
Stadträtin Christiane Kerner geht auch an diesem Samstag entschlossen über den Place de Caen am Würzburger Heuchelhof. Hier, am zentralen Platz im sogenannten H1, haben sie und ihre Mitstreiter seit Wochen eine Mission: den Platz belegen und beleben – und ihn vor allem der AfD streitig machen. Zu tief saß der Schock, als die in Teilen rechtsextreme Partei im Stimmbezirk 128, also in den Plattenbauten rund um den Place de Caen, im Oktober 2023 bei der Landtagswahl knapp 60 Prozent erreichte.
Deswegen ist Kerner gemeinsam mit dem Bündnis "Bunter Heuchelhof" auch die vierte Woche in Folge nun samstags hier, kommt mit den Menschen ins Gespräch, schleppt Bierbänke, liest den Kindern Märchen vor. Der Place de Caen, er soll bunt werden, offen sein für jeden – und wenn es nach dem Bündnis "Bunter Heuchelhof" geht, nicht der AfD erneut die Bühne bieten, um in dem von Migration geprägten Viertel auf Stimmenfang zu gehen.
Ein Rückblick: Quartiersmanagerin Hermine Seelmann kann sich noch gut an die Wochen vor der Landtagswahl erinnern. Jeden Samstag hatte in ihrer Erinnerung die AfD am Place de Caen zwischen den Hochhaustürmen ihre Stehtischchen und Lautsprecher aufgebaut. Dann wurden die Boxen voll aufgedreht, die stundenlang den Platz beschallten. "Ich musste mich wirklich zum Zuhören zwingen, ich empfand die Thesen teilweise als menschenverachtend", sagt Seelmann heute, über ein halbes Jahr später. Reden von Rechtsextremist und AfD-Politiker Björn Höcke schallten in den Wochen vor der Wahl Samstag für Samstag stundenlang über den Platz, direkt hinein in die Wohnzimmer und Küchen der Plattenbauten ringsum.
Wochenlanger Wahlkampf hat der AfD ein hohes Wahlergebnis beschehrt
Sie haben die Zuhörer offenbar erreicht: Am 8. Oktober 2023 kam die AfD am gesamten Heuchelhof auf 26 Prozent, im Rest der Stadt auf 10,2. Betrachtet man den Stadtteil etwas näher, wird noch deutlicher, wie erfolgreich der mutmaßliche Stimmenfang der AfD inmitten der Hochhäuser war: 59,8 Prozent erreichte die Partei im Stimmbezirk 128, also am H1.

Jetzt, in den Wochen vor der Europawahl, setzte das Bündnis "Bunter Heuchelhof" alles daran, dass sich das nicht wiederholt. Schon kurz nach der Landtagswahl hatte sich eine Handvoll Menschen vom Heuchelhof zusammengesetzt und überlegt, wie der Stadtteil bunter werden kann, was man tun kann, dass wieder mehr politische Vielfalt Einzug hält zwischen den Hochhaustürmen. "Uns war schnell klar: Wir müssen die Leute aus ihren kleinen Wohnungen holen und zusammenbringen", sagt der evangelische Pfarrer Tobias Graßmann, einer der Initiatoren.
Das Bündnis hatte deshalb in seiner Spontan-Aktion für die sechs Samstage vor der Europawahl Veranstaltungen auf dem Place de Caen angemeldet. Platz für blaue Wahlkampfzelte gab und gibt es also derzeit zumindest an diesen Tagen keinen, stattdessen ein vielfältiges Programm: Ein Bürgerfest, ein Mitmachtag, eine Pflanzentauschbörse, ein Straßenmusikfest, ökumenische Gottesdienste und ein Suppenausschank haben bereits stattgefunden. Ein Flohmarkt wird den Platz am Samstag vor der Wahl belegen.
Es gehe nicht darum, "Demokratie-Unterricht mit dem erhobenen Zeigefinger abzuhalten", sagt Graßmann. "Wir wollten zeigen, wie schön ein Miteinander sein kann. Und: Wir wollten dafür sorgen, dass hier nicht wieder wochenlang die Höcke-Reden über den Platz tönen." Denn er ist sich sicher: "Die AfD hatte 2023 hier gezielt gehetzt, den H1 zum Kampagnenschwerpunkt gemacht – und ihre Rechnung ist aufgegangen."
Warum ausgerechnet am Heuchelhof so viele Menschen die AfD gewählt haben könnten
Warum aber sollte eine rechte Partei ihren Schwerpunkt ausgerechnet auf einen Kiez setzen, in dem zwei Drittel der Menschen einen Migrationshintergrund haben? Heuchelhöfer Alexander Kühn, ebenfalls einer der Verantwortlichen des Bündnisses, hat eine Erklärung: Er selbst kommt aus Russland – wie viele der Bewohnerinnen und Bewohner am Heuchelhof. Die Hälfte der Menschen mit Migrationshintergrund stammt aus der ehemaligen Sowjetunion. "Die russische Propaganda verkauft die AfD als die einzige wählbare Partei Deutschlands. Die AfD ist aus meiner Sicht ein verlängerter Arm Putins", sagt er.
Er weiß, dass hinter den Gardinen in den Hochhäusern der russische Präsident größtenteils verehrt wird und die Propaganda-Sender rauf und runter laufen. Dort würden die Menschen aus Russland heraus emotional angestachelt werden, meint Kühn. "Ich hab das am eigenen Leib erlebt: Es fordert unfassbar viel Willenskraft und Aufklärung, sich dieser Propaganda zu widersetzen, die Narrative nicht einfach anzunehmen und sich nicht einfangen zu lassen. Und es fordert viel Willenskraft, nicht jede schlechte Lebenslage auf einen einfachen Schuldigen zu projizieren. Das sind alles Taktiken, die ich auch bei der AfD erkennen kann."
Pfarrer Graßmann ist sich sicher, dass die Partei damit punkten konnte: "Es fühlen sich einige hier oben nicht gesehen, nicht gehört. Nicht zuletzt Themen wie die maroden Tiefgaragen und der Umgang der Stadt damit, geben den Menschen das Gefühl, hier alleine zwischen den Hochhäusern zu sitzen – das macht anfällig für Propaganda." Gerade die Russlanddeutschen stünden seinem Empfinden nach oft vor dem Problem: So richtig dazu gehören sie nicht in Würzburg, seit jeher leben die meisten von ihnen ziemlich isoliert. "Da passiert es schnell, aus dieser Isolation heraus, den Blick dafür zu verlieren, wie viel Vorteile ein Leben hier bietet und wie wichtig es ist, in freien, demokratischen Verhältnissen zu leben."

Sein Gefühl ist, dass viele der Russlanddeutschen sich in einer Art Negativ-Spirale befinden würden: "Es wird viel verglichen: Wie werden heute Menschen behandelt, die aus anderen Ländern hierherkommen? Wie ging es uns damals, als wir nach Deutschland kamen? Dazu kommen begrenzte finanzielle Mittel, eine gewisse Skepsis allem Modernen und Westlichen gegenüber, Anfeindungen aufgrund des Ukraine-Kriegs – es ist eine Mischung, die zugänglich macht für die Parolen der AfD."

Hermine Seelmann hat genau das vor der Wahl beobachten können: "Die AfD hat hier meiner Meinung nach ganz gezielt die Gruppen gegeneinander ausgespielt", sagt sie. "Den Menschen mit russischem Hintergrund haben sie signalisiert: 'Ihr seid doch Deutsche, ihr arbeitet hier, ihr zahlt hier steuern – warum geht es euch dann nicht so gut wie den Reichen da unten in der Stadt?'"
"Die da unten in der Stadt", die wünscht sich vor allem Stadträtin Christiane Kerner mehr am Heuchelhof. Sie hat als einziges Stadtratsmitglied, das im Viertel lebt, ihre Kolleginnen und Kollegen aus allen Fraktionen zu den Veranstaltungen eingeladen – und viele sind gekommen. "Wir wollten erreichen, dass die Menschen Gesichter zu den Parteien haben, dass ihre Probleme genau da Gehör finden, wo es sein muss und im besten Fall die Probleme vor Ort auch gelöst werden können. Wenn Lokalpolitik erlebbar ist, ebnet das den Weg zum Demokratieverständnis."
Viele Bewohner aus unterschiedlichsten Ländern haben die letzen Wochen gezeigt, dass sie durchaus aktiv am Stadtteilleben teilnehmen und der Heuchelhof mehr ist, als eine blaue Insel.
Viel wichtiger ist doch, dass etwas geschieht, das Aufmerksamkeit erweckt. Und das zeigt, dass sich sehr wohl Menschen mit anderen Kulturen hier wohlfühlen und integrierten.
Die Aktionen haben eine gute Begegnungsfläche geschaffen und haben alle eingeladen teilzunehmen anstatt auf die Unterschiede im Stadtteil zu deuten.
Bunt ist meistens schön, aber politisch treibt diese Farbenvielfalt den Wähler in die Arme dieser AfD.