
Noch in dieser Woche beginnen in Berlin die Verhandlungen über eine Ampel-Koalition unter Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD). Ein zwölfseitiges Papier, das SPD, Grüne und FDP zum Abschluss ihrer Sondierungen vorgelegt hatten, zeigt schon mal in groben Zügen, was die neue Bundesregierung plant. Die Redaktion hat bei unterfränkischen Experten aus verschiedenen Fachgebieten nachgefragt, wie sie die Vorhaben bewerten. Das Echo fällt meist positiv aus, vereinzelt wird aber auch Kritik laut.
Heiko Paeth: Warum kein Tempolimit?
Heiko Paeth, dem Professor für Klimatologie an der Universität Würzburg, gehen die angekündigten Maßnahmen beim Klimaschutz nicht weit genug. Sie würden am Ende nicht genügen, um die Ziele des Pariser Klimaabkommens zu erreichen, also die Erderwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen.

Allerdings sieht Paeth einen Paradigmenwechsel, nachdem der Klimawandel 16 Jahre lang mehr oder weniger nur Thema von Sonntagsreden gewesen sei. Schon die geplante Einführung eines Klimaschutzministeriums zeige, dass es den Koalitionären mit dem Thema ernst sei. Die Bereitschaft, den Kohleausstieg auf 2030 vorzuziehen, sei "ein Anfang", ebenso das klare Bekenntnis zu einem beschleunigten Ausbau von Sonnen- und Windenergie.
Für "Kopfschütteln" beim Klimaexperten Paeth sorgt derweil das Nein zu einem generellen Tempolimit von 130 Stundenkilometern auf Autobahnen. Es wäre eine "billige Maßnahme" gewesen, den CO2-Ausstoß im Verkehr zu verringern und gleichzeitig den Verkehrsfluss zu erhöhen und die Unfallzahlen zu reduzieren. Auch ein Verbot von Inlandsflügen hätte sich der Professor gewünscht. Bestes Beispiel sei Frankreich. Dort sind Flüge zwischen Städten verboten, zwischen denen eine alternative Schnellzugverbindung von höchstens zweieinhalb Stunden existiert.
Stefan Wolfshörndl: Mindestlohn hilft gegen Armut
Stefan Wolfshörndl, der Landesvorsitzende der Arbeiterwohlfahrt (Awo), freut sich vor allem, dass der Mindestlohn künftig zwölf Euro die Stunde betragen soll. Die Erhöhung werde nicht nur helfen, mehr Menschen aus der Armut zu holen, sondern sich auch positiv auf die Finanzierung der Rentenkassen auswirken. Die Zusage, dass es weder Rentenkürzungen noch eine Anhebung des Renteneintrittsalters geben wird, begrüßt Wolfshörndl.

Sinnvoll sei auch die Weiterentwicklung von Hartz IV zu einem "Bürgergeld". Der Begriff "Hartz IV" sei mittlerweile einfach verbrannt, so der Awo-Chef, der auch SPD-Bürgermeister von Gerbrunn (Lkr. Würzburg) ist. Mit der Einführung einer Kindergrundsicherung werde eine langjährige Awo-Forderung umgesetzt. Wolfshörndl wünscht sich zudem einen weiteren Ausbau der Kinderbetreuung. Auch hier gelte: "Wenn sich Familie und Beruf besser vereinbaren lassen, sinkt das Armutsrisiko."
Sascha Genders: Zentrale Themen werden angepackt
Sascha Genders, der stellvertretende Hauptgeschäftsführer der Industrie- und Handelskammer (IHK) Würzburg-Schweinfurt, erkennt den Willen der Koalitionäre, "zentrale Themen wie Digitalisierung, schnellere Verwaltung und schlankere Genehmigungsverfahren politisch anzupacken". Hier gebe es bekanntlich Nachholbedarf. Zugleich sei es aus Sicht der mainfränkischen Wirtschaft wichtig, dass die Koalitionäre keine Steuern erhöhen, keine Substanzsteuern einführen und die öffentlichen Haushalte auf Unwirtschaftlichkeiten hin überprüfen.

"Nacharbeiten" braucht es laut Genders bei der Frage, wie die angekündigten Investitionen - vor allem auch in den Klimaschutz - konkret finanziert werden sollen. Dabei müsse man nicht zuletzt auch beachten, dass die deutsche Industrie international ausgerichtet ist, sich also im Wettbewerb auf den Weltmärkten behaupten muss.
Peter Bofinger: Tragfähiger Kompromiss bei den Steuern
Laut Peter Bofinger wurden in Bezug auf die Finanzpolitik in dem Sondierungspapier wichtige Eckpunkte vereinbart. Dieser Kompromiss sei an sich schon etwas sehr Positives, sagt der Seniorprofessor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Würzburg und langjährige Wirtschaftsweise. Dabei hätten SPD und Grüne die Kröte schlucken müssen, dass die Steuern nicht erhöht werden - und die FDP habe akzeptieren müssen, dass es keine Steuersenkungen gibt.

Dieser Kompromiss sei tragfähig. Hinzu kämen die Superabschreibungen für Unternehmen, die investieren. Das sei fast der bessere Weg als Steuersenkungen, findet Bofinger. Denn Digitalisierung und Energiewende würden den Firmen große Investitionen abverlangen. Von Abschreibungen profitiere aber nur, wer auch wirklich investiere.
Marietta Eder: Schade um die Bürgerversicherung
Marietta Eder, die Pflege- und Gesundheitsexpertin von Verdi in Schweinfurt, bedauert, dass die Koalitionäre sich nicht auf die Einführung einer Bürgerversicherung einigen konnten. Das Zwei-Klassen-System mit gesetzlicher und privater Krankenversicherung habe sich längst überholt. Erfreulich sei, dass das System der Fallpauschalen zur Finanzierung der Krankenhäuser weiterentwickelt werden soll. Es sei nicht richtig, dass eine Klinik für eine Behandlung immer gleich viel bekomme - egal ob ein fitter 25-Jähriger behandelt wird oder eine 80-jährige Seniorin, die aufwendiger versorgt werden müsse.

Um die Arbeitsbedingungen für Pflegerinnen und Pfleger zu verbessern, will die Politik die Grundlagen für die Personalbemessung verändern. Ziel müsse es sein, so Eder, nicht Untergrenzen auf Stationen festzulegen, sondern einheitliche Standards. Nur mit mehr Personal ließen sich die Arbeitsbedingungen , die viele Beschäftigte so schlauchen, verbessern, sagt die Gewerkschafterin. In der Folge ließe sich so auch verhindern, dass immer mehr ausgebildete Fachkräfte aus den Pflegeberufen aussteigen.
Stefan Köhler: Landwirtinnen und Landwirte erkennen positive Signale
Stefan Köhler, der Präsident des Bayerischen Bauernverbands in Unterfranken, hat positiv vernommen, dass das Sondierungspapier "grüne Kampfbegriffe wie Agrarwende und Massentierhaltung" vermeidet. Es gelte nun, sich an den Festlegungen des Abschlussberichts der Zukunftskommission Landwirtschaft, den Bäuerinnen und Bauern gemeinsam mit Umweltschützern und Wissenschaftlern kürzlich verabschiedet haben, "entlang zu hangeln", und die Landwirtschaft zukunftsfähig umzugestalten.

Dass die Koalitionäre anerkannt haben, dass Bäuerinnen und Bauern von der Landwirtschaft leben müssen, stimme ihn zuversichtlich, sagt Köhler. "Wir werden vernünftig miteinander reden." Beim Bemühen, die Flächenversiegelung einzudämmen, habe die Regierung die Bauern auf ihrer Seite. Und auch der Ausbau der Digitalisierung sei im landwirtschaftlichen Sinne: "5G an jeder Milchkanne hilft, Pflanzenschutz- und Düngemittel zielgenau und wirtschaftlich einzusetzen."
Eva Peteler: Spurwechsel hilft bei Integration
Eva Peteler ist Sprecherin des Würzburger Flüchtlingsrats. Zum Thema Migration enthalte das Sondierungspapier einige gute Ideen. Als "sehr positiv" bewertet sie das Bekenntnis, gut zu integrierten, aber nur geduldeten Geflüchteten den "Spurwechsel" in einen rechtssicheren Aufenthaltsstatus zu gewähren. Auch die Bereitschaft, das Staatsangehörigkeitsrecht zu modernisieren und damit weitere Integrationsmöglichkeiten zu schaffen, begrüßt die Flüchtlingshelferin.

Eher enttäuschend findet sie den Verweis auf Europa, wenn es um die Aufnahme von Geflüchteten geht. Weil in vielen Ländern die Bereitschaft zur humanitären Hilfe fehle und die meisten Geflüchteten auch nach Deutschland wollten, brauche es - orientiert an Völkerrecht und Flüchtlingskonvention - eine nationale Lösung, so Peteler.
Jennifer Wolpensinger: Wählen ab 16 stärkt die Demokratie
Jennifer Wolpensinger, die Vorsitzende des Bezirksjugendrings Unterfranken, sieht im Vorhaben von SPD, Grünen und FDP, das Wahlalter bei Bundestags- und Europawahlen auf 16 Jahre abzusenken, eine langjährige Forderung der Jugend nach demokratischer Teilhabe "zumindest teilweise erfüllt". Das sei "sehr erfreulich", sagt Wolpensinger - auch wenn sich der Bayerische Jugendring eigentlich fürs "Wählen ab 14" starkmache. Jetzt gelte es, ähnliche Regeln auch für Landtags- und Kommunalwahlen im Freistaat zu realisieren.

Auch die Einführung einer Kindergrundsicherung begrüßt die Jugendring-Sprecherin. Sie werde helfen, sozial benachteiligten Kindern und Jugendlichen auf unbürokratische Weise mehr Teilhabe zu ermöglichen.
Mitarbeit: Folker Quack