
Warum macht der Gedanke, im Alter in ein Pflegeheim zu ziehen, vielen Menschen Angst? "Weil Pflegeeinrichtungen medial seit 25 Jahren pauschal schlecht gemacht werden", meint Raimund Binder. Der 59-Jährige leitet das Marie-Juchacz-Haus der AWO im Würzburger Stadtteil Zellerau. Seit der Eröffnung des Neubaus 2019 wird dort ein in Unterfranken noch besonderes Konzept gelebt: die Wohngemeinschaft mit optionalen Pflegedienstleistungen.
Im Interview sagt Binder, wie es sich bewährt.
Raimund Binder: Das habe ich, ich werde beruflich ja täglich mit der Frage konfrontiert. Es kann gut sein, dass meine Frau und ich auch mal in eine Wohngemeinschaft ziehen. Mir gefällt die Vorstellung, mit anderen zusammenzuleben, sich gegenseitig zu unterstützen – und sich gleichzeitig zurückziehen und für sich sein zu können. Das sind Werte, die auch das Marie-Juchacz-Haus prägen sollen: Privatheit und Individualität einerseits, Gemeinschaft und Vernetzung ins Quartier andererseits.
Binder: Wir waren innerhalb eines dreiviertel Jahres voll belegt. Aktuell leben 103 Bewohnerinnen und Bewohner in den acht Wohngemeinschaften, jeweils 13 pro WG. Alle müssen mindestens Pflegegrad zwei haben. Fast alle bewohnen Einzelzimmer, teilen sich pro WG ein Wohn- und Esszimmer und eine Küche. Darüber hinaus gibt es eine Bibliothek, ein Musikzimmer und einen Fitnessraum für alle. Dazu kommen 22 Menschen in den Appartements im Bereich Servicewohnen, die optional bei Bedarf Dienste dazubuchen können. Außerdem nutzen 14 Gäste die Tagespflege.
Binder: In der Regel Monate. Wir nehmen keine Anmeldungen aus dem Landkreis Würzburg mehr entgegen, nur noch aus der Stadt. Die Zellerauer werden bevorzugt.

Binder: Da ich seit 1985 in der Altenpflege arbeite und bis auf ein Haus alle Einrichtungen in Würzburg persönlich kenne, erlaube ich mir, das zu sagen: die Konsequenz in der Umsetzung. Wir haben uns von Anfang an gefragt: Wie würden wir wollen, dass unsere Eltern leben, wenn sie Hilfsbedarf haben? Und wie würden wir selbst im Alter wohnen wollen? Der Neubau hat die baulichen Voraussetzungen dafür geschaffen, dass wir die meisten Ideen verwirklichen konnten. Am wichtigsten ist uns Alltagsnormalität.
Binder: Unsere Bewohnerinnen und Bewohner in Einzelzimmern können ihre Möbel mitbringen. Sie dürfen Kühlschränke aufstellen, eigene Bilder und Lampen aufhängen. Sie haben Klingeln an ihren Türen und eigene Briefkästen. Die Privatheit soll dafür sorgen, dass sie nach eigenen Vorlieben leben können, zum Beispiel morgens länger schlafen, in Ruhe Zeitung lesen und abends später ins Bett gehen. Natürlich sind sie aus falsch verstandener Fürsorge auch nicht eingesperrt, wie manche fürchten, sondern dürfen das Haus verlassen, sofern es ihre Gesundheit zulässt. Das alles ist wesentlich dafür, ob es den Menschen gut geht.
Binder: Ganz genau. Gleichzeitig bieten wir Gemeinschaft an, ohne sie aufzuzwingen. Bei uns gibt es keine Großküche und Wäscherei. In jeder der acht WGs wird mithilfe von Hauswirtschaftskräften jeden Tag frisch gekocht, wir waschen dort die Wäsche selbst und haben unser eigenes Reinigungspersonal. Die Bewohnerinnen und Bewohner bringen sich ein, wie sie wollen und können. Sie helfen beim Essen zubereiten, beim Bügeln oder auch mal beim Staubwischen. Auch im Alter eine Aufgabe und einen Inhalt zu haben, ist wichtig, damit sich das Leben noch sinnhaft anfühlt. Unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind Alltagsbegleiter.

Binder: Ich würde mal schätzen, etwa die Hälfte. Ich verstehe Ihre Frage gut, aber sie ist falsch.
Binder: Weil es ein riesiger Unterschied ist, ob ich mich in einer Atmosphäre aufhalte, in der Alltägliches passiert – die getragen ist von vertrauten Geräuschen und Gerüchen, wo Menschen Dinge tun, die ich nachvollziehen kann, auch wenn ich selbst nicht mehr mitmachen kann. Oder ob ich allein in meinem Zimmer sitze und darauf warte, dass eine Stunde am Tag Gymnastik ist. Ich sage damit nicht, und das ist mir wichtig zu betonen, dass es hilfsbedürftigen Menschen nicht auch in der ambulanten Pflege, der Tagespflege oder in Einrichtungen mit anderen Konzepten gut gehen kann.
Binder: Die Frage ist, was der einzelne Mensch mit seinen individuellen Bedürfnissen braucht. Ganz klar: Auch wir können nicht alle Wünsche erfüllen, und Wohngruppenkonzepte haben wir auch nicht neu erfunden. Sie werden vom Kuratorium Deutsche Altershilfe schon seit 20 Jahren empfohlen.
Binder: Meist aus wirtschaftlichen Gründen. Es ist einfacher und günstiger, alles zu zentralisieren. Gerade die Zusatzräume wie die WG-Küchen, die wir brauchen, kosten in der Anschaffung mehr Geld und werden kaum bis gar nicht finanziert.
Binder: Ja, wir sind teurer als andere Einrichtungen, auch, weil unser Haus neu ist. Im ersten Jahr muss man gute 3600 Euro bei uns selbst dazu bezahlen, das sind bis zu 500 Euro mehr als in anderen Häusern. Im zweiten, dritten und vierten Jahr wird der Eigenanteil durch den Bundeszuschuss weniger. Dann sind es noch 2600 Euro.
Binder: Ideal gewesen wären Wohngruppen mit nur acht Menschen, dann könnten wir noch viel besser auf die einzelnen eingehen. Aber das ist finanziell nicht tragbar. Dass es jetzt 13er-WGs sind, ist ein Kompromiss, der der Wirtschaftlichkeit geschuldet war. In der Pflege hatten wir eine gute Entwicklung, wir haben keinen Pflegenotstand. Aber im Bereich Hauswirtschaft ist der Personalschlüssel nicht ausreichend, das habe ich kürzlich auch der bayerischen Pflegeministerin Judith Gerlach gesagt, als sie sich unser Haus angeschaut hat. Wenn wir dort mehr Mitarbeitende hätten, könnten wir die Bewohnerinnen und Bewohner noch mehr in die Alltagstätigkeiten einbeziehen. So stoßen wir an Grenzen und sind sehr auf die Hilfe von Angehörigen und Ehrenamtlichen angewiesen. Dankenswerterweise haben wir viele davon.