Es ist ein besonderer Tag. Gebannt blickt Fußball-Deutschland an jenem 23. Juni nach München, wo sich die Nationalelf gegen Ungarn um das Überstehen der EM-Vorrunde müht. Wenige Minuten vor dem Anpfiff wird in Berlin der siebte und letzte Tagesordnungspunkt der regulären Bundestagssitzung aufgerufen. Eine halbe Stunde ist für die Aussprache angesetzt. Man hat es eilig an diesem Mittwochabend.
Bundestag noch im Juni gegen weitreichende Aufnahme
Zur Debatte steht ein Antrag von Bündnis 90/Die Grünen zur "großzügigen Aufnahme afghanischer Ortskräfte, die für deutsche Behörden und Organisationen arbeiten oder gearbeitet haben". Der Antrag stammt bereits aus dem April 2019. Die Fraktion will mit Blick auf die Bedrohung durch die Taliban ein unbürokratisches Gruppenverfahren für die Ausreise nach Deutschland einführen: Aktuelle und ehemalige Ortskräfte sollen keine persönliche Gefährdung mehr nachweisen müssen.
Allein die Tätigkeit für die Deutschen in Afghanistan bringe die Menschen in Gefahr, argumentieren die Grünen und fordern die Ausstellung von Visa auch für Familienangehörige der Ortskräfte. An diesem 23. Juni wird der Antrag im Bundestag abgelehnt. Eine namentliche Abstimmung gibt es nicht. Neben den Grünen stimmt nur die Linke dafür, die FDP enthält sich. Die Mehrheit im Plenum folgt einer Beschlussempfehlung aus dem Innenausschuss: Es bleibt für die afghanischen Hilfskräfte bei der konkreten Einzelfallprüfung.
Aus heutiger Sicht, nach der dramatischen Entwicklung in Afghanistan jetzt, würde die Abstimmung womöglich anders laufen. Die zwölf unterfränkischen Bundestagsabgeordneten aber verteidigen gegenüber dieser Redaktion das Votum ihrer Fraktionen.
CSU: Fehleinschätzungen der Lage, Skepsis gegenüber Pauschalaufnahme
"Im Nachhinein war das ein kapitaler Fehler", räumt der Würzburger CSU-Abgeordnete Paul Lehrieder zwar ein. Aber viele hätten sich in den vergangenen Wochen mit ihrer Einschätzung zur Lage in Afghanistan getäuscht. Als Abgeordneter habe er auf die Informationen aus den Ministerien vertraut. Man sei davon ausgegangen, die Ortskräfte im Laufe der nächsten Monate herausholen zu können. Deshalb habe er keine Notwendigkeit für die von den Grünen beantragte Öffnung gesehen.
Die CSU will den Zuzug aus Afghanistan generell begrenzen. Die Schweinfurter CSU-Abgeordnete Anja Weisgerber sagt: "Die vergangenen Jahre haben gezeigt, dass nicht automatisch aus einer Tätigkeit für Deutschland Rückschlüsse auf eine unmittelbare Lebensgefahr gezogen werden können." Die Gefährdungslage müsse immer differenziert betrachtet werden. Deshalb habe die CSU den Antrag abgelehnt. Mit der Zuspitzung in Afghanistan sei man nun aber "moralisch verpflichtet, unsere Ortskräfte zu schützen".
Am deutlichsten wird der Main-Spessarter Bundestagsabgeordnete Alexander Hoffmann (CSU): Eine Beweislastumkehr bei der Gefährdungslage kommt für ihn weiter nicht in Frage. Den Antrag der Grünen hält er für viel zu weitgehend. Diese wollten "möglichst viele Personen ins Land holen, unabhängig von ihrer Qualifikation, Bildung und Integrationsfähigkeit", hält er den Antragstellern vor.
Digital-Staatsministerin Dorothee Bär (CSU) fordert eine Kommission zur Aufklärung, warum die Lage in Afghanistan so falsch eingeschätzt wurde. Zur Abstimmung vom Juni meint die Abgeordnete aus Ebelsbach (Lkr. Haßberge): "Mit den Kenntnissen von heute würde man sicher anders entscheiden."
Grüne: Aufnahmeverfahren für Ortskräfte zu bürokratisch
Für die Grünen steht fest: Die jetzige Situation wäre vermeidbar gewesen. "Wir hätten die Leute rausbringen können, bevor die Bundeswehr abzieht", kritisiert Bundestagsabgeordnete Manuela Rottmann aus Hammelburg. Soldaten aus der dortigen Kaserne hätten sie nach der Rückkehr von Afghanistan-Einsätzen um mehr Schutz für die einheimischen Helfer ersucht. In der Bundeswehr sei man "extrem erschüttert" über die Ereignisse, "sie wollten mehr Loyalität für ihre afghanischen Ortskräfte." Das Verfahren, sie aus dem Land zu holen, bemängelt Rottmann als viel zu bürokratisch.
FDP: Kritik an "Regierungsversagen" und eigener Antrag
Die FDP teilte zwar die Einschätzung der Grünen zur Situation in Afghanistan. Mit einer Gruppenaufnahme von Ortskräften ohne Einzelfallprüfung konnte sich die Partei aber nicht anfreunden. Deshalb enthielt sich die Fraktion bei der Abstimmung. "Wir sahen eine Gefahr des Missbrauchs", erklärt der Würzburger Abgeordnete Andrew Ullmann. Er spricht von einem massiven Regierungsversagen, Warnungen aus Afghanistan seien von Verteidigungs- und Außenministerim "willentlich ignoriert" worden.
Sein Aschaffenburger FDP-Kollege Karsten Klein verweist auf einen eigenen Antrag der Fraktion, in dem unter anderem vereinfachte, unbürokratische Visa-Verfahren für die Ortskräfte gefordert wurden. Ziel war ferner einer Stärkung der demokratischen Kräfte in Afghanistan. Der Antrag wurde von allen anderen Fraktionen abgelehnt.
SPD: Verbesserungen zur Aufnahme innerhalb der Koalition erreicht
Die SPD hält sich zugute, innerhalb der Regierungskoalition zusammen mit der Union das Tor für Ortskräfte bereits weiter geöffnet zu haben - für alle, die seit 2013 in deutschen Diensten standen. Über ein beschleunigtes Verfahren hätten 2400 Menschen ein Visum erhalten, so der Gemündener SPD-Abgeordnete Bernd Rützel. Pauschale Aufnahmen, wie von den Grünen vorgeschlagen, habe er auf Grundlage der Einschätzung von Fachleuten im Juni für "nicht notwendig" gehalten.
Linke: "Das Ausmaß an Ignoranz ist beispiellos"
Wie die FDP hatte auch die Linke zur Bundestagssitzung am 23. Juni einen eigenen Afghanistan-Antrag vorbereitet. Darin wurde unter anderem die "schnelle und unbürokratische Aufnahme afghanischer Ortskräfte" gefordert. Auch dieser Antrag fand keine Mehrheit. Die Würzburger Linken-Abgeordnete Simone Barrientos kritisiert, dass der Kreis Betroffener "künstlich verkleinert" worden sei. "Aufträge wurden an Sub-Unternehmen vergeben, deren Mitarbeiter:innen nicht als Ortskräfte erfasst wurden und damit nicht antragsberechtigt waren", teilt Barrientos mit. Seit Wochen haben man die Helfer sich selbst überlassen, "das Ausmaß an Ignoranz ist beispiellos".
Afghanistan ist am 23. Juni nach einer halben Stunde abgehakt. Die Bundestagssitzung geht laut Protokoll um 21.24 Uhr zu Ende. In München steht es da beim EM-Spiel 1:0 für Ungarn. Bundestags-Vizepräsidentin Dagmar Ziegler (SPD) weiß zur Schließung der Sitzung, was an diesem Tag zählt: "Wir wünschen der deutschen Nationalmannschaft, dass sie das Spiel noch dreht."
Die Äußerungen sind wohl nicht mehr als menschenverachtend! Peinlich diese Voten.
Die CSU-ler aus Unterfranken sind hier Spitze.
Es ist naiv und dumm zu glauben wir können alle retten.
Da gebietet es jede Moral, Ethik, und auch schlichte Dankbarkeit, dass WIR uns jetzt um die Rettung ihres Lebens kümmern.
September hoffe ich mal dass dies das Ender der politischen Karriere ist. Sorry. Unmenschlich, Unsozial, Unchristlich.
Wir haben versucht in Afghanistan zu helfen. Das war ein Fehler. Es war nicht umgekehrt.
Jetzt bedrohen Afghanen andere Afghanen. Traurig aber wahr.
CSU sollte sich umbenennen zu SCU (Schein Christliche Union) - Pfui.
Die Verträge der Ortsangestellten wurden systematisch seit 2019 in Subunternehmen ausgegliedert (die Fleischbrancue lässt grüßen) und diese Angestellten gelten nun natürlich nicht als Ortskräfte. Ortskräfte sind auch nur diejenigen, die noch bis / nach 2019 angestellt waren.
Etwaige Visaanträge konnten aufgrund nicht Besetzung des Büros in Kabul nicht gestellt werden.
Die Anträge von Grünen und FDP zur Evakuierung von Ortskräften wurde von der Bundesregierung abgelehnt.
Zu guter Letzt bombardiert
Nato-Mitglied Türkei bombardiert vorgestern ohne Grund Krankenhaus im Nordirak, wo überwiegend Kurden und Jesiden leben.
EU sagt nichts.
Gestern sagt EU-Außenbeauftragter, Türkei werde„wichtige Rolle“ dabei spielen, Flüchtlinge aus Afghanistan fernzuhalten.
Was soll diese irrationale Angst um eine neue Welle von Flüchtlingen?
Die neuen Machthaber in Kabul haben überhaupt kein Interesse, das viele Menschen das Land verlassen und werden nach Möglichkeit die Ausreise ihrer Bürger verhindern. Das kann man doch bereits an der Abriegelung des Flughafens sehen.
In Afghanistan wird es unter den Taliban auch allen anderen schlecht ergehen und nicht nur ein paar wenigen und wir können eben nicht allen helfen. Den einen helfen wir, bei den anderen schauen wir dann auch weg.
Jahrelang waren ihnen die unschätzbare Unterstützung von Einheimischen "unabhängig von ihrer Qualifikation, Bildung und Integrationsfähigkeit" gut genug. Und jetzt lassen sie sie schlicht und einfach im Stich.
Mich ekelt das an.