könne bei einem alten Menschen oftmals nicht eindeutig festgestellt werden – ebenso wie eine mögliche depressive Erkrankung im Alter schwerer zu diagnostizieren sei.

Für Karrasch scheint eine tiefergehende Sensibilisierung der Gesellschaft für die Problematik von Gewalt und Aggression in der Pflege notwendig. „Zudem sollten sich ältere Menschen nicht scheuen, die Möglichkeit einer Therapie zu nutzen.“ Diese könne eine positive Krankheitsverarbeitung fördern und Fähigkeiten im Umgang mit Belastungen und Stress vermitteln. Adelheid Hehn jedoch wünscht sich nur eines: „Dass mein Mann bald erlöst wird.“

 
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